Mannheim, 21. Januar 2021. (red/pro) RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann hat am Mittwoch, den 20. Januar 2021, eine über 80 Jahre alte Dame zur Impfung begleitet. Eigentlich eine private Angelegenheit, doch nach reiflichem Nachdenken, hat er sich entschieden, die Beobachtungen öffentlich zu machen. Und diese geben kein gutes Bild ab.
Von Hardy Prothmann
Ich kann Ihnen keine Fotos zeigen, denn ich habe keine gemacht. Obwohl ich Journalist bin und sonst alles Mögliche dokumentiere. Warum nicht? Weil ich beruflich und privat üblicherweise trenne.
Ich habe am Mittwoch eine Freundin beim Impfen begleitet und natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob ich das irgendwie journalistisch verwerten könnte, mich zunächst aber dagegen entschieden – anders als andere Medien, die daraus eine “Home-Story” gemacht haben.
Doch bei nochmaligem Nachdenken habe ich mich umentschieden. Ich muss darüber berichten, denn es ist relevant – für viele Menschen.
Diese Freundin ist eine hochbetagte Dame über 80 Jahre. Geistig topfit, aber der Körper ist arg angeschlagen. Sie lebt noch selbstbestimmt, aber arg alleine und einsam wegen der ganzen Corona-Bestimmungen in ihrem Haus in Mannheim. Sie organisiert sich überwiegend selbst, erhält aber bei vielen Dingen von mir und meiner Frau und anderen Hilfestellungen.
Sie war Professorin, hat als kleines Schulkind die Wirren und Bedrohungen des 2. Weltkriegs erlebt, weiß und erinnert sich eindringlich, was Not und Hunger bedeuten. Sie entstammt einer Generation von Frauen, für die höchste Würden, wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung nicht selbstverständlich waren. Sie ist selbstbewusst, aber bescheiden. Und nachdenklich.
Als Wissenschaftlerin war sie in der Welt unterwegs. “Ah, wenn ich das richtig sehe, Frau Professor, sind sie tatsächlich vollständig durchgeimpft”, sagt die Ärztin im Impfzentrum Mannheim beim Betrachten ihres Impfausweises. “Ja, das kann man so sagen, ich war halt beruflich viel auf Reisen.” Später erzählt sie mir, dass das der dritte oder vierte Impfausweis ist, weil die anderen voll waren.
Diese Frau hat keine Angst vor einer Impfung. Wir haben vor der Impfung ausgiebig gesprochen. Ich habe ihr meine Bedenken mitgeteilt, aber letztlich muss sie das entscheiden: “Weißt Du, Hardy, was soll mir das noch groß schaden? Als Wissenschaftlerin betrachte ich das alles skeptisch, aber ich bin halt tatsächlich in der hoch-gefährdeten Gruppe. Also lasse ich es machen. Jede Infektion ist für mich eine Bedrohung.” Damit hat sie recht.
Vor dem Impftermin sprechen wir uns ab. Ich habe Bedenken – wegen der Parkplätze. Also holt meine Frau die Dame ab, ich fahre vor und tatsächlich. Kein Parkplatz mehr. Ich parke im Halteverbot. Erst mehr oder weniger alleine, als wir mit dem Impfen durch sind, sind es Dutzende von Autos.
Glücklicherweise bin ich eine Viertelstunde vor ihrem Termin vor Ort am Maimarkt, der jetzt Impfzentrum ist. Ich sehe zwei “Rollatoren”, aber keine Rollstühle und spreche den Sicherheitsmitarbeiter an. Gelbe Weste, Hoody-Mütze über dem Kopf und einen einfachen Schal vor dem Gesicht. Sein Deutsch geht so. Aber er ist aufmerksam und freundlich. Ich frage nach einem Rollstuhl. Er kümmert sich. Ich bekomme mit, das man so sieben bis acht Rollstühle hätte, aber es sei gerade keiner frei. Es dauert rund zehn Minuten. Dann habe ich den Rollstuhl.
Im Impfzentrum Mannheim sollen täglich bis zu 1.000 Menschen über 80 Jahre geimpft werden. Erstaunlich, dass man davon ausgeht, dass da 7-8 Rollstühle reichen.
Meine Frau kommt und fährt die Freundin vor. Sie quält sich aus dem Auto, ich setze sie in den Rollstuhl und wir reihen uns ein.
