Mannheim, 24. Februar 2016. (red/cr) Schulveranstaltungen sind öde und für Politik interessieren sich Jugendliche kaum? Nicht, wenn Schülerinnen und Schüler selbst organisieren, moderieren und Fragen stellen. Am Montag diskutierten im Capitol über 600 Jugendliche mit den Landtagskandidaten von CDU, FDP, SPD und den Grünen. Abstimmungen, Filme und Spiele sorgten für gute Stimmung und Information über die Standpunkte der Kandidaten zu Themen, die Jugendliche wirklich interessieren.
Von Christin Rudolph
Schülerinnen und Schüler übernahmen am Montagvormittag die Bühne des Capitols. Mehr als 600 Jugendliche tuschelten, lachten und applaudierten zusammen mit den Mannheimer Landtagskandidaten von CDU, FDP, SPD und den Grünen. Es wurde geblind-dated, bei „1, 2 oder 3“ herumgesprungen und Anti-Werbung für Kandidaten gemacht. Vor allem wurde gefragt und abgestimmt.
Schülerinnen und Schüler des Mannheimer Johann-Sebastian-Bach-Gymnasiums veranstalteten am Montag in Kooperation mit dem Capitol, der Stadt Mannheim und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg eine Podiumsdiskussion. Moderiert wurde sie von den 16-jährigen Hannah Ehrhardt und Timo Ueberle sowie von der 17-jährigen Juliane Specht. Die Carl-Benz-Schule Mannheim ist verantwortlich für die zugehörige „Bock auf Wahl“-Werbekampagne.
Eingeladen haben sie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, Schülerinnen und Schüler zehn anderer Mannheimer Schulen sowie Azubis dreier Ausbildungsstätten. Und natürlich die Landtagskandidaten Wolfgang Raufelder (Grüne), Birgit Sandner-Schmitt (FDP), Chris Rihm (CDU) und Dr. Stefan Fulst-Blei (SPD), um sie mit Fragen zu löchern – und das auf sehr kreative Art.
Nach einer 30-sekündigen Eigenvorstellung der Kandidaten wurden ihnen persönliche Fragen gestellt. An was denkt man, wenn man sich an seine eigene Schulzeit erinnert? Wer hat eine Ausbildung gemacht, wer sich für ein Studium entschieden? Was macht man persönlich für den Klimaschutz?
Gutes Veranstaltungs-Konzept
Chris Rihms Aussagen, sich vor allem an die Parties seiner Schulzeit zu erinnern und sich über einen Notenpunkt im Mathe-Abitur gefreut zu haben, rufen Begeisterung im Publikum hervor. Dr. Fulst-Blei erklärte, er habe eine Ausbildung gemacht und danach studiert.
Die Jugendlichen hörten aufmerksam zu. Sie haben noch die Qual der Wahl, welchen Abschluss und welchen Beruf sie nach der Schule anstreben. Eine Ausbildung und dann erst ein Studium abzuschließen ist eine Option, mit der sich vermutlich bislang wenige auseinandergesetzt haben.
Lustige und informative Videos und Spiele wie Blind-Dating oder „1, 2 oder 3“ lockerten immer wieder die Stimmung im Publikum und bei den Kandidaten auf. Ein Format war besonders interessant: Kandidaten sollten für einen bestimmten Kandidaten der Konkurrenz einmal Werbung, einmal Anti-Werbung machen. Dabei blieben alle höflich und scherzten teilweise sogar.
Werbung für den politischen Gegener
Frau Sandner-Schmitt freute sich, für Dr. Fulst-Blei werben zu dürfen.
Das ist leicht. Er kann schließlich gut singen!,
lachte sie in Anspielung auf Dr. Fulst-Bleis musikalisches Wahlvideo.
Herr Raufelder bekam direkt eine Quittung für seine Anti-Werbung, man müsse die SPD nach 125 Jahren mal entstauben.
Wer von uns beiden hat die meisten grauen Haare?,
konterte Dr. Fulst-Blei.
