Rhein-Neckar/Berlin, 23. Februar 2015. (red) Seit Monaten sind Flüchtlinge ein Top-Thema – mit der Zahl der Flüchtlinge steigt die Zahl der Abschiebungen. Und ebenso die Zahl der “Kirchenasyle”. Haben die Kirchen das Recht, staatliche Abschiebungen zu verhindern? Oder stellen sie sich über den Rechtsstaat? Rebekka Schmitt-Illert ist Mitglied im Ältestenkreis der evangelischen Christus- und Friedensgemeinde und Mitglied der Stadtsynode Mannheim – aus rechtsstaatlichen Gründen argumentiert sie gegen das Kirchenasyl.
Gastbeitrag*: Rebekka Schmitt-Illert
Ende Januar hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die steigenden Zahlen von Kirchenasylen in Deutschland kritisiert. Aktuell sind es 226 Kirchenasyle für 411 Menschen.
Verschiedene Akteure
Als Mitglied der Bundesregierung sprach er sich gegen das Kirchenasyl aus. Als Christ äußerte er Verständnis, dass in Einzelfällen aus Gründen der Nächstenliebe und des Erbarmens Flüchtlinge von Kirchen aufgenommen werden.
Verfechter des Kirchenasyls gibt es in Deutschland in zwei zusammenhängenden Bereichen. Die vordergründigen Akteure sind die christlichen Gemeinden.
Diese setzen die nach ihrer Einschätzung in einem Asylverfahren vernachlässigten humanitären Aspekte über rechtsstaatliche Verfahren, also über das weltliche Gesetz.
Als Rechtfertigung dafür, dass sie sich mit dem juristisch nicht existierenden, aber vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge “respektierten” Kirchenasyl über geltendes Recht hinwegsetzen, beziehen sie sich auf die Bibel, konkret auf die Apostelgeschichte, Kapitel 5, Vers 29: “Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.”
Die hintergründen Akteure sind Kirchenvertreter, Politiker oder mit Asylbewerbern befasste Haupt- oder Ehrenamtliche, die politisch aus unterschiedlichen Gründen die aktuell in der Europäischen Union und in Deutschland geltende Asylgesetzgebung als zu hart kritisieren und in der Unterstützung des Kirchenasyls durch die Kirchen einen Weg sehen, ihre eigenen Vorstellungen außerparlamentarisch durchzusetzen.
Weil die zweite Gruppe nur davon profitiert, dass die erste Gruppe tätig wird, beschäftigt mich vor allem die Begründung der Gemeinden, die selbst Kirchenasyl gewähren.
Tradition vs. Neuzeit
Das Kirchenasyl hat eine jahrhundertealte Tradition und die Kirchengemeinden können zu Recht stolz darauf sein, dass sie verfolgten Menschen Unterschlupf und Schutz gewährt haben – vor Repression, Willkür und Verfolgung. Sie haben Rechtsbruch begangen – gegen unmenschliche Diktatoren und andere autoritäre Regime. (Zur Geschichte und Beispielen von Kirchenasyl hier ein Eintrag auf Wikipedia, d. Red.)
“Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen” – das ist auch heute noch die immer wieder vorgebrachte Begründung der Kirchen für den konkreten Rechtsbruch, den sie begehen, wenn sie abzuschiebenden Flüchtlingen Unterschlupf gewähren.
Aus diesem auf das Individuum bezogenen Gebot, aus der Gewissensfreiheit und vor allem der Glaubensfreiheit aber herzuleiten, dass kirchliche Institutionen immer und jederzeit das Recht hätten, sich über staatliche Autoritäten hinwegzusetzen, ist aus meiner Sicht mindestens problematisch.
Ziviler Ungehorsam, der hier auch gerne angeführt wird, geht vom Individuum aus und er geht in der Regel mit persönlichem Risiko einher.
Gemeinden, die nach sorgfältiger Prüfung Kirchenasyl gewähren, stellen sich also nicht über das Gesetz, sondern tragen dazu bei, den Menschenrechten zu ihrer Geltung zu verhelfen.
Matthias Kopp, Sprecher der katholischen Bischofskonferenz laut Die Welt, 3.2.15
Beim Kirchenasyl ist das nicht der Fall – hier ist es nicht ein Staatsbürger oder eine Gruppe, die ein Risiko eingehen, indem man einen aus der eigenen Sicht bedrohten Mitmenschen bei sich aufnimmt.
„Sonderrechte“ für die Kirche?
Beim Kirchenasyl agiert eine Institution, die in Deutschland mit weitreichenden Privilegien ausgestattet ist. Es ist ein Ältestenkreis oder ein Pfarrgemeinderat, der als Gremium in geheimer Abstimmung über das Kirchenasyl entscheidet – und kein Mitglied muss damit rechnen, von der Staatsanwaltschaft als Bürger wegen Rechtsbruchs angeklagt zu werden. Es gibt in den Kirchen auch ein Wissen darüber, wie man eine Strafverfolgung vermeiden kann – man sorgt gezielt dafür, dass ein solcher Rechtsbruch ohne Folgen bleibt.
