Mannheim/Rhein-Neckar, 20. Januar 2018. (red/pro) Aktualisiert. Der Vorsitzende Richter Dr. Joachim Bock hat am Mittwoch die Urteile im „OEG-Schlägerprozess“ verkündet. Ein Mal acht Jahre, ein Mal fünf Jahre, zwei Mal vier Jahre und je ein Mal dreineinhalb und zweieinhalb Jahre Jugendhaft ohne Bewährung. Die sechs Heranwachsenden müssen damit teils sehr lange „hinter Gitter“. Aus unserer Sicht vollkommen zu Recht. Warum, lesen Sie in in einem differenzierten Bericht, den Sie sonst so nirgendwo finden.
Anm.: Der Artikel beginnt nach einem Vorspann, der am 18. Januar veröffentlicht worden war. Der Text über die Urteilsverkündung und weitere und am 20. Januar 18:23 Uhr fertig gestellt. Sie finden eine umfangreiche Darstellung im Text, zusätzliche Recherchen, unter anderem zu Videos, in denen Gewaltszenen wie zum OEG-Überfall als Rap-Video dargestellt sind und in denen es heißt: „Meine Jung sind die, die wo Cops an das Bein pissen…“
Von Hardy Prothmann
Vorab: Journalismus ist eine sehr wichtige Dienstleistung für die demokratische Gesellschaft. Journalismus ist nicht umsonst, sondern kostenintensiv, weil wir Journalisten viel Zeit aufbringen, um Sie verständig und gut zu informieren, damit Sie sich solide eine Meinung bilden können.
Wir bieten seit Ende 2016 einen Teil unserer Informationen gegen Bezahlung an. Sie können pro Artikel bezahlen oder für einen Mediapass ab 60 Euro/Jahr zahlen. Sie können auch über Paypal spenden. Den Großteil für unsere Leistungen verdienen wir mit Werbekunden, die unser Portal und die Aufmerksamkeit nutzen.

Ein massives Aufgebot an Polizeibeamten beschützt einen Prozess gegen heranwachsende Schläger.
Im Dezember hat insbesondere ein Text unseren Server über mehrere Tage extrem belastet: „Ein Richter am Rande des Nervenzusammenbruchs„. Knapp 100.000 Zugriffe innerhalb weniger Tage lagen über der von uns kalkulierten Zugriffskapazität.
Der Vorsitzende Richter Dr. Bock hat die Sitzung immer souverän geleitet, damit da kein falscher Eindruck entsteht. Wir haben die Überschrift zugespitzt, mit einer Anlehnung an einen Filmtitel des großartigen und gesellschaftskritischen Filmemachers Pedro Almodóvar. Die Zuspitzung diente dazu, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, weil dieser Prozess sich sehr besonders entwickelte und nun auch sehr besonders endete.
Wir haben bundesweit über 1.500 Euro in Summe an Spenden erhalten, vor allem über Paypal. Kleine, mittlere und sehr großzügige Beträge. An alle Spender: Das war großartig und wir sind sehr dankbar dafür, weil das Respekt für unsere Leistung zeigt und auch, dass Menschen für guten Journalismus gerne zahlen.
Wir haben im vergangenen Herbst ein Experiment gestartet: Wir wollten erst Geld, bevor wir recherchieren und berichten. Dabei kommen über 200 Euro für ein Thema rein. Auch das ein voller Erfolg – der Text erscheint demnächst.
Ich als Redaktionsleiter des Rheinneckarblog mit rund 30 Jahren professioneller Erfahrung als Journalist, habe den OEG-Schlägerprozess intensiv verfolgt. Stundenlang im Gerichtssaal als Beobachter und mit zusätzlichen Recherchen. Ich wurde bedroht und musste mir oder muss mir Gedanken um meine eigene Sicherheit machen – quasi als „Kollateralschaden“, weil ich eine grundgesetzlich garantierte Aufgabe wahrnehme, nämlich an der Meinungsbildung mitzuwirken. (Vielen Dank hier an das Polizeipräsidium Mannheim, deren Beamte sehr intensiv auf mich aufpassen, Motto: „Isch hab Bolizei“.)

