Mannheim/Rhein-Neckar, 25. Juni 2015. (red/ms) In den vergangenen Wochen und Monaten hat das Universitätsklinikum Mannheim bundesweit negative Schlagzeilen gemacht. Durch „skandalöse“ Hygienemängel seien zehntausende Patienten gefährdet. Spiegel Online bezeichnet die Einrichtung als „Deutschlands Pannen-Klinik Nummer eins“. In etlichen Medienberichten ist die Rede von Gewebe-Resten an Skalpellen oder gar einer toten Fliege am Operationsbesteck. Was davon ist wahr? Und was sind nur Gerüchte? Unsere Recherche lässt Zweifel an „Fakten“ aufkommen.
Von Minh Schredle
Allen Patienten, die in den vergangenen acht Jahren im Mannheimer Uniklinikum operiert worden sind, muss es mindestens „mulmig“ werden, wenn sie diverse Medienberichte über die Hygiene-Zustände lesen: Da ist die Rede von Knochensplittern am Operationsbesteck, Geweberesten an blutverschmierten Skalpellen und geradezu „legendär“ ist eine tote Fliege, die in einem Sieb geklebt haben soll.
All diese ekelerregenden Schilderungen werden gerne als Fakt dargestellt – wirklich bestätigt sind allerdings nur die wenigsten. Nach unserern Recherchen tauchte beispielsweise die tote Fliege erstmals in einem Bericht von Spiegel online auf, verfasst am 22. Oktober 2014 von Horand Knaup. Damals heißt es noch:
Ein CIRS-Eintrag berichtet Anfang 2014 sogar von einem Insekt im Operationsbesteck: Beim Öffnen eines OP-Siebes befand sich im sterilen OP-Sieb eine tote Fliege.
Beim CIRS (Critical Incident Reporting System) handelt es sich um eine interne Plattform für anonyme Beschwerden und Verbesserungsvorschläge. Das wird im Bericht von Herrn Knaup zwar noch erwähnt. In späteren Berichten – unter anderem von Spiegel online – fehlt der Hinweis darauf, dass es sich bei der toten Fliege um eine anonyme Beschwerde handelt. Sie wird einfach ohne Hinweis auf irgendeine Quelle als Fakt dargestellt.
Gerüchte als „Fakten“
Dabei handelt es sich bei dem vermeintlichen Fakt keineswegs um eine Information, die von irgendeiner offiziellen Instanz jemals bestätigt worden ist. Die Behörden schweigen auf Anfrage. Das Regierungspräsidium Karlsruhe ist für die Inspektionen am Klinikum zuständig und durch Beanstandungen im Herbst 2014 wurden die Hygienemängel erstmals öffentlich bekannt. Ein Pressesprecher erklärt:
Zu einzelnen Mängeln werden wir keine Anfragen beantworten. Aktuell läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen ehemalige Klinikumsangestellte. Bevor hier kein Urteil gefällt ist oder die Tatverdächtigen durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft entlastet wurden, werden wir uns nicht zu Beanstandungen im Detail äußern.
Wenn Medien dann von Haaren am Operationsbesteck, blutverschmierten Skalpellen oder Gewebeeresten an Kneifzangen berichten, will das meistens irgendein „Eingeweihter“ oder „ein Arzt“ wissen. Es ist durchaus möglich, dass diese Informationen zutreffen. Aber das lässt sich eben nur schwer beurteilen, weil es keinerlei Belege gibt.
Verstoß gegen das Medizinproduktegesetz wird zu „fahrlässiger Tötung“
Wie seriös ist ein anonymer Hinweisgeber? Vielleicht ist eine alte Rechnung offen? Vielleicht soll irgendjemandem eines ausgewischt werden? Auch das Gegenteil ist denkbar: Soll etwa ein riesiger Skandal verschleiert werden und die Zustände sind noch schlimmer als das, was bislang „öffentlich“ geworden ist?
All das sind Mutmaßungen. Die Wahrheit ist: Die Medien wissen nicht, was die Wahrheit ist. Von den offiziellen Behörden werden jedenfalls zu den Hygiene-Verstößen keine Angaben gemacht. Klar ist nur: Es gibt Beanstandungen durch das Regierungspräsidium, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Mannheim ausgelöst haben – ohne begründete Verdachtsmomente wäre das nicht der Fall.