Thematisch gliederte sich die Veranstaltung in fünf Themenblöcke: „Sicherheit“, „Umweltschutz“, „Flüchtlingsdebatte und Integrationspolitik“ sowie „Schule und Ausbildung“.
Viel Action auf und vor der Bühne
Um die Fragen der Moderatoren zu beantworten hatten die Kandidaten jeweils 90 Sekunden Zeit. Die Fragen waren inhaltlich auf die einzelnen Adressaten zugeschnitten. Chris Rihm beispielsweise wurde nach seiner Haltung zur Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin gefragt.
Herr Rihm antwortete, er stehe hinter Merkel. Ihr Vorgehen sei alternativlos:
Wir brauchen offene Grenzen in Europa. Kleinstaaterei wird uns nicht weiterbringen.
Man müsse nach gesamteuropäischen Lösungen suchen und die Fluchtursachen angehen.
Herr Raufelder bemerkte zwar, es ginge einiges leichter vonstatten, wenn sich Frau Merkel nicht früher gegen eine Einwanderungsgesetz gewehrt hätte. Doch auch er sieht keine einzelstaatliche Lösung.
Gemeinschaftsschule – ja, nein?
Im Themenblock Bildung und Schule sprachen die Landtagswahlkandidaten viel über die Gemeinschaftsschule. Vor allem für die Forderung von Frau Sandner-Schmitt nach Schulfrieden gab es Applaus. Man müsse alle gleichermaßen fördern und
aufhören, bei jedem Regierungswechsel hü und hott zu rufen.
Dr. Fulst-Blei und Herr Rihm forderten beide eine ideologiefreie Debatte und Wahlfreiheit für die Betroffenen. Herr Raufelder steht uneingeschränkt hinter der Gemeinschaftsschule.
Dem Lautstärkepegel nach zu urteilen erregte auch das Thema Sexualkundeunterricht die Gemüter im Publikum. Zu einer wirklichen Diskussion über das Thema kam es allerdings nicht.
Wie sicher fühlt ihr euch?
Immer wieder zeigten die Zuhörer mithilfe von Abstimmungskarten, wie sie zu einem Thema stehen.
Besonders beim Thema subjektives Sicherheitsgefühl war keine klare Tendenz zu erkennen. Die Kandidaten auf dem Podium hielten bei der Frage, ob sie sich nachts in der Mannheimer Innenstadt sicher fühlen, alle eine Zustimmungskarte nach oben. Im Publikum dagegen schien sich nur ungefähr die Hälfte sicher zu fühlen.
Eine Schülerin fragte nach Herr Rihms Position zum Vorgehen der Polizei in Clausnitz, wo einzelne Flüchtlinge gewaltsam aus einem Bus geholt wurden, der durch einen aufgebrachten Mob blockiert wurde. Schließlich hätten dort Polizeikräfte Flüchtlinge „drangsaliert“. Herr Rihm antwortete souverän, er wolle darüber nicht urteilen. Er sei schließlich nicht dabei gewesen. Dafür bekam er Applaus.
Noch mehr Beifall gab es allerdings für eine andere Schülerin, die in vorwurfsvollem Ton nachhakte. Das verstieß eigentlich gegen die Diskussionsregeln, da keine Anschlussfragen an den gleichen Kandidaten erlaubt waren, es protestierte aber niemand. Ihrer Meinung nach seien die Umstände offensichtlich, daher könne man sich sehr wohl ein Urteil erlauben. Herr Rihm ließ sich nicht provozieren und betonte, es handle sich um eine Ausnahmesituation. Auch Videos seien kein Grund für Schuldzuweisungen aus der Ferne.
Sicherheit dominiert
Beim Thema Sicherheit wurden viele verschiedene Aspekte angeschnitten. Die Kandidaten von SPD und FDP spielten ihre Redejoker aus, um ihren Standpunkt vertreten zu können. Herr Rihm erklärte den Stellenabbau bei der Polizei unter der Regierung von CDU und FDP mit der guten Sicherheitslage zum Zeitpunkt des Beschlusses.
