Mannheim, 22. März 2016. (red/nh) Ab in den Untergrund. Genauer: In die Kanalisation Mannheims. Keine besonders angenehme Vorstellung. Man denkt an Ratten, gemeinen Gestank, Dunkelheit und Beklemmung. Dennoch ist es spannend, einen Einblick zu bekommen, was man eigentlich nie zu sehen bekommt, denn alltäglich läuft man schlicht drüber hinweg. Etwa 3,25 Meter geht es hinunter – in den Fremdeneinstieg vom Quadrat F1.
Von Naemi Hencke
„Das Wasser ist so schlecht, dass ich meinen Tee wie flüssigen Stein getrunken habe“, soll der Dichter Wilhelm Heinse während eines Besuchs in Mannheim um 1780 geschrieben haben. „Die Gräben verbreiten einen fahlen Geruch.“
Stinkende Strassen
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es Gang und Gäbe, stinkende Fäkalien und schmutziges Wasser direkt auf den Gehwegen und Straßen zu entsorgen. Der Unrat floss über die Rinnsteine in den offenen Stadtgraben und dann weiter in Rhein und Neckar.
Vielleicht war der beißende Gestank etwas abgemildert, wenn es mal geregnet hatte – aber das können wir heute nur annehmen. Mannheim war häufig von Hochwasser bedroht – und mit dem Hochwasser verbreiteten sich Seuchen und Tod. Die Vorstellung an diese miserablen Verhältnisse lässt einen erschaudern.
Von Mannheim nach Kopenhagen
Heute schlendert man durch die Straßen. Es stinkt nicht. Definitiv nicht bestialisch. Meistens vergisst man, was da unter seinen Füßen eigentlich ist: Ein riesiges, sich über rund 890 Kilometer erstreckendes Kanalnetz. Das ist in etwa eine Streckenlänge von Mannheim nach Kopenhagen oder nach Zagreb oder Nantes. Ganz schön weit. Insgesamt wird in diesem Kanalnetz eine Fläche von etwa 7.100 Hektar entwässert. Im Durchschnitt fließen täglich rund 100.000 Kubikmeter Schmutz- und Niederschlagswasser durch den Untergrund.

Viele Menschen interessieren sich für den Abstieg in den Untergrund. Auf geht’s.
Kanaleinstieg für „prominente“ Besucher
Die Mannheimer Kanalisation hat mittlerweile schon etwa 130 Jahre auf dem Buckel. Im Jahre 1890 wurde der renommierte Entwässerungsexperte und Frankfurter Stadtbaurat William Heerlein Lindley vom Mannheimer Stadtrat beauftragt, einen Plan für den Bau eines Kanalsystems zu entwerfen und übernahm die Gesamtbauleitung.
Sein Vater war der Bauingenieur William Lindley – berühmt durch den Aufbau der ersten modernen Wasserversorgung Deutschlands in Hamburg. Bis 1932 waren 95 Prozent der Haushalte in Mannheim an das damals 316 Kilometer lange Kanalnetz angeschlossen.
Schon zu jener Zeit durften „prominente“ Besucher, wie beispielsweise der Großherzog Friedrich I., die moderne Anlage besuchen und in den am Alten Rathaus gelegenen Fremdeneinstieg 3,25 Meter in die Tiefe hinabsteigen.

