Heidelberg/Rhein-Neckar, 23. Juni 2016. (red/pro) Über Monate hinweg hat die Flüchtlingskrise die Medienwelt dominiert – aktuell es ist es ruhig geworden. Die Herausforderung ist hingegen nicht verschwunden. Landeserstaufnahmen sind entlastet. Auf Kreise und Kommunen hat der Druck hingegen nur geringfügig abgenommen. Christoph Schauder spricht von einem “Durchatmen”. Im Interview haben wir den Ordnungsdezernenten des Rhein-Neckar-Kreises befragt, wie man sich auf die ungewisse Zukunft einstellen kann.
Interview: Hardy Prothmann; Mitarbeit: Minh Schredle
Wenn man sich die aktuelle Nachrichtenlage anschaut, dann spielt die Flüchtlingskrise nicht mehr so eine große Rolle wie im Herbst und um die Jahreswende. Man schaut so ein bisschen aufs Mittelmeer, schaut denen da beim Ertrinken zu und anscheinend ist vor Ort alles geregelt. Erst wurden Unterbringungsplätze für die Landeserstaufnahme geschaffen. Jetzt werden die Einrichtungen zurückgebaut, geschlossen oder auf Standby gesetzt. Hier gab es Entlastung. Aber wie sieht das bei den Kreisen und Kommunen aus? Ist die Anspannung noch hoch?
Christoph Schauder: Aktuell spüren wir eine geringe Entspannung und dafür sind wir unglaublich dankbar. Die vergangenen Monate waren für uns wirklich eine riesige Herausforderung. In Baden-Württemberg sind 2015 mehr als 100.000 Menschen angekommen, davon allein im November fast 40.000. Seitdem sind die Zugangszahlen wieder rückläufig. Im Januar kamen landesweit etwa 15.000 Personen, im Februar ungefähr 10.000. Aktuell sind es noch etwa 2.500 bis 3.000 Flüchtlinge pro Monat.
Die Zugänge auf Landesebene machen sich natürlich auch bei den Zuweisungen an die unteren Flüchtlingsaufnahmebehörden bemerkbar.
Bis einschließlich März hatten wir im Rhein-Neckar-Kreis wöchentliche Zuweisungen im dreistelligen Bereich. Das hat uns unter einen enormen Handlungsdruck gesetzt. Wir mussten in kürzester Zeit hunderte Unterbringungsplätze schaffen. Das ging nur, indem wir Notunterkünfte geschaffen haben, wie etwa das ehemalige Druckhaus Diesbach in Weinheim oder die Winzerhalle in Lützelsachsen. Aktuell sind die Zuweisungen stark reduziert worden. Im April hatten wir einen wöchentlichen Zugang von gut 80 Personen, im Mai waren es insgesamt 27 Menschen.
Atempause – Spannung bleibt
Die Behörden können also etwas durchatmen. Aber wie geht es nun weiter?
Schauder: Dass die Zugangszahlen gerade niedrig sind, hängt ja mit einer ganzen Reihe von Faktoren zusammen. Einerseits sind die Gesamtzugänge für ganz Deutschland deutlich reduziert worden, unter anderem weil die Balkanroute faktisch geschlossen ist. Dann hat das Land über die vergangenen Monate tausende Erstaufnahmeplätze geschaffen. Das entlastet die Stadt- und Landkreise, weil die Asyl suchenden Menschen momentan lange in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes verweilen. Uns werden überwiegend nur noch die Flüchtlinge zugewiesen werden, die eine Bleibeperspektive haben.
Die Kreise können sich also zurücklehnen?
Schauder: Nein, das kann man so nicht sagen. Die Situationen sind zum Teil sehr unterschiedlich. Wie viele Personen einem Kreis zugewiesen werden, hängt vor allem von der Einwohnerzahl zusammen. Als einwohnerstärkster Landkreis Baden-Württembergs hatte der Rhein-Neckar-Kreis dementsprechend eine sehr hohe Aufnahmequote. Diese konnten wir vollumfänglich erfüllen. Vielen anderen Landkreisen ist das ebenfalls gelungen, aber nicht allen. Diese Defizite gegenüber dem Land müssen jetzt in den kommenden Wochen und Monaten ausgeglichen werden. Bis dahin bleiben die Kreise, die ihre Aufnahmequote erfüllt haben, etwas verschont.
