Rhein-Neckar/Berlin, 22. November 2017. (red/pro) Nach der Bundestagswahl 2017 gab es nur eine denkbare Koalition, die (problemlos) eine Mehrheit erreicht hätte, schwarz-rot. Die SPD benötigte nur drei Minuten, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Das aktuell noch utopistische Projekt “Jamaika” ist gescheitert. Bevor die Möglichkeit einer Neuwahl in Betracht gezogen wird, muss die Politik das Wahlergebnis nicht nur aushalten, sondern versuchen, das Beste daraus zu machen. Und das ist eine Minderheitsregierung.
Offener Brief von Hardy Prothmann
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
vermutlich sind Sie wie ich und alle, mit denen ich rede, dankbar, dass die FDP die Reißleine gezogen hat und uns allen ein Jamaika-Experiment erspart hat. Wie ich, wissen auch Sie, dass das Gerede über einen “Wählerwillen” und eine “Abwahl” reiner Nonsens ist. Denn die Bürger wählen keine Koalitionen, sondern Parteien. Dabei müssen die meisten Wähler schon über ihren eigenen Schatten springen und abwägen, denn alle vernünftigen Wähler können niemals nur eine Partei so absolut gut finden, dass sie sich von dieser vollumfänglich vertreten fühlen. Ein wenig gemildert wird die Abwägung durch Erst- und Zweitstimme.
Die Wähler/innen haben ihren Pflichtteil beigetragen und die Stimmen abgegeben. Die Wahlbeteiligung war gut. Das Ergebnis für die Parteien steht fest. Eine sofortige Neuwahl würde aber nur Kosten erzeugen, das Land bis dahin weiter im Unsicheren lassen und ob danach “klare” Koalitionen möglich wären, ist aktuell eher zu bezweifeln. Vermutlich bekäme noch nicht mal mehr schwarz-rot zu einer Mehrheit.
Sie, Frau Dr. Merkel, haben die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben, indem Sie sich als erste Bundeskanzlerin einer Minderheitsregierung zur Wahl stellen. In finde, dazu sind Sie verpflichtet. Ihren Wähler/innen gegenüber und dem Parlamentarismus gegenüber. Sie könnten sogar im ersten Wahlgang die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen. Das wäre ein großartiges Zeichen von Bündnis90/Die Grünen und der FDP, dass man es ernst gemeint hatte mit den Sondierungsgesprächen für eine Koalition unter Ihrer Führung. Und sicherlich gibt es auch SPD-Abgeordnete, die das Herz am richtigen Fleck haben und Ihnen eine symbolische Stimme geben würden. Sollte dem nicht so sein, können Sie später auch mit den meisten Stimmen gewählt werden.
Ob eine Minderheitsregierung den Parlamentarismus stärken würde, bleibt abzuwarten. Hier ist viel romantisches Denken im Spiel, das die Abläufe und Zusammenhänge zu wenig bedenkt. Ganz sicher könnte es aber mehrere positive Effekte geben: Erstens wird den Wähler/innen gezeigt, dass man ihre Stimmen ernst nimmt und das notwendig Beste aus dem Wahlergebnis macht. Die Union ist mit Abstand größte Fraktion, Sie sind eine erfahrene Amtsinhaberin. Eine solche Entscheidung wird jeder als verantwortlich respektieren.
Ein weiterer Effekt wäre, dass alle Parteien mit hoher Disziplin das parlamentarische Geschäft besorgen müssen. Die Minderheitsregierung müsste sich (wechselnde) Mehrheiten beschaffen und alle strittigen Politikfelder würden nicht in Hinterzimmern ausgehandelt, sondern bei offener Debatte. Hier könnten sich die Parteien deutlich wahrnehmbarer profilieren.
Nicht zu unterschätzen ist, dass die Bedeutung, die die AfD sucht, bei insgesamt fünf Oppositionsparteien marginalisiert wird. Die AfD ist als demokratische Partei gewählt worden – ob einem das gefällt oder nicht. Die Neuparlamentarier müssten sich viel deutlicher beweisen – die anderen Parteien natürlich ebenso.
Ein aktuell unerträglicher Zustand würde beendet: Ich und alle, mit denen ich rede, haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass SPD-Minister weiter an einer geschäftsführenden Regierung teilhaben, gleichzeitig aber eine neue Regierungsverantwortung ablehnen. Hier ist jeder Tag im Amt einer zu viel.
Sie, sehr geehrte Frau Dr. Merkel, hätten meinen und sicherlich den allergrößten Respekt der Mehrheit der Menschen, wenn Sie sich dieser nicht einfachen Aufgabe im Dienst für das Land stellen. Oder es zumindest versuchen. Sie agieren sehr geschickt und ich traue Ihnen zu, dass sie zumindest die halbe Strecke der Legislatur nicht nur überstehen, sondern gestalten können. Wäre das zu mühsam und wären die Ergebnisse zu wenig überzeugend, hätten Sie es wenigstens versucht. Dann könnten Sie die Misstrauensfrage stellen. Dann wären alle Parlamentarier in der Pflicht – sollte Ihnen kein Vertrauen ausgesprochen werden, ginge alles seinen geregelten Gang und es müsste neu gewählt werden.
Einen weiteren positiven Effekt sehe ich darin, dass die Wähler/innen erkennen würden, wie vorteilhaft eine starke Koalition aus möglichst wenigen Koalitionären ist. Bei der nächsten Wahl wird dann bestimmt stärker abgewogen, ob man eine Zersplitterung möchte oder den Parteien die Stimme gibt, die in Summe am ehesten eine verantwortliche Politik gestalten wollen.
Auch das, sehr geehrte Frau Dr. Merkel, sollten Sie bedenken: Es gibt viele, die kritisieren, dass Sie wieder angetreten sind – weil es offenbar niemanden gibt, der als Ihr Nachfolger gehandelt wird. Wenn Sie bei einer sofortigen Neuwahl nochmals antreten, wird sich diese Kritik verschärfen. Ich erwarte von einer direkten Neuwahl keine wesentliche Veränderung der Verhältnisse – danach stände man vor einer ähnlichen Situation wie jetzt. Sie könnten die (Übergangs-)Zeit also auch nutzen, eine(n) Nachfolger(in) aufzubauen, die AfD hätte das “Merkel muss weg”-Ziel nicht erreicht.
Weiter schaut das Ausland sehr genau auf das, was aktuell politisch in Deutschland passiert, beziehungsweise nicht passiert. Sie stehen mit allen relevanten Akteuren in Kontakt – egal, wie die Beziehungen sind. Man kennt Sie.
Theoretisch könnte auch Herr Schulz sich zur Kanzlerwahl stellen. Doch das wäre nun wirklich absurd, weil die Begründung war, dass man bewusst in die Opposition gehe.
Sie schaffen das, da bin ich sicher. Ich hätte da auch einen Slogan für Sie: Lieber verantwortlich regieren als unverantwortlich zu reagieren.
Hochachtungsvoll
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