Rhein-Neckar, 22. März 2018. (red/pro) Nach der Debatte um eine Äußerung des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, „Hartz IV“ biete, was man zum Leben brauche, testen wir das aus. Der erste Trend zeigt: Die Aussage ist zutreffend. 4,84 Euro im Schnitt pro Tag reichen für eine umfassende, abwechslungsreiche und auch ausgewogene Ernährung. Aber: Das geht nur mit absoluter Disziplin, eigenem Zutun und klarem Verzicht – auch was Bio, Öko und Nachhaltigkeit betrifft.
Von Hardy Prothmann
Kaum hatten wir die ersten Beiträge gepostet, gab es bereits Kommentare: Das könne man so nicht rechnen. Das sei unrealistisch. Man müsse die Energiekosten rechnen und die Versorgungskosten (Bahn). Außerdem habe nicht jeder die Zeit zu kochen oder könne das gar nicht.
Wir setzen uns gerne mit allen Argumenten auseinander, wenn sich die Kommentatoren auch mit unseren Argumenten ergebnisoffen auseinandersetzen wollen. Dazu einige Anmerkungen:
- Wir prüfen zunächst den Anteil am Regelsatz, der für die Ernährung definiert worden ist. Genau das und nichts anderes.
- Ja, wir rechnen auch kleinteilige Kosten wie Gewürze, Öl, Essig. Allerdings nur ab einer relevanten Größe: Das Salzen von drei Kartoffeln berechnen wir nicht. (Später werden wir noch einen pauschalen Aufschlag hinzurechnen.)
- Zigaretten und Alkohol sind keine Ernährung, sondern Luxusgüter, die zudem nicht förderlich für die Gesundheit sind. Kosten dafür sind nicht im Ernährungsregelsatz drin.
- Wir berichten auch zu den anderen Regelsatz-Anteilen – haben Sie also bitte Geduld.
- Wir prüfen gerne Ihre Argumente – dazu schreiben Sie uns bitte möglichst ausführlich an redaktion (at) rheinneckarblog.de.
- Sie helfen uns außerordentlich, wenn Sie Ihre aktuelle oder frühere Situation schildern und uns mitteilen, wo es zwickt, auch wenn man sich angemessen verhält. Wichtig: Wenn Sie uns informieren, behandeln wir das vertraulich – Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie als Quelle schützen.
- Nein, wir werden von niemandem für diese Arbeit bezahlt. Wir erstellen die Artikel vollständig unabhängig und nach journalistischen Kriterien.
- Wenn Sie einen Fehler entdecken, freuen wir uns, wenn Sie uns diesen an die Redaktionsemal mitteilen.
- Nein, wir kaufen keine Produkte bei der Tafel. Erstens dürfen wir das als Nichtleistungsbezieher nicht und zweitens wollen wir wie andere auch unter „normalen“ Bedingungen einkaufen. Dass man über die Tafel sparen kann, ist unbestritten.
- Nein, wir wollen niemanden „vorführen“ – wir machen eine offene Überprüfungsrecherche wie bei anderen Themen auch. Die Erfahrungen und Ergebnisse ordnen wir transparent in Berichten ein.
Erste Bilanz
Die Ernährung ist bislang vernünftig, ausgewogen und abwechslungsreich. Aber auch diszipliniert. Das meiste haben wir selbst gekocht und dadurch, dass wir bei allem auf den Preis achten, viele Produkte im Angebot und bei Discountern kaufen, kommen wir beim Regelsatz bislang gut hin.
Aber: Schon ein Quarkstrudel und eine Butterbrezel, auf die ich eingeladen wurde (konkret: Es gibt bei den Gemeinderatssitzungen einen Imbisstisch in Mannheim, an dem sich auch Journalisten bedienen dürfen, dort habe ich mir einen Kaffee und die beiden Teilchen genommen) hätte aufs Budget gedrückt. (Wir wurden übrigens heute von Gemeinderäten angesprochen, ob wir da nicht ein wenig „beschissen“ hätten
Beim Einkauf und bei den Runden durch Supermärkte, um Preisrecherchen zu machen, stelle ich klar fest: Ich kann nicht mehr zu gewissen Lebensmitteln greifen, bei den ich früher zwar auch auf Preise und Angebote geachtet hätte, die ich aber jetzt klar nicht mehr kaufen kann. Ein Rumpsteak (30 Euro das Kilo) oder ein Beutel Black Tiger Garnelen (18 Euro das Kilo) fehlen auf dem Einkaufszettel. Diese und andere Lebensmittel würden mein Budget nicht nur übersteigen, sondern sprengen.
