Rhein-Neckar/Stuttgart, 23.01.2014 (red/csk) Der „Bildungsplan 2015“ ist bislang lediglich ein Arbeitspapier. Dazu eins, dass zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht öffentlich bekannt sein sollte. Aber der Inhalt dieses Arbeitspapiers hat eine Wirkung, die sich die Verfasser niemals ausgemalt hätten. Die Diskussion zeigt mehr als deutlich, wie konservativ und menschenverachtend es in Teilen der deutschen Gesellschaft immer noch zugeht: Die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Gesprächsstoff im Unterricht, Homosexualität als gleichwertigen Lebensstil vermitteln? Das wird ausgehend von einer Online-Petition mittlerweile von mehr als 160.000 Unterzeichnern abgelehnt, davon rund 70.000 Zeichner aus Baden-Württemberg.
Von Christina Schäfer-Kristof
Auf 32 Seiten erklärt das vom Kultusministerium aufgestellte Arbeitspapier fünf künftige Leitprinzipien zur Entwicklung der Kinder zu selbstbestimmten und sich-selbst-bewussten Mitgliedern der Gesellschaft. Ein Aspekt in dieser Entwicklung sei die Wahrnehmung der „Differenzen zwischen Geschlechtern, sexuellen Identitäten und sexuellen Orientierungen“. Wohlgemerkt, es ist ein Aspekt. Einer unter vielen.
Das überdeutliche Herausstellen dieses Aspekts innerhalb des Arbeitspapiers ist Fakt. Unter jedem der einzelnen Leitprinzipien wird explizit auf das Thema eingegangen und darauf, unter welchen Gesichtspunkten es jeweils zu betrachten sei. Wie notwendig eine solch explizite Positionierung dieses Einzelaspekts ist, das darf man Kultusminister Andreas Stoch durchaus fragen.
Eins steht fest: Das Thema polarisiert enorm und zeigt damit, wie notwenig eine Auseinandersetzung damit ist. Angestoßen nicht zuletzt durch eine Online-Petition auf einer öffentlichen Plattform, die zu Jahresbeginn einen Ansturm an Unterstützern erfahren hat. Die sucht allerdings keine „Auseinandersetzung“, sondern befürchtet den Untergang des Abendlandes.
Ablehnungswelle vs. Unterstützerwelle
Bis heute haben mehr als 160.000 Menschen die Petition von Initiator Gabriel Stängle unterstützt. Rund 70.000 Zeichner oder 45 Prozent der Unterschriften kommen aus Baden-Württemberg. Unterstützung erhält Stängle auch aus den Reihen der Politik: Die AfD fordert ihre Mitglieder auf, die Petition zu unterstützen. Der baden-württembergische CDU-Fraktionsvorsitzende Peter Hauk warb in einem Interview im SWR-Fernsehens eindringlich für das Ernstnehmen der in der Petition genannten Ängste des Petenten sowie seiner Unterstützer. Die CDU Rems-Murr begrüßte die Petition, wenngleich sich der Kreisverband auch entschieden gegen hetzerische oder diskriminierende Äußerungen in der Diskussion ausspricht.
Hätten sich die AfD, die CDU Rems-Murr, Peter Hauk und all die anderen petitionsunterstützenden Institutionen die Mühe gemacht, die menschenverachtende Ursprungsversion des Verfassers Gabriel Stängle zu lesen, würden sie heute vielleicht vorsichtiger mit ihren Äußerungen umgehen. Denn: Alles andere als eine deutliche Distanzierung von der Petition ist, wenn noch nicht die offene Unterstützung, so doch zumindest die Tolerierung einer zutiefst homophoben und „feindbildgeprägten“ Ideologie.
