Mannheim/Rhein-Neckar, 24. Juni 2016. (red/ms) Schon wenige Stunden nach der Entscheidung für den Brexit machen sich Konsequenzen für die Weltwirtschaft bemerkbar: Das Pfund hat dramatisch an Wert eingebüßt, Eurozonen-Leitindex Euro Stoxx 50 sank über Nacht um mehr als neun Prozent. Doch auch in der Metropolregion wird das Referendum der Briten Konsequenzen zeigen. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Rhein-Neckar spricht von einer „Erschütterung für die regionale Wirtschaft“. Und sogar der Fußball ist betroffen…
Von Minh Schredle
16.141.241 Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs stimmten für den Verbleib in der Europäischen Union – eine Mehrheit 17.410.742 Menschen dagegen. Damit wurde direkt-demokratisch entschieden, dass Großbritannien die EU verlassen wird. Premierminister David Cameron betonte, dass dieses Votum zu respektieren sein – zeitgleich kündigte er seinen Rücktritt an.

Der britische Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt. Foto: Unbekannt – http://www.number10.gov.uk/wp-content/uploads/official-photo-cameron.jpg [dead link] from the 10 Downing Street Website, OGL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21357999
Aktienkurse brechen ein
Über Nacht ist der Deutsche Aktienindex um etwa zehn Prozent eingebrochen. Wie Spiegel Online berichtet, handle es sich dabei um „den größten Kursrutsch seit der Finanzkrise 2008“. Seit dem Börsenauftakt hat sich der Kurs allerdings leicht erholt und steht aktuell (Stand 24.06.2016, 14:30 Uhr) bei „nur noch“ -7,1 Prozent im Vergleich zum Vortag.
Auch der Eurozonen-Leitindex Euro Stoxx 50 sank über Nacht um etwa neun Prozent. Auch die britische Wirtschaft ist betroffen: Nach einem rapiden Sturz des FTSE 100 Index über Nacht hat sich der Kurs über den Tag betrachtet bei etwa -5 Prozent eingependelt.
Darüber hinaus hat das Pfund drastisch an Wert verloren: Am Donnerstagabend lag der Wechselkurs für ein Pfund noch bei etwa 1,50 Dollar – heute morgen war ein Pfund hingegen nur noch 1,33 Dollar Wert. Verschiedene Medien berichten vom niedrigsten Stand seit 1985.
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Sicherheiten schwinden
Hier wird offenbar mit stärkeren Schwankungen zu rechnen sein. Durch den Brexit würde die Entwicklung des Wechselkurses zwischen Euro und Pfund „weniger voraussehbar“ prognostiziert Matthias Kruse, Außenwirtschaftschef der IHK Rhein-Neckar. Daher steige das Risiko für Handelsgeschäfte, die mit Pfund abgewickelt werden:
Aktuell hat das Pfund an Wert verloren und Sie könnten günstig Urlaub in London machen – wenn Sie Ihren Flug in zwei Wochen buchen, könnte das aber wieder ganz anders sein.
Kurzfristig werde die Unsicherheit, wie die neuen Handelsbedingungen zwischen EU und dem Vereinigten Königreich gestaltet werden, voraussichtlich die schwerwiegendsten Schäden verursachen – langfristig könnte eine ganze Reihe von Problemen folgen.
Droht Wohlstandsverlust?
Nicht nur auf die globale, überregionale Finanzwelt wird das Votum der Briten Auswirkungen haben. Auch unmittelbar vor Ort werden sich die Konsequenzen bemerkbar machen – auch für Unternehmen, die gar keine Handelsbeziehungen mit Großbritannien pflegen.
Der größte wirtschaftliche Schaden für die Region entstünde nach Einschätzung der IHK Rhein-Neckar durch einen Zusammenbruch der Europäischen Union. Dann würde nicht nur der EU-Binnenmarkt wegfallen – sondern auch ein großer Wohlstandsverlust drohen.
Steht eine Austrittswelle bevor?
Die Wahrscheinlichkeit einer durch den Brexit verursachten Austrittswelle wird seitens der IHK Rhein-Neckar allerdings als „eher gering“ eingeschätzt. Großbritannien wolle nach wie vor vom europäischen Binnenmarkt profitieren. In einer Meldung heißt es.
Die Briten verbanden mit der EU-Mitgliedschaft zwei Nachteile, die für sie schwerer wogen: Die nationale Souveränität wurde zu stark von Brüssel eingeschränkt. Noch viel entscheidungsrelevanter ist der inner-europäische Migrationsstrom aus anderen EU-Mitgliedsstaaten nach Großbritannien. Diesen hoffen viele Briten ohne EU-Mitgliedschaft nun deutlich stärker begrenzen zu können.
Dieser „Migrationsstrom“ mache sich in den meisten anderen Mitgliedsstaaten weniger stark bemerkbar – daher würden sich die Motivlagen der verschiedenen Nationen unterscheiden.
Handelshemmnisse zu erwarten
Doch auch ohne Zusammenbruch der EU wird die deutsche Wirtschaft voraussichtlich schwere Schäden davontragen. Matthias Kruse sagt dazu:
Wir rechnen damit, dass sich der Handel mit Gütern und Dienstleistungen erschweren wird.
Die Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung bei britischen Kunden und Konsumenten steige, entsprechend würden sich die meisten Unternehmer zurückhaltender
bei eventuellen Kaufentscheidungen zeigen.