Plötzlich ranzt mich der Mann vor mir an: “Können Sie keinen Abstand halten?” Ich bin verdutzt und sage: “Äh, die Regel sind 1,5 Meter, wir stehen mindestens zwei, eher zweieinhalb Meter hinter ihnen.” Er: “Das gibt es doch gar nicht. Verstehen Sie nichts, fünf Meter wären besser oder zehn. Sie…” Ich: “Ich was?”
Was für eine absurde Szene. Wir stehen unter freiem Himmel. Alle haben Masken auf. Der Typ ist etwas älter als ich, ich bin Mitte 50. Im Rollstuhl kauert eine alte Frau ohne jede Regung. Der Oberkörper nach vorne gewölbt. Neben ihm steht eine “Thai-Frau”, die ich auf Ende 30 schätze. Er hat grau-blond-rote Haare und trägt Zopf.
Meine Freundin sagt was, was ich nicht verstehe. Ich beuge mich runter. Wegen der Masken ist das überall zu sehen, dass die Kommunikation extrem anstrengend ist und auch Mitarbeiter des Impfzentrums häufig den Kopf beugen, um verstehen zu können, was die alten Leute sagen.
Der Typ vor mir schert aus, um seinen Abstand einzuhalten und wird extrem nervös, als Fieber gemessen werden muss. Mit einem kontaktlosen Gerät, für das man aber halt bis auf wenige Zentimeter auf Kontakt gehen muss. Ein Mitarbeiter klärt ihn auf, dass nur eine Begleitperson zulässig ist. Die Thai-Frau verschwindet.
Dann geht es durch das Tor. Ausweiskontrolle. Anmeldeformular mit QR-Code. Rund 30 Personen sind in der Schlange. Manche rüstig, andere nicht. Meine Freundin hätte die Distanz von einigen hundert Metern niemals selbständig geschafft. Ich schiebe sie im Rollstuhl und denke drüber nach, was für ein Glück wir haben. Es könnte ja auch schneien, regnen und extrem kalt sein.
Gegenüber dem Eingang ist eine freie Fläche, die mit Gittern abgesperrt ist. Wieso kann man dort nicht parken? Alte Beine – kurze Wege?
Innen sieht dann alles 1,5-Meter-Corona-konform aus. Es gibt Desinfektionsmittelspender, die keiner nutzt. Wer kein Anamnese-Formular ausgedruckt hat, soll das an Tischen machen. Die Billig-Kugelschreiber sind an Juteschnüren angebunden. Die Tische werden nicht regelmäßig desinfiziert.
Dann schiebe ich die Dame durch einen Parcours wie an einem Flughafen. Die städtischen Mitarbeiter sind freundlich, aber wenig bestimmt.
In der Halle geht es zunächst in einen “Informationsraum” – hier wird ein Video abgespielt, dass über die Impfung informieren soll. Natürlich völlig politisch korrekt, sieht man hier gezeichnete Personen, die dunkelhaarig sind, dunkle Haut haben und so weiter. Und die allermeisten sind jung oder mittleren Alters. Die Personen im Raum sind alt, hochbetagt und ich sehe keinen einzigen jungen Menschen als Begleiter. Es sind die Söhne und Töchter oder Freunde, die die Alten begleiten.
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Wir sind rund 40 Leute. Umgeben von Zeltwänden, nach oben offen. 1,5 Meter werden eingehalten. Trotzdem wirkt das skurril, dass man hier für einige Minuten zusammensitzen muss, wenn es doch gilt, möglichst viel Abstand zu halten. Ein Mitarbeiter zieht vor der Kino-Vorstellung noch pflichtbewusst den Vorhang am Eingang zu.
Auf der anderen Seite geht es raus. Man soll sich einen Platz suchen. Ich sehe zwei Schilder mit Rollstühlen. “Barrierefrei” und schiebe die Dame dort hin. Vor uns wird jemand hereingebeten. Dann neben uns. Aber der zweite “barrierefreie” Vorhang geht nicht auf. Warten. Irgendwann geht ein anderer Vorhang auf. Ich schiebe die Freundin rein.
Die Anamnese der Ärztin, die laut Schild Dr. ist, beschränkt sich auf Durchsicht von Ausweis, Anmeldeformular und ausgefüllter Selbstauskunft. Die Frau ist freundlich und nett. Da gibt es nichts auszusetzen. Sie sagt: “Frau Professor”, erkundigt sich, ob ich der Sohn sei. Medizinische Fragen stellt sie keine.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Ärzte für diese Aufgabe 130 Euro die Stunde bekommen. Das sind 1.040 Euro Tagesumsatz bei einem 8-Stunden-Dienst. Für Formulare kontrollieren und ein wenig freundlich sein, erscheint mir das als sehr guter Verdienst.