Der Abstieg: Geöffnet wie eine stählerne Blüte geht es 14 Treppenstufen oder 3,25 Meter tief hinab.
Beklemmung statt Gestank
14 Stufen steige auch ich die eiserne Wendeltreppe hinunter. Die an der Absperrung stehenden Wächter empfehlen mir, auf meinen Kopf Acht zu geben.
Ich habe mich auf ein „duftes“ Erlebnis eingestellt. Doch unten angekommen, ist es zwar feucht und es müffelt etwas nach Moder, aber fies stinken tut es nicht.
Natürlich, besonders angenehm riecht es dann auch wieder nicht, aber es ist ok. Es tropft von der Decke und die Wände sind klamm. Und es ist sehr eng – fast beklemmend eng. Zum Glück wabert durch die Schächte noch etwas Tageslicht. Es flackern Neonröhren – die gab es zu Großherzog Friedrichs Zeiten ganz bestimmt nicht.
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Die Wände sind aufwendig aus sandfarbenen Klinkersteinen erbaut – original aus 1890, stehen sie heute unter Denkmalschutz. Mittlerweile ist rund die Hälfte der Röhren nicht älter als 50 Jahre – die Länge des Kanalsystems hat sich seit seiner Erbauung nahezu verdreifacht.
Man gelangt auf eine Art Galerie – von hier aus kann man das braune Abwasser besichtigen, welches den Hauptkanal entlang fliesst oder weiter durch zwei Nebenkanäle in westliche oder östliche Richtung.
Mannheim weist durch seine topografische Lage nur wenig Gefälle auf, sodass 40 Pumpwerke und 31 Hebeanlagen nötig sind, um einen zügigen Abwasserabfluss zu gewährleisten. Das Ziel: Das Klärwerk bei Sandhofen. Hier wird das Wasser innerhalb von 24 Stunden aufwendig gereinigt und in den Rhein geleitet.
„Ich habe einen guten Geruchssinn“,
erzählt mir der Ingenieur Herr Thomas Röhling, Sachgebietsleiter Kanalbetrieb. Es störe ihn nicht, dass er meistens unter Tages arbeiten muss und
„So sehr stinkt es ja nun auch nicht. Man gewöhnt sich daran.“

Und über mir hetzen die Passanten.

Oberhalb der Kanalisation fällt der Lichtschacht im Alltag nichts ins Auge.
Zu seinen Aufgaben gehört die Reinigung der Kanalröhren, die Inspektion der Kanalwände und die Bekämpfung von Ratten. Vor allem über die Toilette entsorgte Q-Tipps, Windeln und Essensreste seien übel. Sie verstopfen die Rohrleitungen und ziehen die Ratten an. Rund 500 Tonnen Müll – das sind etwa 15.000 Müllsäcke – werden im Jahr aus den Kanälen gefischt.
Suche nach den Abflusssündern…
Auch bestimmte Flüssigkeiten seien ein großes Problem: Vor allem in der Nähe des MVV-Gebäudes käme es immer wieder zu intensiveren Ablagerungen von Frittierfett.
„Nun ja, die vielen Imbisse und ihre Fettabschneider sind die Übeltäter. Wir sind schon auf der Suche nach Abflusssündern…“,
sagt Herr Röhling.
Die Kanalarbeiter haben immer verpflichtend einen Gas-Messgerät dabei. Dieser schlägt Alarm, wenn sich durch verfaulende Abfälle gefährliche Gase entwickeln: „Dann heißt es nichts wie raus“.
Gefährlich kann es auch werden, wenn Starkregen die Kanäle in kürzester Zeit zum Überlaufen bringen. Das letzte Mal sei das im Jahr 2010 vorgekommen.
Gerade kommt eine 20-köpfige Schulklasse die enge Röhre herunter. Ich schaffe es gerade noch, mich an den Kindern vorbei zu zwängen. Danach ist die Röhre voll.
„Ihhh, es stinkt“,
rufen sie und halten sich die Nasen zu. Kein Gekicher. Große Aufregung. Ich denke: „Haben Kinder vielleicht einen ausgeprägteren Geruchssinn als Erwachsene?“ und beeile mich, schnell wieder ans Tageslicht zu kommen.

Die Wände sind klamm. Es tropft von der Decke. Es ist eng.

Sieht aus wie ein „scheiß Schlund“

Alles ist hier unten klamm.

Die Feuchtigkeit zeigt ihre Spuren.

„Oben“ ist es schon sehr viel angenehmer.
Im 19. Jahrhundert wird es kein Vergnügen gewesen sein, sich „an der frischen Luft“ aufzuhalten. Denn die gab es nicht – jedenfalls nicht in den Städten.
Heutzutage, können wir – dank der Arbeit von Herrn Röhling und vielen anderen, die sich täglich in die unterirdischen Röhren hinabwagen und hochkomplexer Technik – „oben“ doch relativ frei atmen.
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