Mannheim/Rhein-Neckar, 21. Juni 2013. (red/pro) Heute starten die Schillertage in Mannheim. Wir haben den Mannheimer Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch getroffen, um zu erfahren, ob und wie modern die Werke von Friedrich Schiller heute noch sind, wie Freiheit und Moral zueinander passen und warum das Theater unersetzbar ist.
Interview: Hardy Prothmann
Herr Professor Hörisch, die Kenntnis der Schiller’schen Werke kann heute nicht mehr vorausgesetzt werden – steht zumindest bei Wikipedia. Was bedeutet das?
Prof. Dr. Jochen Hörisch: Für mich als Vertreter der Generation 60+ ist es natürlich bedauerlich, wenn jemand nicht sofort Zitate wie „Geben Sie Gedankenfreiheit“ einordnen oder selbst verwenden kann. Andererseits: Schiller hat sehr bühnenwirksam gearbeitet und wer die Stücke nicht kennt – als bürgerliches Kanonwissen – dem erschließen sich trotzdem heute noch Werke wie Don Karlos oder die Räuber sehr, sehr schnell. Das ist anders als bei Goethe.
Schiller war mit allen Wassern gewaschen
Goethe und Schiller werden gerne in einem Atemzug genannt. Sind sie vergleichbar?
Hörisch: Vergleichen lässt sich alles. Aber den Faust II beispielsweise können Sie sich nur durch intensive Beschäftigung erschließen. Goethe ist ein ganz anderes Kaliber als Schiller. Dennoch war Schiller mit allen Wassern gewaschen. Damals gab es kein Fernsehen und Schiller war so eine Art Tatort-Schreiber. Sehr spannend, sehr wirksam. Nicht umsonst waren seine Stücke damals schon so erfolgreich.
Goethe und Schiller waren sich erst nicht grün, pflegten dann aber eine intensive Freundschaft – was hatten sie gemein, worin unterscheiden sie sich?
Hörisch: Sehr verkürzt – Schiller war ein hochgradiger Moraliker, Goethe dagegen nahezu amoralisch. Als Beleg zitiere ich das Tagebuch, dass ich übrigens sehr gerne als Lektüre empfehle: „Das Beste bleibt, wir geben uns die Hände/Und nehmen’s mit der Lehre nicht empfindlich;/Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend,/So waltet was, gerettet ist die Tugend.“ Goethe hat den realistischeren Blick auf die Welt. Wenn die Leidenschaft entfesselt ist, hilft keine Kant-Lektüre oder jegliche Form von Bildung. Dann ist der Mensch einfach triebhaft.
Schiller hat sich ja intensiv und kritisch mit Kant auseinandergesetzt. Nach Schiller muss man neben dem Verstand auch die Emotion ansprechen – beides zusammen führt zur Vernunft…
Hörisch (lacht): ….ja, Pflicht und Neigung.
Je unsicherer die Welt, umso größer das Bedürfnis nach Ordnung
Erreicht man mit solchen Begriffen heutzutage junge Menschen?
Hörisch: Unbedingt. Der Wille zur Selbstverpflichtung, nehmen wir klassischerweise die Treue, beispielsweise bei einem Heiratsversprechen, hat meiner Beobachtung nach eine hohe Konjunktur. Die Generation der jungen Erwachsenen erfährt eine hohe Komplexität sowie eine hohe Bedrohlichkeit der Welt – Stichwort Präkariat, der Lebenslauf ist nicht mehr sicher planbar. Je unsicherer die Welt wird, umso mehr steigt dass Bedürfnis für Ordnung zu sorgen, um sie verlässlicher und sicherer zu machen.
Schiller steht auch für die „ästhetische Erziehung“ des Menschen. Was bedeutet „Schönheit ist die Freiheit in der Erscheinung“?
Hörisch: Die Betrachtung, ob das Glas Wasser nun halb voll oder halb leer ist, ist ein gutes Beispiel. Der Optimist sieht es halb voll, der depressive Mensch erkennt es als halb leer. Schiller definiert mit diesem Ausdruck einen zentralen Begriff der Kunst – die stellt Alternativen zur Verfügung, der Fachausdruck dafür ist Kontingenz. Alles könnte auch anders sein. Die Freiheit in der Erscheinung beschreibt das Phänomenale, die unendlichen Möglichkeiten. Naturgesetzlich gilt das nicht. Da hat man 50 Prozent einer definierten Menge Wasser entnommen. Mathematische Formeln und physikalische Gesetzte haben diese Freiheiten nicht: Die Kunst mit ihrer Freiheit in der Erscheinung steht gegen die Verbindlichkeit des Nomos, des Gesetzes.
Schiller ist ein virtuoser Denker der Gegensätze
Widerspricht sich Schiller da nicht selbst? Er wollte doch Normen schaffen?
Hörisch: Der Widerspruch macht Schiller aus. Er ist überhaupt ein großer, virtuoser Denker der Gegensätze. Er stellt Freiheit versus Notwendigkeit, Natur versus Kunst, Erscheinung versus Gesetz, Schiller thematisiert sehr lebhaft diese kantischen Dichotomien. Und seine Theaterstücke thematisieren das als moralische Anstalt.
