Weinheim/Tübingen/Rhein-Neckar, 23. Februar 2013. (red) Auf Einladung des Ersten Bürgermeisters, Dr. Torsten Fetzner, sprach der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis90/Die Grünen) im Bürgersaal des Alten Rathauses zum Thema „Eine Stadt macht blau – Politik im Klimawandel, das Tübinger Modell“. Auch wenn Palmer nicht zum ersten Mal in Weinheim zu Gast war, wollte ich mir diesen Vortrag nicht entgehen lassen, denn mit Boris Palmer verbindet mich mehr, als mich von ihm trennt. Zwar bin ich vehementer Befürworter von Stuttgart 21 und Mitglied der CDU, andererseits verfolge ich als Anhänger Schwarz-Grüner Gedankenspiele und Gründer eines Unternehmens an der Schnittstelle von Ökonomie und Ökologie sein politisches Wirken mit grundsätzlicher Sympathie.
Von Thomas Ott
Den Namen Palmer habe ich Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal im Zusammenhang mit seinem Vater, Helmut Palmer, dem legendären Remstalrebell, gehört. Nicht zuletzt diese geerbte Portion Sendungsbewusstsein qualifiziert ihn zum grünen Repräsentanten. Über die Familie meiner in Tübingen geborenen Frau habe ich zudem regelmäßigen Einblick in die Kontroversen der Tübinger Kommunalpolitik (ein Vetter ist Stadtrat der Grünen, ein Onkel war viele Jahre Stadtrat der Freien Wählergruppe UFW).
Der Abend begann zunächst damit, dass der Bahnfahrer Palmer verspätet ankommt. Bürgermeister Fetzner begrüßt die etwa 80 Zuhörer, darunter einige Stadträte und Berater aller Fraktionen, Mitwirkende des Runden Tischs Energie und prominente Grüne aus dem Kreis. Geschickt überbrückt Bürgermeister Fetzner die Wartezeit, in dem er die anwesenden Architekten und Statiker bittet, die Sanierung des Bürgersaals zu erläutern. Über die alten, einfach verglasten Fenster findet sich später ein nahtloser Übergang, als Palmer endlich eintrifft.
Palmer ist ein souveräner Redner. Man merkt, dass er sich voll mit seiner Sache identifiziert und dass er den Vortrag schon dutzendfach gehalten hat. Geschickt lockert er die Materie mit persönlichen Anekdoten und Seitenhieben auf den politischen Gegner auf.
Globaler Ansatz vs. kommunale Besonderheiten
Ausgangspunkt der Palmerschen Politik in Tübingen ist die Erkenntnis:
Ein globaler Ansatz, wie er beispielsweise auf den großen Klimaschutzkonferenzen im Rahmen des Kyoto-Protokolls praktiziert wird, führt nicht zum Ziel.
Sinnvoller als auf Vorgaben von oben zu warten, sei es, eine lokale Klimaschutzbürgerbewegung zu initiieren. So seien drei Viertel der CO2 Emissionen durch die Konsumenten also die Bürger beeinflussbar, während eine Kommune selbst im Schnitt nur zwei bis drei Prozent des CO2-Austoßes selbst verursache.
Langfristiges, bis 2020 konzipiertes Ziel der Kampagne „Tübingen macht blau“ ist es, die CO2 Emissionen auf drei Tonnen pro Einwohner und Jahr zu reduzieren. Als Vergleichsgrößen nannte Palmer einen derzeitigen durchschnittlichen „Ausstoß“ von acht Tonnen CO2 pro Bürger und Jahr für Baden-Württemberg und 20 t/a für die USA. In Entwicklungs- und Schwellenländern liegt der Wert hingegen typischerweise bei unter einer Tonne:
Erhobener Rechenschieber vs. erhobener Zeigefinger
Das Tübinger Programm basiert auf vier Säulen, der Vorbildfunktion der Stadt, der Suche nach Mitstreitern und Multiplikatoren, einer professionellen PR-Kampagne zur Information und Motivation sowie der fortlaufenden Erhebung und Kommunikation von Indikatoren. Palmer betonte, dass die Steuerung nicht über (moralische) Zwangsmaßnahmen sondern vor allem über wirtschaftliche Anreize erfolge:
Lieber ein erhobener Rechenschieber als ein erhobener Zeigefinger!
