Mannheim, 24. März 2015. (red/cb) Maria-Cristina Hallwachs ist gelähmt. Vom Kinn abwärts kann sie ihren Körper nicht mehr bewegen. Wie das passiert ist, wie sie damit klar kommt und warum sie trotzdem ein glücklicher Mensch ist, erzählte sie den Besuchern des Theaterstücks “Qualitätskontrolle” am vergangenen Freitag. Das Berliner Theaterkollektiv “Rimini-Protokoll” präsentierte seine Inszenierung im Rahmen des zweiten Bürgerbühnenfestivals im Nationaltheater Mannheim.
Von Carolin Beez
Ich sterbe innerhalb von vier Stunden, wenn niemand in meiner Nähe ist.
sagt Maria-Cristina Hallwachs zu Beginn des Stücks “Qualitätskontrolle”. Dieses Statement ist ernst gemeint. Die Frau auf der Bühne ist vom Kinn ab gelähmt. Der Tod ist ihr ständiger Begleiter. Ohne die Menschen, die sie waschen, bewegen und füttern würde sie sterben. Ohne die Maschinen, die sie rund um die Uhr beatmen und ihr einen eigenständigen Bewegungsfreiraum ermöglichen, würde sie sterben. Sie ist auf Hilfe angewiesen und das 24 Stunden am Tag, seit 22 Jahren.
Kopfüber ins Nichtschwimmerbecken
22 Jahre ist es her, dass Maria-Cristina Hallwachs mit 18 Jahren ihr Abitur abschloss. 22 Jahre ist es her, dass sie um das zu feiern mit ihren Eltern nach Kreta flog. Und 22 Jahre ist es her, dass sie dort in den Swimmingpool sprang: Kopfüber, auf der Nichtschwimmerseite. Das Wasser war nur 50 Zentimeter tief. Bei der bloßen Schilderung stellen sich einem die Nackenhaare auf.
Die meisten Besucher kennen sicher das Gefühl, im Schwimmbad mit geschlossenen Augen gegen den Boden oder die Wand zu tauchen – vielleicht noch aus der Kindheit. Und jeder von ihnen erinnert sich sicher an den Schmerz, den sie dabei empfanden. Doch niemand kann sich vorstellen, welche Schmerzen Maria-Cristina Hallwachs spürte, als ihr Kopf mit voller Wucht auf dem Boden des Pools aufschlug und ihr Genick brach.
Das Ziel: Menschen wachrütteln
Der Sprung in das Becken war die letzte Bewegung, die ihr Körper selbst ausführen konnte. Seit dem ist Maria-Cristinas Körper gelähmt. Das Einzige, was sie noch dirigieren kann, ist ihr Kopf.
Mit der Inszenierung von “Qualitätskontrolle” will das Dokumentartheater “Rimini-Protokoll” die Menschen wach rütteln. Es will ihnen zeigen, dass auch ein Leben im Rollstuhl – mit Pflegestufe 3plus – lebenswert ist. Maria-Cristina Hallwachs kann ihren Rollstuhl durch eine Vorrichtung mit dem Kinn bedienen. Sie erzählt die Geschichte ihres Lebens. Das Bühnenbild dazu ist krass – ein Schwimmbecken ohne Wasser. Genau wie damals, an dem Ort, an dem ihr zweites Leben begann.
Kommission soll über Leben und Sterben entscheiden
In der Klinik kurz nach dem Unfall bildete sich eine Ethikkommission, die sich damit befasste, ob es richtig sei Maria-Cristina am Leben zu halten. Es was klar, dass sich ihr Zustand niemals verbessern würde. Letztendlich wurde es ihr überlassen, ob sie so weiterleben wollte oder nicht. Die Antwort stand für die damals 18-Jährige fest:
Ich hatte beides überlebt: Einen Genickbruch und die Ethikkommission überlebt. Natürlich wollte ich am Leben bleiben.
Und man kann sich sicher sein: Diese Frau ist eine starke, entschiedene und kluge Person mit der bewundernswerten Gabe, das Leben so zu nehmen, wie es kommt und einen ganz eigenen Weg zu finden, damit umzugehen.
Alltag auf der Bühne, wie zu Hause
Von ihrem Alltag berichtet sie auf eine entspannte und keineswegs verbitterte Art und Weise. Mit auf der Bühne sind ihre Pfleger. Wie zu Hause auch, regulieren sie den Zwerchfellstimulator oder saugen mit einem dünnen Schlauch den Schleim aus Maria-Cristinas Lunge. Das Spiel wirkt echt, spontan und nicht gestellt.
