
Gesprächsrunde Utopie-Station“ im Werhaus. Foto: Rheinneckarblog.
Mannheim, 24. Oktober 2012. In der Reihe „Utopie Station“ des Ernst-Bloch-Zentrums diskutierten Agnes Schuster, Wolfgang Sechser, Jan Grossarth, Anousha Dillmann und Zuschauer am 17. Oktober 2012 das Thema „Aussteiger“. Die Gesprächsrunde in der Lobby des Werkhaus Nationaltheater Mannheim gibt zahlreiche Ideen vom Ausstieg aus dem angeblich “echten” Leben abseits des vermeintlich “falschen”.
Von Timo Tamm
Wer will nicht mal aussteigen aus dem normalen Leben? Einfach das Leben genießen? Aber wie funktioniert so ein Ausstieg? Dies will die seit drei Jahren bestehende Gesprächsrunde “Utopie-Station” klären, die das Ernst-Bloch-Zentrum zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet. An diesem Abend gibt es Aussteiger aus dem Mikrokosmos einer Wohn – und Wirtschaftsgenossenschaft im Ländle, Beobachtungen von Aussteigern durch den Wirtschaftsredakteur der FAZ Jan Grossarth bis zur globalen Occupy-Bewegung als gesellschaftlicher Ausstieg aus kapitalistischen Ideologien. In deren Frankfurter Camp hatte die anwesende Ethnologie-Studentin Anousha Dillmann mehrere Monate gelebt und mitgewirkt.
Früher war…
Früher war Wolfgang Sechser Bauunternehmer, stieg aber aus den Zwängen seines erfolgreichen Unternehmens (darunter drei Firmen im Bereich Umwelt- und Wassertechnik) aus. Heute ist er Vorstand einer Wohngemeinschaft Schloss Tempelhof. Zudem ist er Mitbegründer der „Initiative In Gemeinschaft Leben“ und des Gemeinschaftsdorfes „Zukunftswerkstatt Tempelhof“, Entwickler der Wirtschaftsgemeinschaft „Der Zehnte“ und Vortagsredner über „Die Mystik des Geldes“
Geld soll dem Fluss dienen, der gewisse Dinge möglich macht, es sind aber nicht Mittel, um Menschen zu bewerten.
Früher war Agnes Schuster in der Erziehungsberatung, Frauentherapiezentrum und Frauenhaus in München tätig. Heute ist sie Aufsichtsrätin der Genossenschaft der Wohngemeinschaft Schloss Tempelhof und Mitinhaberin einer Buchhandlung und des Naturkostladens Zauberberg in Weilheim. Schuster ist von Beruf Erzieherin und Diplom-Sozialpädagogin. Aber sie lebt seit 30 Jahren in Gemeinschaften. Nun konstatiert sie:
Jeder, der bei Schloß Tempelhof dabei ist, ist zu 20 Stunden Gemeinschaftsarbeit verpflichtet.
Früher war Jan Grossarth Volkswirt und und einfacher Wirtschaftsredakteur bei der FAZ. Heute ist er es immer noch, dazugekommen ist nur ein Reportagen-Buch über Aussteiger:
Ich bin mit meinem normalen Leben in meiner Familie und mit meiner Arbeit zufrieden.
Früher diskutierte die Ethnologie-Studentin Anousha Dillmann Utopien in Seminaren und musste den Zwängen des modernen Studiums gehorchen. Heute ist sie nach zweieinhalb Monaten Wohnen im Frankfurter-Occupy-Camp Vertreterin der Occupy-Bewegung, eines ideologischen Konglomerat. Sie arbeitet weiterhin mit, den Zwängen des Occupy-Camps ist sie aber entflohen, denen der modernen Gesellschaft nur teilweise.
Unser Ausgangspunkt ist: Wir wollen nicht miteinander leben, sondern unsere Ideen und Alternativen diskutieren. Da ist kein Konsens, da gab es unterschiedliche Vorstellungen.
Die Occupy-Bewegung existiert ohne ein konkretes Manifest und hat deswegen einen hohen Koordinierungsaufwand. Die komplexen Zusammenhänge zwischen Geld, Arbeit und Lebensentwürfen werden diskutiert und neue Ideen präsentiert. Konkreter ist für den Zuhörer noch der Ausstieg der Vertreter von Schloss Tempelhof.
Ausstieg in schwäbisch-Sibirien
Dort in “schwäbisch-Sibirien” bei Kreßberg (Crailsheim) stand ein altes Gebäudeensemble der Diakonie. Agnes Schuster und Wolfgang Sechser wollten aussteigen und haben sich hier mit sieben Gleichgesinnten zur Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft Schloss Tempelhof zusammengeschlossen.
Ohne Dogma, ohne Glauben wollten wir offen sein für Strömungen in der Gesellschaft.
Die neu gegründete Stiftung Schloss Tempelhof sichert Grund und Boden der Mehrgenerationen-Genossenschaft. Dazu kommen ein Verein und eine Genossenschaft, die den rechtlichen und investiven Rahmen bilden. Ein gründlicher, konkreter Ausstieg, der nicht ohne Vorgaben und Zwänge möglich ist:
Standard ist, dass jeder, der in Schloss Tempelhof einsteigen will, 15.000 € in die Stiftung und 10.000 € in die Genossenschaft einzahlt. Im ersten Probejahr ist das ein rückzahlbares Darlehen, danach ist der größere Betrag Eigentum der Stiftung, die Summe in der Genossenschaft wird bei Austritt zurückgezahlt.
Damit soll eine Gesellschaftsalternative im Kleinen für Interessierte möglich sein, ohne jedoch zu einem religiösen oder anders gearteten Dogma zu verpflichten. Die beiden stellen alle Vorgänge als transparent dar, müssen sich aber wiederholt mit kritischen Nachfragen auseinandersetzen.
Jan Grossarth zitiert daraufhin Jutta Ditfurth:
Eine Aussteigerkommune kann doch nicht mal einen Kugelschreiber produzieren.
Das wäre auch gar nicht ihr Ziel kommt der Einspruch, man könne ja auch Bleistifte benutzen. So wogt die Diskussion hin und her, zwischen Zuschauern und Gästen, zwischen Moderatoren und Utopisten. Denn schnell entstehen neue Zwänge: Gemeinschaftsarbeit, aufwendige Koordinations- und Organisationsaufgaben.
Jan-Philipp Possmann, Dramaturg des Nationaltheaters Mannheim, leitete ein, die Moderation übernahm Adrienne Goehler, die begleitende Musik kam von Oliver Augst. Am Ende bleibt die Diskussion ohne Lösung.
Ein Ausstieg aus dem alltäglichen Leben befreit zwar zunächst vom Alltag, ist zugleich aber Einsteig in umfassende Gemeinschaftspflichten, neue Rituale und mühselige Organisation.