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Der Gang zum Bäcker oder Metzger ist vollständig utopisch und auch Extras, die ich mir sonst gerne gönne wie sehr gutes Olivenöl oder echter Büffelmozzarella sind tabu. Und, auch da bin ich ehrlich: Vergangene Woche habe ich mir in einem Großhandel ein Dutzend Austern gekauft. Auch, wenn das nicht jedermanns Geschmack ist – auf Hartz IV wäre es auch nicht mehr meiner. Selbst der Großmarktpreis ist nicht zu bezahlen, im Einzelverkauf ist das noch teurer.
Ich kaufe üblicherweise auch kein Mehl 405, außer mal für Süßbackwaren, die ich selbst mache. Jetzt überzeugt mich der Preis: 35 Cent statt 95 Cent für Mehl 550 sind ein sattes Argument. 60 Cent mehr oder weniger sind auf den Tag gerechnet ein Achtel mehr oder weniger.
Was vollständig ausfällt, sind „Lustkäufe“. Auch Vorratskäufe – weils gerade so schön günstig ist – kann man mit diesem Budget erstmal vergessen. Außer, man hat noch ein wenig was auf der hohen Kante oder hat gut gewirtschaftet und aus dem Regelsatz noch Geld übrig. Vorratskäufe machen Sinn, weil man da preislich gute Schnäppchen machen kann, aber das ist nur noch bedingt möglich.
Alles ist anders als vorher
Ich kaufe sehr viel bewusster ein – das finde ich gar nicht mal schlecht. „Vor Hartz IV“ habe ich auch auf Ernährung geachtet, aber nach dem Lustprinzip. Jetzt bin ich gezwungen, ein Budget einzuhalten und will mich aber trotzdem einigermaßen gesund und ausgewogen ernähren. Zum Vergleich: Ich habe das früher nicht wirklich dokumentiert, aber in aller Regel habe ich zwei bis drei Mal die Woche für 20-40 Euro eingekauft – darunter auch alkoholische Getränke. Ein Mal pro Monat gab es auch einen Großeinkauf mit 50-100 Euro. Klar ist: Bei meiner internen Kalkulation bin ich von mindestens 200 Euro pro Monat, einem Regelbedarf von 300 Euro und einem außerordentlich Bedarf von 400 plus Euro ausgegangen. 145,04 Euro als Regelbedarf nach Hartz IV sind ein deutlicher Einschnitt.
Ich muss mich im Kopf vollständig neu orientieren. An der Lust- und Luxuswelt nehme ich nicht mehr nach Belieben teil. Aber: Ich kenne viele Länder auf dieser Welt und insbesondere in europäischen Nachbarländern sind Lebensmittel insgesamt teuer. Die von mir als „Hartzer“ zu finanzierende Einkaufswelt ist klar und deutlich eingeschränkt – aber ich kann gute Lebensmittel zu Preisen erwerben, die ich nach dem mir zur Verfügung stehenden Regelsatz auch bezahlen kann, ohne dass ich jeden Tag dieselben faden Speisen zum Überleben zu mir nehmen müsste.
Denke ich weiter, wird es problematisch. Vor meiner angenommenen Hartz IV-Situation habe ich nie darüber nachgedacht, jemanden einzuladen. Wer „in mein Haus“ kommt, ist mein Gast und wird gut versorgt. Leckere Oliven auf den Tisch, Chips, Ciabatta, Olivenöl, ein paar leckere Käsesorten, einen mundigen Rotwein. Ruckzuck tische ich auf und der Gast kann sich bedienen. Das geht so nicht mehr.
Alle die lockenden „to go“-Produkte kann ich mir ebenfalls abschminken, selbst wenn ein „Coffee to go“ für 99 Cent angeboten wird. Bei drei Mahlzeiten pro Tag habe ich im Schnitt für jede 1,61 Euro zur Verfügung. 99 Cent für einen Kaffee gehen einfach nicht. Auch keine Brezel für 75 Cent – zumindest nicht im Alltag.
Würde ich also wie andere durch die Stadt ziehen und mir mal hier und da was kaufen wollen, bin ich als Hartzer außen vor, außer, ich knapse mir sonst richtig was ab. Klar, ich kann mir auch ne Mehlsuppe für 30 Cent kochen und habe dann 4,54 Euro für Luxus.