Mir geht es gar nicht darum, die Beweggründe der einzelnen Entscheider kleinzureden oder zu hinterfragen. Mir geht es auch nicht darum, einzelne Gemeinden für deren jeweilige Entscheidung zu kritisieren. Denn jeder hat das Recht zum zivilen Ungehorsam – aber auch die Pflicht, sich verantwortlich der geltenden Rechtsstaatlichkeit zu stellen.
Ich kann und will daher nicht hinnehmen, dass die obersten Vertreter der beiden großen Kirchen in Deutschland tatsächlich für ihre Institutionen in Anspruch nehmen, in dieser Frage über dem Rechtsstaat zu stehen, wie das in der Kritik am Bundesinnenminister zum Ausdruck gekommen ist. Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust – mein christlicher Glaube ist fest. Aber meine weltlich-politische Überzeugung ist ein Bekenntnis zum Rechtsstaat, in dem sich alle Menschen auf gleiches Recht verlassen können müssen.
Die Meinung des Christen ist, dass es auch mal ein Erbarmen geben kann, aber dann reden wir über vier, fünf, sechs, zehn Fälle im Jahr. Da wird man dann vielleicht mal „Gnade vor Recht ergehen lassen“, wie es auch so schön heißt. Wir reden jetzt inzwischen über hunderte von Fällen, über zum Teil eine systematische Verhinderung von Überstellungen nach Dublin, und das ist jedenfalls mal ein Missbrauch des Kirchenasyls.
Thomas de Maizière (CDU), Bundesinnenminister im Deutschlandfunk, 8.2.15
Über das geltende Asylrecht kann man nicht nur, man muss darüber streiten, ob es “ausgehöhlt” ist oder nicht. Und man muss bereit sein, politisch auf Veränderungen zu reagieren und sich den Gegebenheiten mit Vernunft und Menschlichkeit anzupassen.
Härtefälle gehören vor die Kommission
Thomas de Maizière, der für seine Aussage viel Kritik insbesondere von Kirchenvertretern einstecken musste, hat aus meiner Sicht den entscheidenden Punkt angesprochen: Man kann die humanitären Beweggründe eines einzelnen Christen, eines einzelnen kirchlichen Entscheidungsträgers in der Gemeinde vor Ort verstehen, wenn er für ein Kirchenasyl stimmt.
Aber spätestens seit es in den Bundesländern zur Klärung strittiger Fälle, insbesondere in Bezug auf individuelle Abschiebehindernisse, die Härtefallkommissionen gibt, in denen die Vertreter der Landeskirchen stimmberechtigt sind, gibt es ausreichend rechtsstaatliche Wege, um ein Verfahren erneut prüfen zu lassen.
Privilegien erfordern Verantwortung
Wenn die Kirchen als Institutionen sich wundern, dass man ihre Haltung zum Kirchenasyl kritisiert, wird es Zeit, dass sie ihre eigene privilegierte Rolle in der heutigen Zeit reflektieren.
Das Kirchenasyl ist Jahrhunderte alt und hat vielen Menschen geholfen. In früheren Zeiten gab es aber keine demokratischen Verfahren und keine Rechtsstaatlichkeit. Wer aus den vergangenen Jahrhunderten ein “Recht” ableitet, das heute auch noch gelten soll, der stellt unseren Rechtsstaat massiv in Frage. Und das ist nach meiner Überzeugung nicht gerechtfertigt – trotz aller humanitärer Überlegungen, die ich durchaus teile.
Die lange Geschichte des Kirchenasyls bedeutet, dass man in den Kirchen verantwortlich damit umgehen muss.
Wenn unsere Rechtsstaatlichkeit durch die Kirchen in Zweifel gezogen wird, weil sie mehr und mehr Kirchenasyle gewähren, dann sind die Kirchen in der Pflicht, sich öffentlich zu rechtfertigen und an der gesellschaftlichen Debatte zu beteiligen und sich nicht nur auf ihrer privilegierten Tradition auszuruhen. Das ist zu wenig, weil man in einem Rechtsstaat nicht erklären kann, dass man bei einer Institution etwas straflos hinnimmt, was bei einem Individuum strafrechtlich verfolgt würde.
Glaubwürdigkeit gilt für Kirchen wie für den Staat
Kirchenasyl will einzelnen Menschen etwas Gutes tun, beschädigt aber die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats, weil es unsere staatliche Ordnung implizit in die Tradition früherer Unrechtsstaaten stellt, in denen ein Kirchenasyl oft die letzte Rettung für verfolgte Menschen war. Durch diese indirekte Umdefinition erzeugen die Kirchen einen veritablen Schaden.
Ich wünsche mir, dass die Kirchen alle demokratischen Möglichkeiten der öffentlichen Einflussnahme nutzen, um sich gegen eine Asylgesetzgebung zu wenden, die aus ihrer Sicht unmenschlich ist.
Dafür braucht es Argumente, politische Aktionen und juristische Verfahren und viele Appelle an die Barmherzigkeit und die Nächstenliebe – aber bitte keine “traditionellen Privilegien”. Die christlichen Beweggründe sind wichtig und richtig – darüber braucht man keine Rechenschaft abzulegen. Über das staatsbürgerliche Verhalten hingegen schon.
*Vorspann, Fotos, Bildunterschriften und Zwischenüberschriften sowie Zitate durch die Redaktion.
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