Allerdings wird nicht wegen „fahrlässiger Körperverletzung“ oder gar „fahrlässiger Tötung“ ermittelt, wie zahlreiche Medien fälschlicherweise berichten – sondern wegen des Tatverdachts eines Verstoßes gegen das Medizinproduktegesetz, wie Oberstaatsanwalt Andreas Grossmann auf Anfrage bestätigt. Dieses Delikt kann mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden.
Zurückhaltende Angaben
Insgesamt wird gegen sechs Personen aus dem Klinikumsumfeld ermittelt. Gerüchte, dass auch der ehemalige Klinikchef Alfred Dänzer darunter sein soll, werden von der Staatsanwaltschaft weder dementiert noch bestätigt. Auf unsere Anfrage heißt es:
Zu einzelnen Beschuldigten oder deren Identität machen wir aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Angaben.
Man werde keine Aussagen dazu machen, wie weit die Ermittlungen fortgeschritten sind und ob, beziehungsweise wann es zu einer Gerichtsverhandlung kommen wird. Bei aller nötigen Sorgfalt ist Eile geboten – denn die Menschen sind verunsichert: Werden die Hygienestandards nun erfüllt oder nicht? Welche Gefahr besteht für die Patienten? Bis unabhängige Instanzen Klarheit geschaffen bleiben vermeintliche Wahrheiten erst einmal Spekulationen.
Beanstandungen rechtfertigen Ermittlungen
Fest steht: Es hat Hygieneverstöße gegeben. Und offenkundig waren die Vorwürfe schwerwiegend genug, um Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist alles, was an die Öffentlichkeit gedrungen ist, mit großer Vorsicht zu genießen: Denn es handelt sich ohne Belege nur um Gerüchte.
Da wären zum Beispiel die „blutverschmierten Skalpelle, an denen Gewebereste kleben“ – nach Angaben des Uniklinikums werden seit über zehn Jahren Einmal-Skalpelle verwendet, die nach Gebrauch unverzüglich entsorgt werden.
Selbst wenn diese Aussage des Klinikums nicht zutreffen sollte: Zu seriösem Journalismus gehört es, auch die andere Seite zu Wort kommen zu lassen. In den meisten Berichten werden die Stellungnahmen der Uniklinik aber „ausgespart“. Audiatur et altera pars – da sind offenbar viele mit ihrem Latein am Ende.
Unsaubere Berichte
Besonders schockierend ist, dass auch viele vermeintliche Qualitätsmedien unsauber über die Hygiene-Zustände berichten. Am 27. Mai wurde eine unangekündigte Inspektion durch das Regierungspräsidium durchgeführt, bei der es erneut zu Beanstandungen kam.
Am 01. Juni berichtet Horand Knaup für Spiegel online, dass wieder Haare und Flusen am Besteck gefunden worden sind. Das wird vom Regierungspräsidium selbst allerdings zurückgewiesen. Wir haben die Berichterstattung von Herrn Knaup bereits am 03. Juni kritisiert.
Am 05. Juni folgte ein Bericht von Klaus Brandt auf Zeit online, in dem erneut unsauber gearbeitet worden ist. Wie das Klinikum uns mitteilt, habe Herr Brandt unter anderem folgende Frage gestellt:
Trifft es zu, dass Haare am OP-Besteck, Flusen in den Instrumentenkästen und undichte Verpackungen in Besteckkästen von Chirurgen bemerkt, moniert und aussortiert wurden?
Darauf habe man ihm noch am gleichen Abend geantwortet:
Bei OP-Bestecken, die zur Verwendung in einem Operationssaal vorgesehen waren, wurden weder Haare, noch Flusen oder undichte Verpackungen festgestellt. Bei einem Besuch des Regierungspräsidiums in der Zentralen Sterilgutversorgung wurde zu Testzwecken ein OP-Sieb geöffnet und von mehreren Personen begutachtet. Am Ende des Begutachtungsprozesses fand sich in der Verpackung des Siebs ein Haar, das nach übereinstimmender Meinung der anwesenden Mitarbeiter des Regierungspräsidiums und des Universitätsklinikums erst bei der Begutachtung in das Sieb gelangt ist. Dieses Sieb ist selbstverständlich nicht bei einer Operation eingesetzt worden.