Auf openPetition ist der Ursprungstext der Petiton nachzulesen. Darin sieht Stängle die „Arbeitsfassung in den Klauen von Lobbyisten“. Mit Lobby meint er dabei die LSBTTIQ (lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queer). In einem Absatz unter dem Titel „Feindbilder und Umerziehungskampagne“ unterstellt er den LSBTTIQ-Vertreter/innen, sie würden eine „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“ an den Schulen verfolgen.
Wer will hier wen missionieren?
Der Bildungsplan verkomme zu einem „Kampfinstrument“, der die Lehrkörper „in politische Haft“ nehme, die nun ihrerseits die nächste Generation an eine „fragwürdige Sexualpolitik“ heranführen solle. „Nein zu den LSBTTIQ-Indoktrinierungs- und Missionierungsversuchen“ ist eine der ursprünglichen Forderungen. Gabriel Stängle durfte die Petition so nicht veröffentlicht lassen. Also wurde gestrichen und überarbeitet.
Aber lässt sich die hinter dieser Version stehende Ideologie einfach so ausstreichen, wie die Worte im Text? Geht es tatsächlich um Ängste, oder doch vielmehr um eine noch nicht mal versteckte Diffamierung unter der geschwenkten Flagge des Grundgesetzes, an dessen Werten (dem Schutz von Ehe und Familie) sich doch bitte orientiert werden soll?
Wer hier keine tief sitzende Menschenverachtung erkennt, der will sie nicht sehen. Wer hier keine klare Distanzierung formuliert, stellt sich letztlich auf die Stufe mit denen, die nach außen das Gesicht der Liberalität tragen und sich innerlich doch kümmerlich kleingeistig zeigen.
Neben der Politik zieren sich auch andere Gruppen, eindeutig auf Distanz zu gehen. Die Landeskirchen Baden-Württembergs haben in einer gemeinsamen Erklärung ihren Unmut gegen den Bildungsplan 2015 kund getan. Auch sie sind gegen hetzerische Portale und diffamierende Blogeinträge. Eine unmissverständliche Distanzierung von der Petition aber fehlt. Einzig die Evangelische Landeskirche in Baden hat in einer weiteren Presseerklärung sich klar gegen die Forderungen der Petition ausgesprochen.
Überfällige Debatte
Die Online-Petition gegen den Bildungsplan 2015 läuft nur noch wenige Tage. Die Befürworter haben noch länger Zeit. In zwei Gegenpetitionen konnten sie bisher über 214.000 Unterschriften für den Bildungsplan gewinnen. Im Übrigen haben sich sowohl Landeseltern- und Landesschülerbeirat sowie die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Baden-Württemberg auf die Seite der Bildungsplaner gestellt.
Die Petitionen auf den genutzten Plattformen openPetition und Campact sind übrigens nicht rechtsverbindlich. Wie zuverlässig die Zahlen sind, liegt nicht zuletzt an der Transparenz und den Kontrollmechanismen der Plattformbetreiber. Überprüft wird im Grundsatz nur, ob eine email-Adresse funktioniert, nicht, ob jemand unter vielen Adressen seine Stimme abgibt – manchmal fällt das auf und wird dann bereinigt, so die Betreiber. In jedem Fall geben diese Petitionen ein Stimmungsbild wieder, stellen Aufmerksamkeit her. Und in diesem Fall sogar eine enorm hohe. Die Petenten haben jederzeit die Möglichkeit, über eine offizielle Petition ein Thema in den Landtag zu bringen. Ob das in diesem Fall erfolgen wird, bleibt abzuwarten.
Der Aspekt der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ hat eine Diskussion losgetreten, die weite Teile der Gesellschaft erfasst und zeigt, wie wenig selbstverständlich Schwule, Lesben und Transgender gesehen werden. Immerhin diskutiert man damit über geschätzte zehn Prozent der Bevölkerung – nicht nur der deutschen, sondern natürlich auch der ausländischen. Aber zumindest wird nun darüber geredet. Eventuell hat der Petent damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte: Eine Diskussion, statt eines Verbots oder eines weiteren Schweigens.