Das sei Luxus gewesen, wegen der aktuellen neuen Herausforderungen müsse wieder aufgestockt werden. Um den Personalmangel abzufedern, könne er sich auch als kurzfristige Ergänzung einen freiwilligen Polizeidienst vorstellen.
Dr. Fulst-Blei nutzte daraufhin die durch den Einsatz des Redejokers gewonnene Zeit, um die Leistungen der derzeitigen Landesregierung auf diesem Feld darzustellen. Grün-rot habe deutlich mehr Polizisten eingestellt und ausgebildet:
Ich habe übrigens sofort nach mehr Polizei gerufen,
sagte er in Bezug auf die Flüchtlinge in Mannheim. 12.000 Flüchtlinge in der Stadt bedeuten 12.000 Einwohner mehr. Es sei also die logische Konsequenz, dass mehr Polizeikräfte benötigt würden. Frau Sandner-Schmitt kritisierte, dass die Polizisten für die Polizeiwache auf Franklin aus der Neckarstadt abgezogen werden.
Ich würde mir von Grün-rot wünschen, dass die Kräfte nicht von einem Problemgebiet ins nächste verschoben werden. Sondern, dass es wirklich mehr werden.
FDP überrascht
Nach der eigentlichen Podiumsdiskussion konnten die Jugendlichen Fragen zu allen Themen stellen. Dabei zeigte sich eine große thematische Vielfalt. Die Inhalte der Fragen reichten über die Legalisierug von Cannabis über Aussagen der AfD bis zur Vorratsdatenspeicherung.
Am meisten Applaus bekam ein Schüler, der eine Frage zur Legalisierug von Cannabis stellte. Das Thema schien viele zu interessieren. Als alle Kandidaten die Haltung ihrer Partei erläuterten, kam Erstaunen auf. Kaum jemand schien gewusst oder vermutet zu haben, dass sich die FDP ebenso wie die Grünen und die SPD prinzipiell dafür aussprechen.
Gute Fragen werden auch in der Politik gebraucht
Als Dr. Fulst-Blei gefragt wurde, was er von den Aussagen der AfD zu Flüchtlingen halte, antwortete er mit einem Zitat von Max Liebermann.
Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte.
Die AfD sei „total rückwärtsgewandt“ und nicht vertretbar. Diese klaren Worte wurden mit begeisterten Applaus honoriert.
Kurz vor Schluss spielte Frau Sandner-Schmitt ihren Redejoker. Unter anderem nutzte sie die Zeit für einen Apell. Im Landtag seien derzeit Frauen völlig unterrepräsentiert – nur 20 Prozent der Abgeordneten seien weiblich. Darum rief sie vor allem den jungen Frauen zum Abschied zu
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Großer Diskussionsbedarf
Nach zwei Stunden schienen viele Jugendliche am Ende der Veranstaltung fast enttäuscht, weil sie gerne noch mehr gefragt hätten. Im Gegensatz zu manch anderen Schulveranstaltungen wirkte es so, als könnte jede und jeder Jugendliche etwas mitnehmen – und die Politiker auch.
Tatjana Frisch vom Bach-Gymnasium lobte die Veranstaltung als interessanten Überblick, bei dem alle relevanten Themen abgedeckt wurden. Auch Azubi Sebastian zeigte sich sehr angetan:
Eine super Veranstaltung, die richtig Spaß gemacht hat. Es wurde alles einfach zusammengefasst, so dass man es gut verstehen konnte.
Was besonders gut ankam: Die Redezeit-Beschränkung auf 90 Sekunden.
Dann können die Politiker nicht so um den heißen Brei rum reden.
Beide wollen auf jeden Fall wählen gehen, sich aber vorher noch mehr informieren.
Ob die Entscheidung glücklich war, nur die „derzeit im Landtag vertretenen“ Parteien einzuladen und nicht auch AfD und Die Linke, wurde nicht debattiert.