Dieser Mailwechsel soll am Montag, den 01. Juni, stattgefunden haben. Am Freitag, dem 05. Juni, schreibt Herr Brandt in seinem Bericht:
Sichtbarer Schmutz sei diesmal auch nicht aufgetaucht in den Bestecken, „weder Haare noch Flusen“, behauptet die Klinik auf Anfrage. Dass das nicht stimmt, wissen mindestens drei Dutzend Angestellte aus der Uniklinik, der Medizinischen Fakultät und dem Orgamed-Team. Sie alle wurden vom Geschäftsbereichsleiter Zentrale Klinische Einrichtungen, Dr. Christoph Klein, über die tatsächliche Lage informiert. Schriftlich. Unter der Betreffzeile „Rückruf Instrumentarium“ warnte Klein vor neuem Dreck im OP-Besteck: „Im Rahmen der Aufbereitung sind Flusen aufgefallen.“
Wir haben beim Uniklinikum nachgefragt, ob es die benannte Mail gegeben hat und was man dazu zu sagen hat. Die Antwort:
Es gibt eine Mail von Herrn Dr. Klein, deren Zusammenhang Herr Brandt allerdings nicht erfasst hat. Die Mail diente als Zusammenfassung einer vorangegangenen Sitzung mit Chef- und Oberärzten. In der Mail erwähnt Herr Dr. Klein Flusen auf Regalen. Diese sollten zwar dort nicht vorkommen, waren aber nicht das Problem.
Auch das Regierungspräsidium bestätigt unserer Redaktion gegenüber auf Anfrage, dass bei der Insepktion am 27. Mai weder Haare noch Flusen am Besteck aufgefallen wären.
Keine auffälligen Infektionsraten
Anscheindend wollen viele Journalisten den ganz großen Skandal herbeischreiben: Je schmutziger die Details, desto mehr Aufmerksamkeit ist gewiss. Alle Aussagen, die das Ausmaß des Skandals irgendwie relativieren könnten, werden ausgelassen. Mit Qualitätsjournalismus hat das wenig zu tun.
Reicht das, was an Informationen vorliegt, denn nicht aus, um sich zu empören? Wenn ein Klinikum einen Jahresgewinn in Millionenhöhe erwirtschaftet und das auf Kosten der Gesundheit seiner Patienten – dann müsste das Aufregungspotenzial eigentlich hoch genug sein.
Allerdings sollte man auch hier nur unter Vorbehalt urteilen. Das Uniklinikum bleibt weiterhin bei der Aussage, dass keine Patienten gefährdet worden seien und teilt mit:
Die Infektionsraten waren und sind nachweislich nicht erhöht.
Im laufenden Operationsbetrieb komme es immer wieder zu Entzündungen, das wird überhaupt nicht bestritten: „Das ist an keiner Klinik ungewöhnlich“, sagt die Sprecherin Antje Louis. Zwischen 2007 und 2014 – dem Zeitraum, in den die möglicherweise strafrechtlich relevanten Beanstandungen fallen – habe es keinen signifikanten Anstieg zu den Vorjahren gegeben, was die Anzahl von Infektionen angeht.
Das steht in krassem Gegensatz zu Behauptungen, es seien Menschen durch Infektionen gestorben, die auf mangelnde Hygiene zurückgeht. Dafür fehlt jeder Beweis. Der Imageschaden hingegen für das Klinium und die Stadt Mannheim ist erwiesenermaßen enorm.
Das Klinikum selbst spricht aktuell davon, dass man noch mitten in einem Neuanfang sei. Man sei sich bewusst, dass es zu schweren Verfehlungen gekommen sei und ziehe die Konsequenzen daraus: Der ehemalige Klinikumschef Alfred Dänzer ist zurückgetreten, inzwischen übernehmen die Geschäftsführung der Betriebswirt Dr. Jörg Blattmann für das Management und der Mediziner Professor Dr. med. Frederik Wenz für fachliche Fragen.
Am 18. Juni stellte das Uniklinikum auf einer Pressekonferenz die neue Sterilgutversorgungsabteilung vor: Hier wird seit etwa einem Monat Operationsbesteck in einem Prozess aus acht Schritten gereinigt, desinfiziert und sterilisiert. Zwischen jedem einzelnen Schritt gebe es außerdem Kontrollen, betont das Klinikum. Damit überschreite man in Sachen Hygiene inzwischen das gesetzlich vorgeschriebene Mindestmaß.