Das Leben sei doch eigentlich ganz okay so, sagt Frau Hallwachs und vertreibt sich die Zeit auf der Bühne mit Kindereien, die ihr und ihrem Pfleger offenbar großen Spaß machen. Auch wenn sie dabei ganz offensichtlich den Ton angibt.
Wir spielen jetzt “Inklusion”, aber mit fairen Mitteln.
sagt sie und Admir, der Pfleger, lacht. Er kennt den Ablauf bestens. Er markiert auf der Bühne zwei Tore, holt einen Fußball und bindet sich, um das Spiel fair zu gestalten, eine Augenbinde um. Dann spielen die beiden Fußball. Jeder hat einen Schuss. Admir mit den Füßen und Maria-Cristina mit der vorderen Kante ihres Rollstuhls. Die beiden machen Witze und lachen zusammen. Das Ergebnis: 1:1 – unentschieden.
Danach erzählt Maria-Cristina Hallwachs weiter von ihrem Leben. Als Teenager habe sie viel Kiss gehört “I was made for loving you” war ihr Lieblingslied.
Das ist mir heute schon ein bisschen peinlich
sagt sie dazu und grinst. Depeche Mode höre sie aber immer noch. Was sie nach ihrem Unfall besonders verletzt habe, war, dass sie nicht mehr richtig integriert wurde. Viele ihrer Mitmenschen hätten Angst gehabt, Maria-Cristina zu Partys einzuladen oder mit ihr auszugehen. Umso schöner sei die Erinnerung an einen Abend, als ihr damaliger Pfleger sie zu einer Feier in seine Wohnung mitnahm.
Sie trugen mich einfach die Treppen hinauf und setzten mich dort auf ein Sofa. Zur Stabilisierung steckten sie mir ein Holzbrett hinter den Rücken. Dass ich mir über den Abend hinweg den gesamten Rücken aufscheuerte konnte ich ja nicht spüren. Aber der Abend war es wert.
“Holocaust-Memory”
Dann kommt auf der Bühne, wie auch im normalen Alltag der 40-jährigen der Schichtwechsel. Der Pfleger Admir übergibt an seine Kollegin Timea. Das nächste Spiel: “Holocaust-Memory”. Auf dem Boden ist ein Raster aufgezeichnet mit Quadraten. Nacheinander müssen sie auf ein Feld laufen oder fahren und es aufdecken.
Jedes der aufgedeckten Bilder zeigt ein Detail von Schloss Grafeneck auf der schwäbischen Alb. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden dort, in der Tötungsanstalt für Kranke und Behinderte, mehr als 10.000 Menschen getötet. “Qualitätskontorolle” präsentiert nicht nur die Leichtigkeit, mit der Maria-Cristina Hallwachs ihrer Behinderung entgegentritt.
Behinderung = Belastung?
Es wird auch darüber gesprochen, ob man seinen Mitmenschen eine solche Belastung überhaupt zumuten kann: Rund 90.000 ungeplante Arbeitsstunden habe ihr neues, vom Kinn abwärts gelähmtes Leben, bisher verursacht. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten dafür, sagt Maria-Cristina.
Es geht auch darum, ob man Kinder, die noch nicht geboren sind, lieber davor bewahren sollte – Pränataldiagnostik führt dazu, dass sich 99 von 100 Schwangeren gegen das Leben ihres behinderten Kindes entscheiden. Das gesamte Stück ist ein wilder Mix aus Freude und Beklommenheit. Aus Ruhe und Hektik. Aus Stille und lauter Musik. Es wird viel geredet und ist trotzdem nicht langweilig. Es ist eine schreckliche und gleichzeitig schöne Geschichte, die Maria-Cristina Hallwachs ihrem Publikum erzählt.
“Standing Ovations” im Publikum
Dieses hörte während des gesamten Stücks aufmerksam zu und war auf das Geschehen auf der Bühne fixiert. Einige sitzen ganz vorne auf den Stuhlkanten und recken ihre Hälse um alles zu erkennen, was auf dort passiert. In den Sprechpausen von Maria-Cristina Hallwachs hörte man keinen Mucks. Die Zuschauer schienen den Atem anzuhalten.
Zum Schluss gab es lauten Beifall. Einige Besucher standen auf und gaben der Darstellerin “Standing Ovations”. Die Begeisterung, Ehrfurcht und sicher auch Ergriffenheit im Saal war deutlich zu spüren.
Nationaltheater Manheim | ||||||||||||||
|