Fastfood geht gar nicht – was ich jetzt nicht als Verlust betrachte, auch, wenn ich ab und an gerne mal so richtig unvernünftig bin und einen oder zwei dieser so gar nicht gesunden Burger esse. Auch der Döner ist möglich – aber nur, wenn ich das kalkuliere. Jeder Mittagstisch ist eigentlich tabu: Selbst günstigste Angebote ab 6 Euro für eine Mahlzeit übersteigen das Budget und stressen den Regelsatz. Und wenn ich mal zwei Kugeln Eis beim Italiener schlonzen wollte – geht, aber nur mit Abzügen vorher oder hinterher beim Regelsatz. Nach vier Tagen habe ich einen „Überschuss erwirtschaftet“, mit dem ich zwei Kugeln Eis und eine Brezel kaufen könnte. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, sondern mir Eis einfach dann gekauft, wenn ich Lust drauf hatte und ich den Preis nicht zu unverschämt fand.
Fazit der Zwischenbilanz
Wir haben gerade mal 4 von 15 Tagen rum und die Eindrücke sind enorm. Wir werden vermutlich mit dem Regelsatz für Ernährung auskommen. Was unsere weiteren Recherchen ergeben, ist offen.
Klar ist schon jetzt: Als männlicher Single ist man arg gekniffen. Der Aufwand der Lebensführung ist höher, Kosten können nicht verteilt werden. Ein bekanntes Leben kann nicht weitergeführt werden. Trotzdem erhält man eine Unterstützung, die ein „vernünftiges“ Leben ermöglicht. Hat man aber nicht auch Recht auf ein unvernünftiges Leben wie andere auch? Diese und andere Fragen werden wir im Anschluss an unser Speiseplan-Experiment führen.
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Interessant sind auch Rückmeldungen nach diesen vier Tagen von Lesern, die nicht wissen, wie man kostenbewusst kochen kann, um sich gut zu ernähren, ohne ein Chefkoch zu sein. Erstaunlich ist, dass offenbar viele Menschen, insbesondere junge, überhaupt keine Ahnung haben, wie man mit einfachen Mitteln leckere Mahlzeiten herstellen kann.
Klar ist auch, dass ich als „Hartzer“ enorme Schwierigkeiten haben werde, mich „nachhaltig“ zu verhalten. Bio und regional sind keine Kriterien, die an erster Stelle stehen. Müllvermeidung auch nicht. Ich muss abgepackte Produkte erwerben und interessiere mich nicht dafür, ob das Huhn oder das Rind glücklich gelebt hat.
Noch leiste ich mir fair gehandelten Kaffee, aber wenn ich hier drei, vier Euro einsparen kann, überlege ich mir das auch, denn ich habe kein Geld für Luxus, sondern ausschließlich für das, was ich zum Leben brauche.
Was ich nicht weiß, ist, inwieweit Herr Spahn sich inhaltlich eingearbeitet hat. Klar ist, dass er wie andere Abgeordnete keine Sekunde über meine Gedanken als „Hartzer“ nachdenken muss. Ich weiß auch nicht, ob Herr Spahn ab und an in Berlin ins bei VIPs, Politikern oder Journalisten beliebte Borschardt geht. Da kann man zu zweit ohne Probleme an einem Abend den Regelsatz von 145,04 Euro für einen Monat übertreffen – um ein Vielfaches.
Anm. d. Red.: Wenn Sie wissen möchten, welche Folgen ein solches Thema hat und wie massiv man Hass und Hetze ausgesetzt wird, klicken Sie hier.
Anm. d. Red.: Vier der zwölf Ende der vergangenen Woche gekauften Austern waren noch übrig und sind Anfang der Woche verzehrt worden. Die mussten weg. Damit erhöht sich die Kalorienbilanz für Hardy Prothmann um 260 Kalorien. „Ganz ehrlich“ betrachtet erhöhten sich die Ausgaben auch um fünf Euro – das war nicht zu vermeiden, die Muscheln wären sonst verdorben gewesen und eine frühere Ausgabe Verschwendung von Geld und Lebensmitteln. Da die Idee für dieses Projekt unmittelbar nach dem Kauf dieses Luxuslebensmittels entstand, hoffen wir auf Verständnis. Aus Transparenzgründen führen wir auch diese Tatsache ehrlich an und setzen auf Verständnis, dass dieser Ausrutscher nicht in unsere Bilanz einfließt.
Hinweis d. Red.: Sie haben vielfältige Möglichkeiten in unserem Angebot zu recherchieren – über die Suche oder über Kategorien oder Stichworte. Die Texte zu diesem Thema finden Sie unter dem Stichwort Hartz IV.
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