Rhein-Neckar, 24. Oktober 2016. (red/pro) Was ist eigentlich mit unserer Gesellschaft los, wenn sie nur noch zwei Aggregatzustände kennt? Politisch korrekt und politisch unkorrekt. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben. Schwarz oder weiß. Dafür oder dagegen. Und zwar immer extremer. Gibt es eigentlich nur noch Freunde oder Feinde? Was passiert mit unserer Demokratie?
Von Hardy Prothmann
“Merkel muss weg.” Sie kennen diesen Satz, wenn Sie sich für Politik interessieren. Dieser Satz wird vor allem von Politikern der AfD und deren Sympathisanten sowie anderen Gegnern der aktuellen Bundeskanzlerin geäußert. Drei Worte, die so symptomatisch sind wie drei andere Worte: “Wir schaffen das.“
Drei Worte kennt man aus der Geschichte: “Veni, vidi, vici”, sagte Caesar. Übersetzt sind es mehr Worte: “Ich kam, sah und siegte”. Oder: “Iacta alea est” – “Der Würfel wurde geworfen”. Oder die Bild-Zeitung: “Wir sind Papst.” Oder Barack Obama: “Yes, we can” – daran dürften sich Frau Merkel und/oder ihre Kommunkationsberater bedient haben.
Wer die Welt mit drei Worten beschreibt, ist ein Populist
Wer mit drei oder ein paar mehr Worten unsere komplexe Gesellschaft beschreiben will, ist ein Populist – das war in der Antike so und ist es heute nicht minder. Das gilt auch für einen Horst Seehofer, der Deutschland verteidigen will: “Bis zur letzten Patrone.” Populistisch kommt von Populus und heißt das Volk.
Auf der anderen Seite stehen Leute, die genauso einfach behaupten: “Refugees are welcome”. Bedingungslos. Grenzenlos. Zahlenlos.
Auf der Straße ist es noch einfacher. Man ist bei Demos dagegen oder dafür. Und zwar immer absolut. Wissen Sie, was absolut bedeutet? Es heißt “losgelöst”. Und zwar von allem.
Das Absolute ist in der Philosophie immer schon ein großes Thema gewesen – vor allem, was Glauben und Wissen angeht.
Die meisten Menschen sind keine Philosophen – sie versuchen einfach ganz gut durchs Leben zu kommen. Und zwar irgendwie “korrekt”. Auch politisch.
Politisch korrekt sein zu wollen, ist vor allem absurd
Korrekt kommt von “cum regere” und das heißt “zusammen richten”. Das muss noch nicht politisch sein, sondern kann Nachbarschaftshilfe bedeuten, wo man zusammen etwas anpackt und es wieder richtet.
Die allermeisten Worte, die wir verwenden, haben eine Geschichte, sind also historisch (Geschichte ist auch ein schönes Wort. Schon mal drüber nachgedacht? Geschichte ist das, was geschichtet wird. Schicht auf Schicht, Stapel auf Stapel, Erfahrung auf Erfahrung.) Das Wort Historie stammt aus der griechischen Antike und meinte zunächst „Erkundung“ und später Geschichtsschreibung oder auch Erzählung.
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“Politisch korrekt” ist ein Absurdum. Hier müssen zwei neue Worte geklärt werden. Was heißt politisch, was heißt absurd?
Die Polis ist ursprünglich ein Gemeindeverband – der kann auch eine Burg sein. Politik ist grob übersetzt, der Wettstreit zwischen Burgen(-Gemeinschaften).
Was ist “absurd”? Alles, was “misstönend” ist, so in etwa die Übersetzung.
Wer also “politisch korrekt” sein will, misstönt zwei sich widersprechende Begriffe. Es ist grundsätzlich nicht möglich, politisch und gleichzeitig korrekt zu sein. Das ist absurd.
Es geht immer um Interessen. Wow. Noch so ein Wort. Interesse heißt lateinisch – dazwischen sein, “inter essere”.
Politische Korrektheit muss also, richtig verstanden, nicht dafür oder dagegen sein, sondern Interessen abwägen. Nicht absolut, sondern konkret.
Wow, noch so ein Wort. “Konkret” – das heißt übersetzt “zusammengewachsen”. Auf die Situation bezogen. Wer nicht absolute Standpunkte vertritt, muss den Kompromiss suchen. „com-promittunt“ heißt, sich zusammen etwas zusagen.
Worte bauen Weltbilder oder reißen sie ein
Warum schreibe ich Ihnen diese Übung? Ganz sicher nicht, um Sprachwissenschaftler herauszufordern, die meinen, ich würde das alles zu einfach darstellen.
Ich möchte Sie mit diesen Montagsgedanken dahingehend erreichen, dass Sie darüber nachdenken, was Sie selbst sagen und was sie von anderen erfahren (auch ein schönes Wort – erfahren heißt, sich auf die Reise zu begeben). Welche Worte Sie benutzen und ob Sie selbst wissen, was sie bedeuten oder wie sie von anderen verstanden werden könnten. Hui, „bedeuten“, „verstehen“ – man be-deutet also etwas, doch wer hat das Recht zu deuten? Und wer „verstehen“ will, muss auf verschiedenen Positionen stehen, um unterschiedliche Sichtweisen zu haben. Wer nur eine Sichtweise hat, besteht darauf und versteht nichts sonst.
