Ludwigshafen/Rhein-Neckar, 22. Oktober 2012. (red/ld) 22 Prozent der Mannheimer Bürger sind ohne Nahversorgung. 60.000 Menschen in der Stadt können also nicht zu Fuß zum Bäcker, Metzger, zur Post oder Bank, um die Angelegenheiten des Alltags zu regeln. Immer mehr große Supermärkte siedeln sich außerhalb der Orte an. Die Kunden erreichen sie nur mit dem Auto. Alte Menschen, die nicht mehr Auto fahren und Menschen ohne Auto erreichen sie gar nicht. Die Ortskerne sterben aus. Die „Nahversorgung sichern“ ist das Thema von Donato Acocella. Eine Lösung hat Hartmut Walter mit seinem Dorfladen in Gottwollshausen und Gailenkirchen gefunden.
Von Lydia Dartsch
Jeder Schritt eine Qual
500 Meter ist für Donato Acocella die Grenzen dessen, was man zu Fuß erreichen kann: „Legen Sie sich ein Gipsbein oder einen Bänderriss zu und versuchen Sie dann 550 Meter zu gehen und dann mit ihren Einkäufen bepackt zurück zu laufen:
Da tut jeder Meter weh!,
gibt er seinem Publikum zu bedenken, als einer von ihnen vorschlägt, 700 Meter könne man ja auch noch gut zu Fuß gehen. Da ist das Problem: Für junge und gesunde Mensche sind ein paar Meter mehr kein Problem. Für alte und fußkranke Menschen wird jeder Schritt zur Tortur und von ihnen wird es in Zukunft immer mehr geben, wie der Demographische Wandel fortschreitet.
Die Nahversorgungskarte der Region macht es sichtbar. Viele Bereiche sind schon rot: Dort gibt es keine Nahversorgung. Einige sind rosa und etwa ebenso viele sind noch weiß, also gut versorgt. „Das wird in Zukunft anders werden.“ Immer mehr wird rot werden, unterversorgt. Selbst in einer Stadt wie Mannheim gibt es Stadtteile, in denen über 50 Prozent der Menschen von der Nahversorgung abgeschnitten sind, hat er herausgefunden. Insgesamt sind es schon 22 Prozent der Bevölkerung.
Seltsame Richtlinien für Einzelhändler
Ein Supermarkt braucht mindestens 3.000 Einwohner, damit er sich rechnet, hat Acocella festgestellt. Drogeriemärkte sogar mindestens 12.000. Unter 1.000 Quadratmeter Verkaufsfläche lohnt es sich ebenfalls nicht. Um so viele Menschen zu erreichen, ziehen viele große Märkte in die Außenbezirke, wo man nur mit dem Auto hinkommt. Das sei auch kein Problem, so die Annahme des Einzelhandels, denn in den ländlichen Gegenden fahren die meisten Menschen ohnehin mit dem Auto.
Acocella hat anderes festgestellt: „Woher diese Richtlinien kommen, kann niemand sagen, aber es gibt genug Läden mit Verkaufsflächen unter 1.000 Quadratmetern. Das scheint sich also doch zu rechnen.“ Auch besitzen rund 25 Prozent der Menschen auf dem Land kein Auto und die meisten Familien auch nur eins. „Derjenige, der also die Familienversorgung übernimmt, hat meist kein Auto zur Verfügung.“
Nach Feierabend mit dem Auto zum Einkaufen
Die Konkurrenz zum Laden im Ort ist so groß, dass der schließen muss und eine Lücke hinterlässt. „Man kann sein Kind dann nicht mehr einfach mal losschicken, Zucker zu holen, um den Kuchen fertig zu backen.“ Für alte Menschen ist das eine Herabstufung der Lebensqualität:
Sie werden abhängig davon, mitgenommen oder etwas mitgebracht zu bekommen, können sich nicht mehr selbständig versorgen,
malt der Stadt- und Regionalplaner Acocella aus. Vor allem für Frauen, die höhere Alter erreichen, ist mit dem Wegfall ihrer Einkaufsmöglichkeit auch ihre Möglichkeit der Lebenskommunikation verschwunden:
Das darf man nicht vergessen: Gerade alte Menschen gehen einkaufen, um unter Menschen zu kommen und soziale Kontakte zu pflegen.
Unser Dorfladen in Gottwollshausen
Hartmut Walter aus Schwäbisch Hall hat genau diese Erfahrung gemacht. 2004 war der Bäcker tot. „Mit einem Mal gab es keine Einkaufsmöglichkeit mehr“, erzählt er. Der Kommunikationstreff war nicht mehr. Für alle war es ein Problem. Ein Dorfladen musste her. Gemeinsam mit 15 anderen gründete sich im Ort eine Initiative, die alte Bäckerei in einen Dorfladen umzubauen. Sie sprachen mit den Erben des Bäckers und der Stadtverwaltung, erstellten ein Konzept und einen Businessplan, beantragten Fördergelder. Die letzte Hürde war die Gründung einer Genossenschaft mit 100 Anteilseignern. Sie bauten die Bäckerei in einen Laden um.
Ohne Ehrenamt geht nichts
Im Mai 2005 öffnete der Dorfladen. 12.000 Artikel, regionale Produkte, Obst und Gemüse bietet er an. Eine Vollzeitverkäuferin und drei Verkäuferinnen auf 400-Euro-Basis verdienen ihr Geld. „Dafür ist viel Ehrenamt nötig“, sagt Walter, der auch mal die Weinlieferung vom Winzer aus dem Nachbarort holt und damit fünf Prozent Rabatt mitnimmt. Von der Marktauswertung und dem Controlling bis hin zum Regaleinräumen arbeiten die meisten ehrenamtlich. „So reichen die Einnahmen gerade mal, um eine schwarze Null zu schreiben.“ Die Menschen nehmen den Markt an, dafür sprechen die steigenden Umsatzzahlen. Von einer Kundin ist Walter besonders angetan:
Sie kommt drei Mal am Tag in den Laden, um einzukaufen. So hat sie etwas zu tun.
Fehlende Nahversorgung wieder herstellen
Ein Einheitsmodell sei das natürlich nicht, gibt Walter auf Nachfrage zu bedenken. Schließlich sei der Markt nah mit der Bevölkerung und deren Bedürfnissen geplant und umgesetzt worden. Es zeige aber, dass die fehlende Nahversorgung mit eigener Initiative und ehrenamtlichen Engagement wiederhergestellt werden könne. Erwartungsvoll blickt er nun in die kommenden Jahre, wenn ein Neubaugebiet von rund 1.000 Familien besiedelt wird:
Die kommen dann hoffentlich alle zu uns.
Anm. d. Red.: Dorfladen ist nicht gleich Dorfladen. Unser Partnerportal Tegernseer Stimme berichtet seit langer Zeit über den Überlebenskampf des Dorfladens in Gmund. Was gut gemeint ist, hat dort falsche Voraussetzungen – nämlich mehrere Supermärkte in der näheren Umgebung. Das falsche Management-Entscheidungen. Die idyllische Idee muss sich der harten Konkurrenz der Supermärkte beugen. Alle Artikel dazu, wie es nicht funktioniert, finden Sie bei der Tegernseer Stimme.