Das klingt doch sehr lebensnah und wenig theoretisch.
Hörisch: Das ist Schillers Schicksal. Er wollte gerne ein Philosoph sein, tatsächlich ist er ein herausragender Psychologe. Am besten lässt sich das beim „Verbrecher aus verlorener Ehre“ nachlesen. Schiller hat nicht viel Prosa geschrieben, aber diese Kriminalbericht ist ein unglaublich analytisches Stück, das vorbildhaft die Psychologie der Kriminalität aufzeigt.
Wenn Sie das Individuum Schiller betrachten – was war das für ein Mensch?
Hörisch: Schiller stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und musste sich enorm anstrengen, um etwas erreichen zu können. Er war schon fast besessen fleißig und hat sich seinen Erfolg hart erarbeitet. Insbesondere die letzten zehn, fünfzehn Jahre seines kurzen Lebens war er außerordentlich produktiv. Um dieses Pensum überhaupt zu bewältigen, hat er Stimulanzien verwendet, Pfeife geraucht, saure Äpfel zu sich genommen, viel getrunken. Möglicherweise hat das auch sein Leben verkürzt. Er hat sich selbst unter einen enormen Leistungsdruck gestellt.
Und er hat Druck auf andere ausgeübt. Wegen Beschwerden gegen die Räuber floh er aus Stuttgart nach Mannheim, weil ihm in Stuttgart Festungshaft drohte. War Schiller ein Revoluzzer?
Hörisch: Nein, obwohl er zunächst ein glühender Fan der französischen Revolution war. Als die aber durchknallte und die jakobinischen Exzesse ins Unmenschliche abdrifteten, wandte er sich ab. Die negative Entwicklung hat er allerdings, wie könnte es anders sein, verarbeitet: Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz.
Können wir von Schiller immer noch etwas lernen?
Hörisch: Unbedingt. Schiller bearbeitet ja die ewigen Menschheitsthemen, den Vater-Sohn-Konflikt beispielsweise in den Räubern. Den Begriff „Zickenkrieg“ kannte Schiller noch nicht, beschreibt aber heute den Konflikt zwischen Elisabeth und Maria Stuart. Das ist absolut alltagestauglich. Mit Heinrich Heine könnte man sagen: Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.
Schiller war schon zu Lebzeiten sehr erfolgreich beim Publikum. Gibt es zeitgenössische Autoren, denen sie eine ähnliche Wirkung zuschreiben würden?
Hörisch: Ganz klar Rolf Hochhuth oder Peter Weiß und auf eine gewisse Art auch Heiner Müller – der wird sich bei dem Vergleich zwar im Grabe rumdrehen, aber die Wirkungsmacht ist vergleichbar.
Das Theater ist eine spezifische Verrücktheit der Deutschen
Welche Rolle spielt das Theater im Umfeld der explodieren Zahl elektronischer Medien?
Hörisch: Theater hat etwas, was die anderen Medien nie ersetzen können: Es ist ein Präsenzmedium und keine Aufführung ist gleich. Die Schauspieler tun tatsächlich, was sie tun. Und das Publikum ist im Moment der Aufführung dabei. Und es ist eine sehr luxuriöse Angelegenheit.
Darüber gibt es immer wieder Debatten – über die teure Subventionierung von Theater, die es überwiegend nur in Deutschland gibt.
Hörisch: Manche Leute schütteln auch den Kopf über Stierkämpfe oder Football und verstehen die Leidenschaft dafür nicht. Theater und Oper sind bedeutende deutsche Kulturgüter. Jedes Land hat seine spezifische Verrücktheit und das ist ja auch gut so.
Welche Aufführungen werden Sie sich bei den aktuellen Schillertagen anschauen?
Hörisch: Den Wilhelm Tell. Ich fand die Besprechungen sehr interessant und bin neugierig geworden. Dann Jonathan Meese! Den habe ich einmal erlebt und auch überlebt. In der Zwischenzeit habe ich mich davon erholt und tue mir diesen – im positiven Sinne – Verrückten nochmal an. Weiter werden im Forum von SWR2 äußerst interessante Fragen behandelt, auf diese Diskussionen bin ich sehr gespannt.
Zur Person:
Jochen Hörisch wurde 1951 in Bad Oldesloe geboren und studierte von 1970 bis 1976 Germanistik, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Düsseldorf, Paris und Heidelberg. Nach seiner Habilitation 1982 war er Privatdozent und Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 1988 ist er Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Neben der Literatur ist ein Musikliebhaber und verknüpft bei seinen Betrachtungen gerne mehrere Disziplinen. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit bietet er regelmäßig ein Seminar zu den „aktuellen Inszenierungen“ des Nationaltheater Mannheim an. Das Seminar findet in enger Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater statt und ermöglicht den Studenten Gespräche und Diskussionen mit Schauspielern, Dramaturgen und Regisseuren des Theaters.
Der Autor:
Hardy Prothmann (46) hat von 1989-1994 Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Mannheim mit Abschluss Magister Artium studiert. Seine Magisterarbeit schrieb er bei Professor Hörisch zum Thema: „Das Geld in der Dichtung. Vom Fortunatus zum Peter Schlemihl. Eine hermeneutische Untersuchung“.