Woanders habe ich gelesen, dass viele Rentner, möglicherweise jeder vierte, mit gerade mal 1.000 Euro oder weniger pro Monat auskommen müssen. Und alle haben FFP-2-Masken auf oder was Ähnliches. Wie oft sie die tragen? Wer weiß das schon.
Es geht weiter und wir kommen zur Impfung. Ein städtischer und ein medizinischer Mitarbeiter empfangen uns. Sehr freundlich. Der eine Mitarbeiter zieht die Spritze auf. Es folgt der “kleine Picks”. Weil die Ärztin mitkam, werde ich gebeten, doch etwas länger auf die Einstichwunde zu drücken, weil die Freundin wegen einer Herzinsuffizienz Blutverdünner nimmt.
Dann geht es in die letzte Station. Hier soll man eine Viertelstunde warten. Es gibt eine Schlange von rund 30 Personen, die nur langsam vorankommt. Ich kalkuliere das kurz und entscheide, dass wir uns einreihen, weil bis zum Ausgang die 15 Minuten verstrichen sein werden.
Ich halte rund 3 Meter Abstand, dann reiht sich ein Mann vor uns ein. Soll ich den ansprechen? Ich denke an die alte Dame und den ganzen Stress und schweige.
“12:20 Uhr war die Impfung, jetzt ist es 12:32 Uhr”, sagt die Freundin, wir haben noch zwei vor uns. “Was meinst Du”, frage ich? “Naja, nicht dass die uns zurückschicken wegen der Viertelstunde.” Ich: “Keine Sorge. Willst Du noch warten?” Sie: “Nein, die Schwellung kommt eh erst später. Ich kenn mich ja aus.” Ich: “Also, dann lass uns hier rauskommen.”
Am Endpunkt werden nochmals Formulare kontrolliert. Welcher Impfstoff verabreicht wurde, wurde uns nicht mitgeteilt. Dafür höre ich noch eine Unterhaltung mit, bei der sich ein offenbar städtischer Mitarbeiter bei der Kollegin erkundigt, ob alles ok ist. Die sagt: “Ja, geht schon. Keine Ahnung, wo die bleibt. Immer Ärger. Ich mach dann halt später Mittag.”
Auch die Dame ist freundlich, checkt nochmals den zweiten Impftermin. Der Tisch vor uns steht längs. Davor ist eine Plexiglasscheibe. Dahinter steht der Computer. Kein Platz, um darunter Dokumente hin- und herzuschieben, also werden die “nebenraus” hin- und hergereicht – ohne Plexiglasscheibe. Sie sagt noch: “Ich hab da keinen Stress, aber da muss man mit ihr drüber reden.”
Ich denke: “Ich könnte mit ihr auch mal drüber reden, ob es Stress macht, dass sie vor sich eine Plexiglasscheibe hat, die völlig irrwitzig ist, weil sie nebenraus alles erledigt.” Aber ich will hier raus.
Wir sind fertig. Der Security-Mitarbeiter macht die Tür auf. Ich muss den Stock nehmen, um sie soweit zu öffnen, dass ich mit der Freundin im Rollstuhl durchkomme. Der Security-Mitarbeiter reibt sich die Hände. Ihm ist anscheinend kalt. Dann schiebe ich die Freundin zurück zu meinem Auto.
Mittlerweile stehen rund 40 Autos im Halteverbot. Doch die Schlage vor dem Impfzentrum ist immer noch nur 30-40 Personen lang. Ich bringe den Rollstuhl zurück. Der wird weitergereicht. Niemand desinfiziert ihn.
Ich fahre die Freundin nach Hause.
Am Nachmittag meldet sich die alte Dame per Whatsapp: “Ich bin noch am Leben. Ohne Dich hätte ich das nie geschafft.”
Ich weiß echt nicht, wie ich damit umgehen soll. Die hochbetagte Frau hat als Kind einen Weltkrieg überlebt. Als Wissenschaftlerin hat sie die ganze Welt bereist – auch gefährliche Gebiete. Heute ist sie alt und gebrechlich, aber weiter tapfer.
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