“Wir wissen nicht, was noch auf uns zu kommt”
Wie wird das denn in Zukunft aussehen? Aktuell haben Sie Gelegenheit, durchzuschnaufen, aber erfahrungsgemäß steigen die Flüchtlingszahlen in den Sommermonaten. Ist es also bald wieder vorbei mit der Entspannung? Wie beurteilen Sie die Lage?
Schauder: Wir sind leider keine Hellseher. Niemand kann heute seriös sagen, wie die Zugangssituation in einem Vierteljahr aussehen wird. Wichtig ist, dass wir die Phase jetzt nutzen, um unsere Strukturen zu optimieren. Das ist dringend notwendig, nachdem wir monatelang im Krisenmodus gearbeitet haben. Die Balkanroute ist faktisch geschlossen, und wir gehen davon aus, dass sie das auch bleiben wird. Aber es können sich alternative Fluchtrouten auftun. Da werden wir mit Spannung beobachten müssen, wie die Entwicklung weiter geht. Beispielsweise sammeln sich offenbar Tausende Flüchtlinge an der lybischen Küste und warten auf gutes Wetter, um das Mittelmeer zu überqueren.
Außerdem gibt es eine Flüchtlingsroute, die sich gerade neu entwickelt und wohl über Bulgarien läuft…
Schauder: Im Grunde ist das „Kaffeesatzleserei“. Fakt ist: Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Wichtig ist, dass wir uns auf möglichst viele Szenarien einstellen und flexibel reagieren können. Aktuell kommen pro Monat noch bis zu 3.000 Flüchtlinge in Baden-Württemberg an und auch die müssen verteilt werden. Schon das ist eine große Herausforderung.
Was für Flüchtlinge sind das? Wer kommt da an?
Schauder: Das ist komplett unterschiedlich. Die Hauptzugangsländer sind immer noch Syrien und Afghanistan. Irak ist ebenfalls sehr stark vertreten. Außerdem kommen viele Menschen aus afrikanischen Ländern, allen voran aus Gambia.
“Hier gibt es keine pauschalen Antworten”
Die ja aber eigentlich keine gute Bleibeperspektive haben, oder?
Schauder: Die meisten Gambianer haben eigentlich keine gute Bleibeperspektive. Eritreer zum Beispiel schon. Man kann hier keine pauschale Antwort geben und es ist wichtig, die Umstände im Einzelfall zu prüfen.
Wenn die Zukunft so ungewiss ist – wie plant dann der Rhein-Neckar-Kreis?
Schauder: Momentan sind wir mit 62 Unterkünften in 29 Städten und Gemeinden vertreten. Wenn wir die Objekte, die wir schon über die Presse angekündigt haben, in den nächsten Wochen und Monaten an den Start nehmen, erhöht sich die Zahl der im Rhein-Neckar-Kreis eingebundenen Kommunen auf über 30. Damit sind wir sehr breit in der Fläche aufgestellt.
Unser oberstes Ziel ist aktuell, dass wir die Notunterkünfte, die wir ja immer noch betreiben müssen, sukzessiv leerräumen.
Wie viele Menschen leben denn aktuell noch in Notunterkünften?
Schauder: Immer noch über 1.500 Menschen von insgesamt gut 6.700 Flüchtlingen in der vorläufigen Unterbringung des Rhein-Neckar-Kreises. Es ist ein gewaltiger Kraftakt die Notunterkünfte zu räumen, denn man braucht dafür ja erst einmal alternative Unterbringungsplätze unter besseren Bedingungen. Im Mai haben wir hier einen großen Schritt gemacht: Es ist uns gelungen, die Kreissporthalle in Wiesloch und das Racket-Center in Schwetzingen zu räumen. Das hat funktioniert, weil in Wiesloch eine Wohncontainer-Anlage bezugsfertig wurde und wir in Hockenheim eine Gemeinschaftsunterkunft in Betrieb nehmen konnten.
“Faktisch ist nirgends Anarchie ausgebrochen”
Leider kommt es immer wieder zu Schwierigkeiten in Gemeinschaftsunterkünften, gleichzeitig gibt es eine Reihe von Vorurteilen gegen Flüchtlinge. Zum Beispiel: Die stürmen unsere Sozialsysteme, kommen hier her, um sich die Zähne neu machen lassen und für teure Operationen. Welche Erfahrungen haben Sie in der Hinsicht gemacht?