Zwei Jahre Investitionsunsicherheit
Nach einem Austritt aus der EU müssen neue Handelsvereinbarungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich getroffen werden. Dafür sehen die EU-Verträge einen Zeitraum von zwei Jahren vor. Die IHK Rhein-Neckar kommt zu der Einschätzung:
In dieser Phase wird aufgrund der unsicheren Lage eine Investitionszurückhaltung von beiden Seiten erwartet.
Innerhalb der EU abgeschaffte Zollvorschriften würden bei Im- und Exporten mit Großbritannien wieder greifen. Dann müssten Unternehmen wieder förmliche Zollanmeldungen bei der Ein- und bei der Ausfuhr abgeben.
Die mit dem Brexit verbundenen Unsicherheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit auf ein Abkühlen der globalen Konjunktur. Hierunter leidet dann auch die Konjunktur des langjährigen Exportweltmeisters Deutschland,
prognostiziert Herr Kruse. Wie er auf Rückfrage der Redaktion mitteilt würden Unternehmen in der Rhein-Neckar-Region im Schnitt sechs Prozent ihres Gesamtexports an das Vereinigte Königreich liefern.
Export wird erschwert
Für den Zuständigkeitsbereich der IHK Rhein-Neckar (Mannheim, Heidelberg, Rhein-Neckar-Kreis, Neckar-Odenwald-Kreis) habe das 2015 Waren im Wert von gut 900 Millionen Euro entsprochen, teilt Herr Kruse mit. Wie stark dieser Umsatz nach dem Brexit einbrechen werde, könne man aktuell noch nicht seriös abschätzen – das hänge auch von der Ausrichtung des Unternehmens ab:
Einige Branchen werden stärker betroffen sein als andere. Je mehr der Export auf den Handel mit Großbritannien spezialisiert war, desto größer werden die Verluste ausfallen.
Unternehmen die auf mehreren Märkten aktiv sind, würden laut Herrn Kruse weniger Schwierigkeiten haben, ihr Geschäft im Zweifelsfall zu verlagern als Unternehmen, die den Großteil ihres Gewinns aus Geschäften mit Britannien bezogen.
Mehr Regularien?
Außerdem hänge viel davon ab, auf welche Handelsbedingungen sich die EU und das Vereinigte Königreich einigen werden. Verschiedene Branchen sind abhängig von ihrer Ausrichtung unterschiedlich stark betroffen. Trotzdem sagt Herr Kruse: Es gebe aktuell viele Verlierer – und kaum Gewinner:
Mir fallen da ein paar beratende Berufe ein. Als Anwalt mit Spezialisierung auf Wirtschaftsrecht steht Ihnen sicher eine gute Konjunktur bevor. Ansonsten sehe ich für alle anderen Unternehmer eigentlich keine positiven Auswirkungen.
Ein weiterer Punkt der sich nachteilig auf die deutsche Wirtschaft niederschlagen könnte, ist aus Sicht von Herrn Kruse eine mögliche Umverteilung des Kräftegleichgewichts im Europaparlament. Die Briten hätten – wie Deutschland – eher zu den Staaten gehört, die unternehmerische Freiheit der strengen staatlichen Kontrolle vorziehen. Womöglich stünden nun strengere Auflagen und mehr Regularien bevor.
Weitere Referenden?
Unklar ist gegenwärtig, wie sich das Votum der Briten auf die Politik der Nationalstaaten in der EU auswirken wird. Möglich ist, dass andere Staaten dem Vorbild des Vereinigten Königreichs folgen – die wirtschaftlichen Konsequenzen wären kaum abschätzbar.
Auch innerhalb des Vereinigten Königreichs könnte es zu weiteren Zerwürfnissen kommen. Die Briten stimmten zwar mehrheitlich für den Austritt – Nordirland und Schottland aber überwiegend für den Verbleib.
Das Verhältnis zwischen Schotten und Engländern gilt ohnehin als angespannt. Künftig wird eine EU-Außengrenze Irland und Nordirland trennen.
Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass weitere Referenden auf nationaler Ebene folgen werden und der Austritt aus dem Vereinigten Königreich erfolgt.
Auffällig ist außerdem: Für den Austritt aus der EU stimmte ganz überwiegend die ältere Bevölkerung. Laut einer Umfrage von YouGov hätten die Wählerinnen zwischen 18 und 64 Jahren mehrheitlich für den Verbleib gestimmt – unter den Menschen über 65 Jahre waren 58 Prozent für den Brexit.
Ob künftige Generationen von Briten wohl wieder in die EU wollen? Und wie würde die EU auf einen neuen Mitgliedsantrag reagieren?
„Idee Europa“ braucht einen Konsens
Die kontroverse Debatte um den Brexit und die EU macht gegenwärtig eins deutlich: Einen gemeinsamen europäischen Kurs, der von allen Beteiligten befürwortend mitgetragen wird, gibt es aktuell nicht.
Wenn die „Idee Europa“ sich nicht auf einen Konsens gemeinsamer Leitlinien einigt, drohen dramatische Konsequenzen für die globale Wirtschaft, den europäischen Binnenmarkt und in letzter Folge den Kommunen direkt vor Ort.
Ein Konsens wird aber niemals durch Beschlüsse und Verordnungen geschaffen – sondern durch eine offene Debatte auf Augenhöhe. Es besteht dringender Bedarf, hier nachzujustieren.
Anm. d. Red.: Nicht nur die Wirtschaft ist betroffen – auch der Fußball. Bislang haben Profis mit EU-Pass ohne Einschränkung für Vereine des Vereinigten Königreichs spielen können – nach der geltenden Rechtslage würden laut einem Bericht der FAZ nun etwa 100 Spieler in der Premierleague ihre Arbeitserlaubnis verlieren.
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