Rhein-Neckar/Stuttgart, 20. August 2015. (red/pro) Integrationsministerin Bilkay Öney sieht in unserem Exklusivinterview “erhebliche Auswirkungen auf den Wohn- und Arbeitsmarkt” durch die hohe Zahl von Asylsuchenden. Das Dublinverfahren funktioniert ihrer Meinung nach nicht mehr – sie fordert einen “fairen Ausgleich auf europäischer Ebene” und eine konsequente Rückführung von nicht-Asyl-Berechtigten.
Interview: Hardy Prothmann
Frau Ministerin Öney, Sie haben am Mittwoch mitgeteilt: „Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind die Zahlen der Antragsteller aus den vornehmlich sicheren Ländern massiv gestiegen.” Was meinen Sie mit “vornehmlich” und welchen Zusammenhang sehen Sie? Kommen die Leute also, weil es ihnen hier insgesamt besser geht?
Bilkay Öney: Seit 2007 sind die Asylbewerberzahlen insgesamt stark angestiegen, die Steigerungen speziell aus den Westbalkan-Ländern seit Sommer 2012 liegen sogar im mehrstelligen Bereich. Es besteht insofern ein zeitlicher Zusammenhang mit der Entscheidung des BVerfG. Weitere Ursachen hierfür, insbesondere welche Pull- und Pushfaktoren eine Rolle spielen, müsste auch von Migrationsforschern hinterfragt werden.
Sie sagen weiter: “Parallel dazu sind auch die Zahlen der Asylbewerber aus Krisen- und Kriegsgebieten gestiegen. Wir müssen damit rechnen, dass gut die Hälfte der Flüchtlinge dauerhaft hier bleiben wird, weil sie nicht in ihre Heimat zurück können.” Welche “Hälfte” meinen Sie und über wie viele Menschen aus welchen Ländern reden wir?
Öney: Die Zahl der Syrer ist deutlich gestiegen. Aber auch aus einigen afrikanischen Ländern wie z.B. Eritrea kommen mehr Menschen. Eine hohe Schutzquote haben auch die Flüchtlinge aus dem Irak. Die genauen Zahlen lassen sich ohne Weiteres über die hervorragende Website des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge recherchieren.
Die Hälfte wird hierbleiben
Nach unseren Informationen sind bei über 30.000 Flüchtlingsanträge in Baden-Württemberg gerade mal knapp 1.400 Personen abgeschoben worden. Das sind nicht mal 5 Prozent – wie verhält sich das mit der Aussage, “die Hälfte wird hier bleiben” – das klingt eher nach 95 Prozent werden hier bleiben?
Öney: Nach den Anerkennungsquoten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gehen wir davon aus, dass etwa die Hälfte Schutz als Flüchtling erhält. Abschiebungen, die in die Zuständigkeit des Innenministerium fallen, sind nur ein Teil des Gesamtthemas Rückkehr. Die Landesregierung legt auch Wert auf die Förderung der freiwilligen Rückkehr, die ebenfalls beim Innenministerium ressortiert. Im Übrigen muss die Rückkehr abgelehnter Asylbewerber zweifellos forciert werden.
Sie teilen mit: “Daraus wird deutlich, dass es nicht nur um die Erstaufnahme geht, sondern auch um die Integration dieser Flüchtlinge. Es werden sich erhebliche Auswirkungen auf den Wohnungs- und Arbeitsmarkt ergeben.” Konkretisieren Sie bitte “erhebliche Auswirkungen”.
Große demografische Herausforderung
Öney: Jede demographische Veränderung hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. Bei ohnehin bestehendem Wohnungsmangel wird die Situation auf dem Wohnungsmarkt insgesamt noch schwieriger. Bauen dauert Zeit, Wohnraum wird aber jetzt dringend benötigt. Da die meisten Flüchtlinge arbeiten wollen, aber oft weder ausreichend deutsch sprechen noch über hier anerkannte berufliche Qualifikationen verfügen, bedeutet dies eine große Herausforderung für die Integrationspolitik.
Konkrete Nachfrage: Stehen die Flüchtlinge in Konkurrenz mit sozial schwachen Deutschen?
Öney: Nein. Wer Anspruch auf Leistungen hat, bekommt sie auch. Flüchtlinge nehmen den Deutschen nichts weg. Das gilt auch für Arbeitsplätze. Dass es hier aber Ängste bei Teilen der einheimischen Bevölkerung gibt, will ich nicht bestreiten.
Integration muss mit Migration Schritt halten – sonst gibt es Probleme
“Auch sozialpolitisch muss man sich darauf einstellen. Neben den gut ausgebildeten Flüchtlingen gibt es auch eine Reihe von Menschen, die keine Qualifikation haben. Wenn die Integration nicht Schritt hält mit der Migration, kann es Probleme geben.” Konkretisieren Sie bitte “Probleme”?
Öney: Integration ist ein langwieriger und schwieriger Lernprozess, für beide Seiten. Wenn die Integration nicht gelingt, kann es Schwierigkeiten geben. Die einheimische Bevölkerung, übrigens auch die mit eigenem Migrationshintergrund, erwartet, dass der Hauptteil des Integrationsprozesses von den Zuwanderern selbst geleistet wird. Wenn dies nicht erkennbar geschieht, drohen Konflikte. Das zeigen zum Beispiel Beschwerden von Anwohnern von Flüchtlingsunterkünften, z.B. wenn Müll nicht ordentlich entsorgt wird, wenn Ruhezeiten nicht eingehalten werden usw.