Anhand konkreter Beispiele erläuterte Palmer die Bausteine seiner Klimaschutzpolitik: Die angesprochene Vorbildfunktion der Kommune betrifft insbesondere die energetische Sanierung der städtischen Gebäude. Voraussetzung hierzu ist ein umfassendes Gebäudekataster, in welchem die Bausubstanz und der Energieverbrauch detailliert erfasst werden. Im zweiten Schritt wurde ein kommunales Energiemanagement aufgebaut, mit dessen Hilfe der Energieverbrauch der städtischen Immobilien um 25% reduziert werden konnte.
Die Investition in Erneuerbare Energien und die Förderung der Ökostromnutzung sind weitere wichtige Säulen des Konzeptes. Geeignete Dachflächen kommunaler Gebäude werden über eine internetgestützte Solardachbörse an Genossenschaften und Investoren mietfrei zur Verfügung gestellt. Die Stadtwerke haben sich am Bau eines Wasserkraftwerkes in Horb beteiligt und in einen Warmwasserpufferspeicher investiert.
Die Energieeffizienz wird über Zuschüsse zu modernen Hausgeräten wie Kühlschränken oder Heizungsumwälzpumpen gefördert. In diesem Zusammenhang lehnte Palmer die von Linken und SPD geforderten Sozialstromtarife strikt ab.
Ein weiterer Baustein sind die Förderung von Carsharing und Elektromobilität sowie der Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur und des schienengebundenen ÖPNV. Für den Ausbau des Radwegenetzes wurden die Mittel verzehnfacht (ca. 0,5 Millionen Euro im Jahr). Weitere Informationen und Details können auf der Website http://www.tuebingen-macht-blau.de nachgelesen werden.
Unerwähnt blieben in Palmers Vortrag leider die Widerstände und Fehler seines ökologischen Stadtumbaus. Große Kontroversen löste etwa die von Palmer veranlasste Verengung einer der Tübinger Hauptstraßen aus. Gerne hätte man gerade in Weinheim mehr über die Verfahren zur Bürgerbeteiligung in Tübingen gehört.
Windkraft in Weinheim und Tübingen “jenseits von Gut und Böse”
In der Diskussion spielte die Übertragbarkeit des Tübinger Modells auf Weinheim eine wichtige Rolle. Dabei kam selbstverständlich auch die aktuelle Kontroverse um die Planung der potentiellen Weinheimer Windkraftstandorte in den Odenwaldstadtteilen und am Geiersberg zur Sprache. Zwar wird auch die Stadt Tübingen gezwungenermaßen einen Windkraftstandort im Flächennutzungsplan ausweisen. Jedoch werden sich weder die Stadtverwaltung noch die Stadtwerke mangels Wirtschaftlichkeit an Windkraftanlagen im Stadtgebiet beteiligen. Investitionen in die Windkraft erfolgen über die Stadtwerke an windstarken Standorten außerhalb des Stadtgebietes, auch offshore. Die von Grünen Stadträtin Elisabeth Kramer genannten Windgeschwindigkeiten von 3 bis 4 Meter pro Sekunde, die laut Windatlas von Baden-Württemberg in Weinheim und Tübingen etwa gleich schwach wehen, bezeichnete Palmer als „jenseits von Gut und Böse“ und sorgte damit für einen Augenblick der Fassungslosigkeit bei manchen Zuhörern.
Einige konkrete Nachfragen zur Ausgestaltung der Energiewende auf Bundesebene aus dem sachkundigen Publikum brachten Palmer ins Schwimmen. So lässt sich das Tübinger Erfolgsmodell offensichtlich nicht ohne große Investitionen in Netze, Schattenkraftwerke und vor allem Energiespeicher auf ganz Deutschland übertragen. Dennoch zeigte der Vortrag wichtige und lohnenswerte Punkte, etwa Gebäudekataster, Energiemanagement und Fahrradverkehr auf, in die die Stadt Weinheim noch stärker investieren sollte.
In einer Woche, in der Daniel Cohn-Bendit einer Schwarz-Grünen Koalition im Bund seinen Segen erteilte hätte ich Boris Palmer gerne noch zu den Erfolgsaussichten und den innerparteilichen Widerständen befragt. Leider „pressierte“ er zum Zug und so endete der informative und unterhaltsame Abend abrupt und mit einigen offenen Fragen für die weitere konkrete Ausgestaltung der Energiewende in Weinheim und ganz Deutschland.
Anm. d. Red.: Dr. Thomas Ott ist Geograph und Pressesprecher der CDU Weinheim. Weil wir die Idee reizvoll fanden, wie ein CDU-Mitglied wohl einen Vortrag eines grünen Politikers wahrnimmt und beschreibt, haben wir Herrn Ott um einen Text gebeten. Das Ergebnis finden wir spannend.