Rhein-Neckar, 24. März 2014. (red/ms) Die Abiturfeiern in Mannheim und Heidelberg enden Jahr für Jahr mit randalierenden Jugendlichen, jeder Menge Müll und „Alkoholleichen im Dutzend“. Viele zeigen sich entsetzt über das Verhalten der künftigen Bildungselite. Richtig: Die maßlosen Exzesse müssen kritisiert werden. Aber: Sind bloß die feierwütigen Jugendlichen „schuld“? Oder ist es nicht auch ein gesellschaftliches Problem, dass derartiges Fehlverhalten meistens nur in Extremfällen angeprangert wird? Die Droge Alkohol wird bis heute gesellschaftlich akzeptiert. Und das ist das eigentliche Problem.
Kommentar: Minh Schredle
Rheinterrassen Mannheim, Dienstag, 18. März 2014, gegen 14:00 Uhr. Ein 18-Jähriger liegt seit einer geschlagenen Stunde regungslos am Boden. Er ist bei Weitem nicht der Einzige. Hier an den Rheinterrassen sind hunderte von feiernden Abiturienten versammelt, viele von ihnen sind um diese Uhrzeit kaum noch ansprechbar. Es spielen sich beschämende Szenen ab.
Unter den Feiernden sind viele, die ich kenne. Freunde und Bekannte aus meiner Schulzeit. Vor zwei Jahren habe ich mein Abitur ebenfalls hier an den Rheinterassen gefeiert. Besser angestellt habe ich mich damals leider auch nicht. Mittlerweile trinke ich so gut wie keinen Alkohol mehr. Und ich finde es eklig, wenn ich stark lallenden Jugendlichen beim Versuch, eine Konversation zu führen, zuhören muss.
Wird das Thema ernst genug genommen?
In Heidelberg mussten dieses Jahr an einem Tag neun Jugendliche wegen übermäßigen Alkoholkonsums ins Krankenhaus eingeliefert werden. 30 Beamte waren im Einsatz. In Mannheim gibt es keine vergleichbaren Zahlen. Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mannheims, Norbert Schätzle, sagt:
In Mannheim gab es noch keine vergleichbaren Beschwerden. Außerdem ist hier das Feiern nicht so konzentriert wie in Heidelberg. Dort sind fast alle Abiturienten auf der Neckarwiese versammelt. Da kommen schon mal 800 junge Leute zusammen. In Mannheim sind das andere Größenordnungen. Hier verteilt sich das auf die Neckarwiese, den unteren Luisenpark, die Rheinterrassen und andere Orte. Das ist alles viel verteilter und macht die Einsätze schwieriger zu planen.
Außerdem wolle man den jungen Leuten gerne erlauben, den Abschluss ihrer Prüfungen zu feiern. Natürlich würde man dennoch darauf achten, dass der Jugendschutz eingehalten wird und Minderjährigen hochprozentige Alkoholika abnehmen. Aber einschreiten würde man ansonsten nicht:
Jeder verträgt unterschiedlich viel. Manche sind nach zwei Bier betrunken. In Heidelberg haben wir jemanden mit 2,2 Promille aus dem Neckar gezogen – der konnte danach noch laufen.
Bei allem Respekt vor der Arbeit, die die Polizei leistet – hier fehlt ganz eindeutig was. Nicht unbedingt auf polizeilicher Seite, sondern vielmehr „ganzheitlich“, wie man heute so schön sagt.
Mangelhafte Präventionsarbeit
Wenn ich mich an meine Schulzeit zurückerinnere, gab es da ein klein bisschen Prävention. In der Unterstufe waren wir mal in der Thorax-Klinik. Das sollte uns vom Rauchen abschrecken. Dann gab es in der zehnten Klasse genau einen Vortrag über Drogen.
Zu 80 Prozent wurden illegale Substanzen angesprochen und die rechtlichen Konsequenzen, wenn man sich an ihnen vergreift. Dass übermäßiger Alkoholkonsum auch „nicht so toll ist“, wurde eher beiläufig erwähnt. Man solle unbedingt das Fahren bleiben lassen, wenn man trinkt. Sonst verliert man seinen Führerschein.
Über die Zahlen von Verkehrsunfällen, gewaltsamer Übergriffe oder gar Toten wird dagegen kein Wort verloren. Während man stattdessen reihenweise Horrorgeschichten über die Folgen verbotener Drogen zu hören bekommt, wirkt das Feiern mit Alkohol dagegen wenig bedrohlich. Vergangenen Dienstag habe ich mich mit ein paar noch ansprechbaren Abiturienten zum Thema unterhalten – scheinbar hat sich daran nichts verändert.
Ein verzerrtes Bild wird vermittelt
Die Präventionsveranstaltungen zeichnen ein falsches Bild, wenn man sich die Zahlen anschaut: Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 25.000 Jugendliche mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert.
74.000 Menschen sterben hierzulande jährlich an den Folgen des Alkohols. Nimmt man alle illegalen Drogen zusammen, sind es nicht einmal 1.000 Todesopfer. 9,5 Million Menschen sollen in Deutschland ein Alkoholproblem haben – das sind mehr als zehn Prozent der Bevölkerung! Sie „konsumieren“ Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß. 1,3 Millionen dieser Trinker gelten sogar als abhängig. Das sind die offiziellen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Trotzdem fokussiert sich die Präventionsarbeit bei Jugendlichen weitestgehend auf illegale Substanzen, während Alkohol nach wie vor verharmlost wird. Diese Droge ist gesellschaftlich akzeptiert. Die Flasche Wein als „Präsent“ ist absolut üblich. Wenn einem kein besseres Geschenk einfällt, ist ein „guter Tropfen“ immer eine „gute“ Wahl.
Alkoholkonsum ist Drogenkonsum
Für eine halbwegs „geübte Leber“ ist eine Flasche Wein keine allzu große Herausforderung. Im Blutkreislauf einer 50 Kilo wiegenden 16-Jährige kann das zu einer ernsthaften gesundheitlichen Bedrohung werden. Rein rechtlich dürfen 16-Jährige Bier und Wein trinken – bis der Arzt kommt.
Den allermeisten ist nicht klar, was sie mit sich anstellen – ich spreche aus Erfahrung. In Sachen Alkoholprävention muss deutlich mehr geleistet werden. Wer sich umschaut, sieht auch immer mehr heillos besoffene Mädchen. Früher gab es das nicht, erzählen mir Leute über 40 Jahre. Früher gab es auch keine Alkopops, die sich wie Limo trinken.
Eltern, Schulen, Politik und Polizei – alle sollten sich dafür einsetzen, ein realistischeres und angemesseneres Bild vom Alkohol zu vermitteln: Es ist und bleibt die gefährlichste und tödlichste Droge in Deutschland. Auch, wenn man das allgemein nicht wahrhaben will.
Anm. d. Red.: Minh Schredle (19) hat in Mannheim sein Abitur (1,4) gemacht. Er hat im April 2013 ein Praktikum bei uns gemacht und ist seitdem ständiger freier Mitarbeiter.