Schauder: Die Sicherheitslage ist natürlich ein Thema, was die Bevölkerung umtreibt, insbesondere seit der Kölner Silvesternacht. Wir führen ja viele Veranstaltungen durch, auf denen wir die Bürger über unsere Unterkünfte informieren. Da ist immer auch ein Vertreter der Polizei mit dabei, der aus erster Hand über seine Erfahrungen berichten kann. Im Rhein-Neckar-Kreis ist uns nicht bekannt, dass irgendwo faktisch Anarchie ausgebrochen ist, nachdem wir eine Unterkunft in Betrieb genommen haben.
Ganz grundsätzlich muss man festhalten, dass sich die Flüchtlinge hier überwiegend gesetzeskonform verhalten. Aber es gibt auch schwarze Schafe.
Wenn es zu Vorfällen kommt, werden die beteiligten Flüchtlinge durch unsere Strafverfolgungsbehörden zur Verantwortung gezogen. Oft geht es um Eigentumsdelikte, die sich häufig in den Unterkünften selbst abspielen. Beispielsweise Flüchtling A entwendet Flüchtling B sein Handy – und das löst einen Streit aus. Wenn es zu größeren Polizeieinätzen kommt, dann ist das in erster Linie in den Notunterkünften der Fall. Dort gibt es in vielen Fällen kaum Privatsphäre. Die Leute sind auf engem Raum untergebracht und müssen sehr große Einschränkungen in der Lebensführung hinnehmen. Und da reicht es oft schon aus, wenn sich zum Beispiel bei der Essensausgabe einer vordrängelt, dass es dann zu einem Tumult mit einem Handgemenge kommt. Ansonsten gibt es Gerüchte, an denen überwiegend nichts dran ist.
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Lesetipp: Behauptungen im Faktencheck
“Was an den Gerüchten über Asylsuchende dran ist”
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Zum Beispiel?
Schauder: Es gab im Rhein-Neckar-Kreis keine Horden von Flüchtlingen, die sich sammeln, um Supermärkte leer zu plündern. Solche Geschichten verbreiten sich aber rasend schnell über Soziale Netzwerke. Deswegen betonen wir auf unseren Informationsveranstaltungen immer wieder: „Bitte glauben Sie nicht einfach alles, was im Internet steht. Wenden Sie sich im Zweifel an die Polizei, so kann man im Gespräch einiges richtig rücken.“
“Flüchtlinge sind nicht häufiger krank als der Durchschnittsdeutsche”
Wie steht es denn um die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge?
Schauder: Die ist gesetzlich ganz klar geregelt. Die medizinische Versorgung kümmert sich um akute Fälle. Etwa wenn jemand Schmerzen hat, beispielsweise, weil er sich ein Bein gebrochen hat, dann wird das selbstverständlich behandelt. Bei allem, was darüber hinausgeht – also Therapien oder Zahnbehandlungen und ähnliches – überprüft das Gesundheitsamt, ob eine Maßnahme wirklich notwendig ist. Ansonsten ist uns nicht aufgefallen, dass Flüchtlinge häufiger krank wären als der Durchschnittsdeutsche.
Als die Zugangszahlen seit dem vergangenen Sommer drastisch angestiegen sind, wurden die Behörden immer wieder mit Problemen konfrontiert, die so niemand auf dem Schirm hatte. Etwa, dass es zu Problemen bei der Essensausgabe kommt, weil Personen die Gerichte nicht kennen oder dass die Kommunikation mit den Flüchtlingen nicht funktioniert, weil niemand dolmetschen kann. Wenn Sie sich als Behörde ihren Lernprozess anschauen: Wissen Sie jetzt alles, was man wissen muss oder lernen Sie noch jeden Tag etwas dazu? Gibt es noch Überraschungsmomente?
Schauder: Dazu muss man ganz klar sagen: Beim Thema Flüchtlingsverwaltung gibt es nichts, was es nicht gibt. Es gibt immer wieder neue Fallgestaltungen, denen man sich stellen muss.