Unser Sprache, unsere Worte – oder andere Sprachen und deren Worte, bilden uns als Menschen aus – im Denken, Fühlen, Handeln. Kennen Sie jemanden, der nicht ergriffen “We are the champions” mitsingt? Allerdings ohne zu wissen, dass Champion von lateinisch „campus“ kommt und der „Champion“ im Mittelalter ein „Lohnkämpfer“ war, also eine Art bezahlter Schläger. Diese galten als ehrlos. „Wir sind die Ehrlosen“, würde vermutlich niemand voller Inbrunst singen – der Begriff hat eine Umdeutung erfahren, heute steht er für den modernen „Helden“. Auch so ein Wort, das der Friedensbewegung überhaupt nicht gefällt.
Wir konstruieren – lateinisch für zusammen bauen – nicht nur Technik, sondern auch unser Weltbild. Wie versprachlichen, wie wir zum Absoluten und Absurden stehen. Für was wir einstehen und was wir ablehnen und dekonstruieren.
Politisch Korrekten muss man misstrauen
Wer für sich einfordert, politisch korrekt zu sein, dem müssen Sie, liebe Leserin, lieber Leser misstrauen.
Denn niemand kann jemals politisch korrekt sein. Es geht um demokratischen Wettbewerb – um Mehrheiten, die bestimmen, was Minderheiten – respektieren müssen.
Oh je. Was heißt eigentlich Demokratie? Übersetzt: Die Herrschaft des Volkes. Es gibt aber “politisch Korrekte”, die jeden Satz, in dem “Volk” vorkommt, für politisch nicht korrekt halten, gleichzeitig aber absolute Vertreter der Demokratie sein wollen.
Wer die Herrschaft des Volkes fordert, den kann man zu Recht einen Populisten nennen – denn wie soll ein Volk herrschen ohne Gewaltenteilung, ohne Rechtssystem gegen das auch Mehrheiten nicht angehen können, sondern dem man sich zu unterwerfen hat?
Verantwortlich sind Menschen – deshalb muss man Fragen stellen
Verwirrt Sie das? Mich verwirrt das. Insbesondere, weil ich vermute, dass diese Menschen nicht ansatzweise über Worte und deren Bedeutung nachdenken, schon gar nicht geschichtet.
Das gilt ebenso für Leute, die nicht wissen, was “respectus” heißt – nämlich “Zurückschau”.
Selbstverständlich muss man zurückschauen auf das, was war. Und zwar auf alles, niemals nur auf das, was man selbst für richtig oder falsch hält.
Das gilt auch für die amtierende Kanzlerin Dr. Angela Merkel. Was hat sie gut gemacht, was nicht? Was hat sie erreicht, was nicht? Wie hat sich Deutschland unter ihrer Führung entwickelt? Wie geht es den Menschen? Wie ist die Befindlichkeit im Land?
Man muss viele Fragen stellen und nicht nur an Frau Merkel. Sondern auch an Herrn Seehofer und an Herrn Kretschmann. Und viele andere.
Wir verwenden so viele Worte, die aus der Zeit stammen, als noch “Götter” für alles auf der Welt verantwortlich waren. Mittlerweile sollten wir wissen, dass kein Gott und auch kein Mensch, den man für Gott hält oder der das selbst tut, für irgendetwas verantwortlich ist, sondern immer nur Menschen.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, entscheiden für sich selbst, welchen “Göttern” Sie trauen. Das Rheinneckarblog hält sich nicht für Gott und schon gar nicht für den Hort der “Wahrheit”.
Wir stellen Fragen und suchen Antworten. Möglichst wahrhaftig. Mehr können wir nicht bieten – aber genau das bieten wir. Ehrlichen Journalismus. Wir gehen an die Grenzen und zeigen auf, wenn wir diese erreicht haben.
Muss weg-Parolen haben mit Vernunft nichts zu tun
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Ok – was ist die Antwort auf die Forderung: “Merkel muss weg.” Diese drei Worte sind absolut beschämend für alle, die sie ohne Begründung äußern.
Sie zeugen von einer absoluten Respektlosigkeit und sind natürlich politisch inkorrekt.
Diese Forderung ist solange absurd, bis keine vernünftige andere Lösung geboten wird. Schon gar nicht als Alternative. Noch so ein Wort, dass nichts anderes heißt, als so oder so – dazwischen gibt es keine Wahl.
Friss oder stirb. Sieg oder Niederlage. Fortschritt oder Rückschritt. Seien sie absolut und machen Sie sich von solchen Forderungen frei.
Misstrauen Sie jedem, der Sie zu absoluten Entscheidungen zwingen will und interessieren Sie sich für alle, die vernünftige Lösungen suchen.
Diese Haltung ist die Basis für unsere journalistische Arbeit. Wir kennen weder Freund noch Feind. Wir sind nicht grundsätzlich für oder gegen. Wir checken die Fakten, die wir recherchieren können und veröffentlichen diese.
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