Insbesondere Mannheim ist mit einer enormen Zuwanderung aus Südosteuropa herausgefordert – können Sie Mannheim “beruhigen” oder muss auch Mannheim sich auf noch größere Herausforderungen einstellen?
Öney: Mannheim hat schon immer viel Zuwanderung erfahren. Zuwanderer sind den Mannheimern nicht fremd. Mannheim hat früh gelernt, sich den Herausforderungen zu stellen und pragmatische Lösungen zu finden. In diesen Zeiten kann eine verantwortungsvoll handelnde Regierung keine Kommune mit Blick auf aktuelle und künftige migrationspolitische Herausforderungen verschonen.
Sie teilen mit: “Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass die Integration parallel zur migrationspolitischen Entwicklung läuft. Wichtig ist, dass der anhaltend hohe und unkontrollierte Flüchtlingszugang nach Deutschland abgeschwächt wird.” Was schlagen Sie vor, um diesen “unkontrollierten Zugang” abzuschwächen?
Öney: Es muss alles auf den Prüfstand gestellt und mit Augenmaß gehandelt werden. Dies ist primär Sache des Bundes. Eines aber ist klar: Wenn das Dublin-Verfahren und auch sonst kein Ausgleichsmechanismus in Europa funktioniert, geraten automatisch auch Fragen der Freizügigkeit und der Grenzkontrollen in den Fokus. Dies hat der Bundesinnenminister ebenfalls bereits angedeutet.
Dublin funktioniert nicht mehr
“Das Asylrecht darf nicht zweckentfremdet werden.” Was bedeutet das – sehen Sie einen “Missbrauch” wie er von rechtskonservativen Politikern wie Horst Seehofer immer wieder propagiert wird?
Öney: Der Asylrechtskompromiss im Dezember 2014 wurde teilweise falsch verstanden. Wenn ich mit Menschen vom Balkan spreche, sagen sie mir, sie hätten gehört, dass sie nach drei Monaten arbeiten dürften. Das ist falsch. Asyl ist ein Grundrecht, das politisch Verfolgten gewährt wird. Einige benutzen den Weg über das Asylrecht, um Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Dafür ist das Asylrecht aber nicht vorgesehen.
Sie fordern “einen fairen Ausgleich auf europäischer Ebene” und sagen weiter: “Wie bereits der UN-Flüchtlingskommissar Guterres gesagt hat, kann es nicht sein, dass nur zwei EU-Länder die Mehrheit der Flüchtlinge in der EU aufnehmen.” Wie kann das eigentlich sein? Ist Europa eine Gemeinschaft oder macht jedes Land, was es will?
Öney: Europa zeichnet sich leider durch immer größere nationale Egoismen und weniger Solidarität aus. Das ist ein Problem.
Wie schnell muss das “Dublin-Verfahren” weg oder stärker umgesetzt werden?
Öney: Das Dublinverfahren funktioniert nicht mehr. Eine Chance für ein gerechtes Ausgleichssystem besteht nur dann, wenn in Europa insgesamt die Einsicht gewonnen wird, dass die Flüchtlingsfrage nicht nationalstaatlich, sondern nur gesamteuropäisch gelöst werden kann.
Nordbaden soll entlastet werden
Nach der neuesten Schätzung des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werden 800.000 Menschen erwartet, also weit über 100.000 für Baden-Württemberg. Es fehlen schon auf der Basis von 85.000 Menschen rund 20.000 Erstaufnahmeplätze – wie wollen Sie bis zu 40.000 fehlende Plätze lösen?
Öney: Lösungen gibt es nur im Verbund: Noch mehr Erstaufnahmekapazitäten, schnellere Verfahren, konsequentere Rückführung, Überprüfung möglicher Anreize, aus asylfremden Motiven nach Deutschland zu kommen.
Warum werden bislang rund 70 Prozent der Flüchtlinge im Norden des Südwestens untergebracht? Will man die konservativen ländlichen Gebiete aus Wahlkampfgründen nicht belasten?
Öney: Lange Jahre war in Karlsruhe die einzige Landeserstaufnahmestelle. Das ist historisch gewachsen. In Nordbaden gab und gibt es auch größere Liegenschaften, wie z.B. leer stehende Kasernen. Deshalb wurden dort die Erstaufnahmestellen ausgebaut. Wir streben eine Dezentralisierung an. Deshalb haben wir letztes Jahr innerhalb von zehn Wochen die LEA Meßstetten eröffnet und innerhalb von sechs Monaten die LEA Ellwangen. Weitere LEAs in Freiburg und Schwäbisch Hall sollen folgen, um Nordbaden weiter zu entlasten.
Ihr Ministerium ist neu und in Deutschland einzigartig – seit Wochen erhalten Sie enormen Druck. Glauben Sie an die Zukunft Ihres Integrationsministeriums egal unter welcher Regierung und warum braucht Baden-Württemberg ein solches Ministerium?
Öney: Ich glaube, dass das Thema Integration eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre bleiben wird. Wie die nächste Regierung damit umgehen will, muss sie entscheiden. Diese Frage müssen die Spitzenkandidaten der Parteien beantworten.