Ich bin unglaublich stolz auf die Kolleginnen und Kollegen und darauf, wie sie die vergangenen Monate bewältigt haben. Ständig waren Flexibilität, Kreativität und Belastbarkeit gefragt.
Das kann man gewissermaßen als Crashkurs bezeichnen und wir haben in kurzer Zeit viel gelernt. Die Kolleginnen und Kollegen haben sich wirklich mit einem unglaublichen Engagement dieser Herausforderung gestellt und das Arbeiten im permanenten Krisenmodus hervorragend auf die Reihe gebracht. Jetzt können wir etwas durchatmen und sehen, wo wir noch effizienter arbeiten und unsere Strukturen verbessern können.
Auch wirtschaftlich betrachtet sind die vergangenen Monate eine große Belastung. Haben Sie Zahlen, wie viel an finanziellen Mitteln aufgewendet werden muss, um die Flüchtlinge zu versorgen?
Schauder: Die Kosten im Bereich Flüchtlingsverwaltung sollen durch das Land übernommen werden. Für den Rhein-Neckar-Kreis wird das ein erheblicher Millionenbetrag sein, schließlich haben wir ja sehr viele Menschen aufgenommen. Eine konkrete Summe kann ich Ihnen aber nicht nennen – es müssen ja auch erst noch die Kosten ermittelt werden.
Unabhängig davon handelt es sich bei allen Mitteln, die wir aufwenden um Steuergelder unserer Bürgerinnen und Bürger. Das verpflichtet uns, alle Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit zu treffen.
Häufig wird behauptet, der Kreis lasse sich wegen des hohen Zuweisungsdrucks über den Tisch ziehen. So ist das mit Sicherheit nicht. Natürlich gab es solche Versuche von Vermietern. Aber wenn uns solche Angebote unterbreitet worden sind, haben die zuständigen Kolleginnen und Kollegen die Gespräche sehr schnell beendet.
“In den vergangenen Monaten hat sich viel getan”
Wie sieht es denn mit Integrationsmaßnahmen aus? Was kann der Rhein-Neckar-Kreis hier leisten? Und was muss aus Ihrer Sicht vorangetrieben werden?
Schauder: Sprache und Bildung sind der Schlüssel zur Integration. In den vergangenen Monaten hat sich hier viel getan. Land und Bund haben verschiedene Förderprogramme aufgelegt. Im Rhein-Neckar-Kreis haben wir in Kooperation mit der Volkshochschule einen 100-Stunden-Deutschkurs für Flüchtlinge aufgelegt. Diese werden sehr stark nachgefragt und überwiegend gerne besucht – die Flüchtlinge sehen die deutsche Sprache als wichtigen Baustein für gelungene Integration an.
Vieles hat in den Zeiten der größten Belastung nur mit Hilfe von ehrenamtlichem Engagement funktioniert. Wie wird das weiter gehen?
Schauder: Für das große ehrenamtliche Engagement sind wir unglaublich dankbar. Noch immer ist eine hohe Anzahl der Kreiseinwohnerinnen und -einwohner ehrenamtlich engagiert. Wir schätzen ungefähr 2.000 Personen, die in verschiedenen Initiativen tätig sind. Ohne deren Hilfe hätten wir in den vergangenen Monaten ganz gewaltige Probleme bekommen, vermutlich hätten die Behörden die Lage nicht alleine bewältigen können. Noch immer arbeiten wir mit den verschiedenen Ehrenamtsinitiativen im Kreis sehr eng und sehr vertrauensvoll zusammen, und wir sind dankbar für jede Unterstützung.
Zur Person:
Christoph Schauder studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg, wo er geboren wurde und arbeitete seit 2014 als als Raumordnungsreferent im Regierungspräsidium Stuttgart. Seit dem 01. November 2015 ist er Dezernent für Ordnung und Gesundheit beim Landratsamt Rhein-Neckar.
Damit ist er verantwortlich für das Rechtsamt, das Ordnungsamt, das Amt für Feuerwehr und Katastrophenschutz, das Gesundheitsamt sowie für das Veterinäramt und Verbraucherschutz im Rhein-Neckar-Kreis.
Außerdem ist Herr Schauder sowohl für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern wie auch für die Integrierte Leitstelle in Ladenburg zuständig.