Rhein-Neckar, 23. März 2020. (red/pro) Plötzlich ist alles eingetreten, was sich vor wenigen Monaten noch niemand vorstellen konnte – auch, wenn Entscheidungsträger aus der Politik immer beteuerten, dass „Zustände wie in Italien oder China“ hier undenkbar seien. Innerhalb weniger Tage änderte sich das soziale Leben in Deutschland radikal. Welche Auswirkungen wird das haben?
Von Hardy Prothmann
Seit heute gilt deutschlandweit vorerst bis zum 06. April ein Kontaktverbot von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum, die nicht in einem Haushalt leben oder zur Familie gehören.
Dass die Politik und die Gesellschaft überhaupt nicht auf eine solche Lage eingestellt sind, zeigt sich auch daran, dass die Behörden zwar „Allgemeinverfügungen“ im Tagestakt erlassen, es aber keinerlei Hinweise und Angebote gibt, wie die Menschen damit umgehen sollen. Die Verantwortlichen appellieren an die Verantwortung der Bürger. Verantwortung heißt, dass man Fragen gestellt und darauf Antworten gefunden hat. Doch dies ist nicht der Fall.
Alle Haushalte, vom Single über Wohngemeinschaften bin hin zu Familien werden in eine Situation gebracht, über deren Bewältigung nie zuvor jemand nachgedacht hat.
Alleinlebende sind plötzlich ganz allein. Klar könnte man sich mit einer einzigen anderen Person im öffentlichen Raum oder privat treffen. Hierbei soll man aber das Kontaktverbot und einen Mindestabstand von 1,5 Metern zueinander wahren. Kein Bussi, keine Hand, kein in-den-Arm-nehmen.
Familien haben immerhin andere Menschen um sich herum. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen. Es gibt in Deutschland sehr viele Familien, die unter beengten Verhältnissen leben, denn seit Jahren steigen die Mietpreise, großzügiger Wohnraum ist viele vollständig unbezahlbar. Da hockt man also daheim aufeinander und die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb der Familien zu sozialen Konflikten kommt, ist groß.
Dann gibt es noch die Familien, die sich ganz doll liebe haben und sich freuen, mal sehr viel Zeit für- und miteinander zu haben, aber eben auch die, bei denen die Partner froh sind, wenn einer oder beide das Haus wegen der Arbeit verlassen, die nervigen Kinder in der Schule sind und am Abend teilt man sich die Aufsicht, während sie zum Sport geht oder er zum Fußballgucken mit den Kumpels.
Ganz Deutschland ist aktuell gemeinsam einsam. Eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte den Dialog, die Teilhabe, das Aufeinanderzugehen propagiert hat und natürlich die grenzenlose Freiheit, sich im öffentlichen Raum bewegen und jeden treffen zu können, mit dem man das wollte. Alles vorbei – zunächst für zwei Wochen.
Es wird nicht bei diesen zwei Wochen bleiben. Denn wenn sich diese „Maßnahme“ als Erfolg rausstellen sollte und die Infektionskurze tatsächlich flacher wird, wird das als „Erfolg“ gewertet werden und Erfolge wiederholt man – es wird also verlängert. Zeigt sich keine signifikante Wirkung, ist das kein Misserfolg, sondern eben noch keine ausreichende Zeit, um das Ergebnis zu bewerten – es wird also verlängert.
Zwei Wochen übersteht man irgendwie. Aber ab dann wird es schwierig werden. Was, wenn es zu einer deutlichen Zunahme häuslicher Gewalt kommen sollte? Sind die Behörden darauf eingerichtet?
Was, wenn viele oder gar sehr viele Menschen mit dieser Isolation psychologisch nicht zurechtkommen? Sind die Behörden und psychologische Dienste darauf eingerichtet?
Klar kann man über Telefon oder Internet kommunizieren – Tatsache ist aber auch, dass die allermeisten Menschen den Kontakt zu anderen Menschen suchen. Menschen sind soziale Wesen – der Entzug des sozialen Miteinanders wird von sehr vielen mindestens als „verstörend“ empfunden werden.
Hinzu kommen die Sorgen über die eigene wirtschaftliche Existenz. Klar, es soll viele staatliche Hilfen geben. Vielleicht hilft das, trotzdem werden viele Firmen pleite gehen und damit verlieren viele Menschen ihren Arbeitsplatz.
Auch wenn aktuell sehr viel mehr Menschen im Homeoffice arbeiten – ich weiß aus meiner Erfahrung durch meinen Beruf als Journalist, dass in meinem sehr großen Kontaktkreis, die allermeisten eben kein Homeoffice machen wollen, wenn sie „auf Arbeit gehen“ können. Sie wollen privat und beruflich trennen, was auch nachvollziehbar ist.
Und alle Berufe am Menschen sind mit Homeoffice nicht kompensierbar – manche, wie Frisöre mögen „verzichtbar“ sein. Pflege und medizinische Betreuung ist es nicht. Und zur Pflege gehört auch Körperpflege. Ich weiß, wovon ich rede. Als meine Großmutter, eine „Dame“, die immer erheblichen Wert auf ihr Erscheinungsbild gelegt hatte, erkannt hatte, dass sie dazu nichts mehr beitragen kann, sie zwar gepflegt wird, aber als gebrechliche Frau, hat sie sich entschlossen zu sterben. Das ist dann auch innerhalb von zwei Wochen so geschehen – sie hatte einen starken Willen.
Aktuell ist unklar, ob es den Bürgern gelinkt, die strikten Maßnahmen zu überstehen oder ob sie nicht doch „unvernünftig“ werden – dann drohen Strafen. Welche genau, wurde nicht definiert, immerhin sollen Bußgelder bis 25.000 Euro möglich sein, sogar Freiheitsstrafen.
Das hat eine neue Dimension. Das urmenschliche Bedürfnis auf soziales Miteinander kann plötzlich nicht nur eine Ordnungswidrigkeit sein, sondern sogar eine Straftat. Haben die Verantwortlichen wirklich darüber nachgedacht, was das bedeutet?
Bereits vor fünf Tagen habe ich unten stehenden Text veröffentlicht. Darin fordere ich auf, das Undenkbare zu denken – denn das müssen wir alle aktuell.
Wie die behördlich zur Einsamkeit verdonnerte Bevölkerung hiermit psychologisch umgehen soll oder kann, dazu habe ich von Behördenseite noch nichts gelesen. Jeglicher Sport mit anderen ist verboten, der Frisör auch, das Nagelstudio – alles Dinge, die Menschen brauchen, um sich zu definieren, sich „schön“ zu machen, für sich und andere.
Was ist mit denen, die ihre Toten nicht bestatten können, wenn es zu viele werden? Heute schon sind Trauerfeiern auf ein Minimum an Teilnehmern beschränkt.
Neue Beziehungen und Freundschaften können nicht geschlossen werden, andere werden kaputt gehen.
Anscheinend denkt da keiner drüber nach, solange Leute auf Balkonen singen und Medien herzzerreißend darüber berichten, wie schön das doch ist.
Ich kenne Italien gut – die Menschen sind dort gerne viel geselliger als hierzulande. Aber sie sind nicht nur wegen der meist höheren Temperaturen mehr draußen als in Deutschland, sondern weil die Wohnbedingungen in Italien noch viel beengter sind als hier.
Möglicherweise sind diese Gesänge nichts anderes als Hilferufe in der Not.