Rhein-Neckar/Mannheim, 24. Juni 2013. (red) Vor gut einer Woche ist Chefredakteur Hardy Prothmann fast sich selbst „auf den ersten Blick“ aufgesessen, obwohl er eigentlich weiß, dass eine Bewertung auf den ersten Blick nicht immer den tatsächlichen Umständen entspricht. Die wahre Begebenheit ist ein Lehrstück, das bestimmt jedem mal so oder ähnlich widerfährt, wenn man bereit ist, eine Lektion erteilt zu bekommen.
Von Hardy Prothmann
Es ist spät, etwa 22:30 Uhr. Ich sitze noch in der Redaktion und bearbeite Texte.
Vor dem Haus versammeln sich rund zehn Jugendliche. Sie sind geschätzt zwischen 17 und 20 Jahre alt. Ein paar tragen eine „Batschkapp“, viele haben Piercings, rauchen, haben Alkohol dabei und trinken. Reden laut.
So eine Versammlung vor dem Haus habe ich hier noch nicht erlebt. Keinen von den Jugendlichen je gesehen. Ich bekomme Wortfetzen mit: „Wo sind wir hier?“ Mein erster Gedanke, weil die „hier falsch“ wirkten… Ist das vielleicht eine Facebook-Party? Zweiter Gedanke: Wie lange schaue ich zu, bis ich eine Ansage mache, dass sie stören?
Die jungen Leute laufen rein ins Haus und wieder raus. Telefonieren und gucken in Smart-Phones. Lachen. Irgendwie wirken sie aber gestresst. Ich höre: „…verletzte Person“. Ich denke: Ohja, das kann ja „lustig“ werden – haben sich jetzt zwei geprügelt oder sich jemand ins Koma gesoffen?
Ich rauche am Fenster. Einer guckt hoch und sagt: „Guten Abend, Entschuldigung, haben Sie vielleicht einen kalten Waschlappen? Im Haus sitzt eine alte Frau, die nicht mehr kann. Wohnt die hier?“
Unten wohnt tatsächlich eine ältere Frau, die schon mal vor ein paar Tagen kurz vor dem Haus umgekippt ist. Ich bringe den Lappen. Unten im Treppenhaus kümmern sich zwei junge Frauen um die ältere Dame.
Eine nimmt den Lappen, kühlt den Puls. Redet beruhigend auf die ältere Frau ein. Streichelt behutsam ihr Knie, spricht mit ihr, gibt ihr Aufmerksamkeit. Die Kumpels draußen haben einen Krankenwagen gerufen.
Die Sanitäter machen Ansprechtests, die alte Frau antwortet korrekt, wenn auch nuschelnd. Die Sanitäter können nichts machen, weil die Frau nicht ins Krankenhaus will. Nachdem die Frau es geschafft hat, in ihre Wohnung zu kommen, ziehen sie wieder ab.
Ich gehe raus zu den jungen Leuten und bedanke mich bei Ihnen für den Einsatz – meine Vorurteile hatten eine Lektion erteilt bekommen. Die jungen Leute waren nur zufällig in der Gegend, haben die alte Dame bemerkt und sie bis vor die Haustür getragen, sich gekümmert. Selbstverständlich.
Der Psychologe Paul Watzlawick beschreibt in der „Anleitung zum Unglücklichsein“ so genannte „self fulfilling prophecies“, sich selbst erfüllende Erwartungen. Vielleicht sollte jemand mal eine Anleitung zum Glücklichsein schreiben.
Ich jedenfalls habe mich für meine „Vorverurteilung“ geschämt und finde es sehr klasse, wie sich die jungen Leute um die alte Frau gekümmert haben. Respekt!