Sicherheitsmaßnahmen wie an einem Flughafen. Jacken werden gescannt, am Ende steht die Leibesvisitation für alle, die an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung teilnehmen wollen.
Andere Medien haben bereits dazu berichtet – nach meiner Auffassung aber nicht gebührend und vor allem nicht analytisch. Das Rheinneckarblog hätte auch die schnelle Nachricht mit den „wesentlichen“ Fakten raushauen können. Das Rheinneckarblog steht aber für solide Recherche, kluge Analyse und eine nachvollziehbare Einordnung mit einer klaren Haltung. Diese Arbeit braucht Zeit und die nehmen wir uns.
Im Vorspann haben Sie die wesentlichen Fakten erfahren: Gericht verurteilt Heranwachsende. Ort und Zeit sind genannt. Das sind die Antworten auf die W-Fragen: Wer? Wann? Wo? Was? Wann? Sie wollen mehr wissen? Dann sind Sie bei uns richtig.
Wir bieten Ihnen mehr. Nämlich genaue Beobachtung. Hintergründe. Einordnung. Ob wir den Text am Donnerstag schaffen, kann ich Ihnen nicht versprechen, es kamen neue, unerwartete Termine rein. Wir bemühen uns. Sonst wird dieser Artikel am Freitag fertig gestellt – sofern nichts Unerwartetes passiert. Sonst Samstag. Fertig ist er, wenn er eben fertig ist.
Das Rheinneckarblog wird sich 2018 verändern: Wir werden viel mehr hintergründige Berichterstattung anbieten, weil wir durch die Zugriffe sehen können, dass insbesondere diese Artikel teils extrem hohe Zugriffe haben. Weil sie exklusiv sind. Das freut uns sehr, weil Sie, unser Publikum, diese Arbeit offenbar sehr schätzen.
Der 13. Prozesstag vor dem Landgericht Mannheim ging mit harten Strafen für sechs heranwachsende Schläger zu Ende. Aber auch mit äußerst eindringlichen und aus unserer Sicht auch sehr beeindruckenden Worten des Vorsitzenden Richters Dr. Joachim Bock. Und wir haben viele Beobachtungen gemacht, die sehr, sehr nachdenklich machen müssen.
Eine angemessene Darstellung unserer Informationen braucht Zeit zum Nachdenken. Aus Respekt vor dem Rechtsstaat, aus Respekt vor dem Vorsitzenden Richter und der Kammer, aus Respekt vor den vielen Polizei- und Justizbeamten, die diese Verhandlung schützen mussten und auch aus Respekt vor den Opfern – und vor den Tätern. Denn es sind Menschen und der Rechtsstaat behandelt sie so – egal, ob sie das verstehen oder nicht. Das ist das Hervorragende am Rechtsstaat.
Keinen Respekt muss man dem Publikum entgegenbringen. Das war überwiegend vulgär, aggressiv und unanständig. Ein Mob, der nur durch ein massives Polizeiangebot in Schach gehalten werden konnte.

Einzug der Großen Jugendkammer vor der Verkündung der Urteile.
Respektare heißt „zurückschauen“ – das soll auch für unsere „Nachricht“ gelten, die „nach richtet“.
Sie können uns sehr motivieren, indem Sie schon jetzt ihren Obolus leisten. 59 Cent für eine Top-Story, für die wir hart und ehrlich arbeiten. Sie zahlen jetzt und haben damit Zugriff auf diesen Artikel, der erweitert wird. Sie können auch später zahlen, aber Sie müssen zahlen, weil Sie damit unsere Arbeit wertschätzen. Tun Sie das nicht, erfahren Sie nicht, was wir berichten. Ihre Entscheidung.
Im Gegensatz zu unserem Experiment „vorher zahlen“, schreiben wir diesen Artikel unabhängig von zuvor eingegangenen Zahlungen. Auch das ein Experiment. Wir zählen auf Sie. Rund 300 Euro sollten drin sein (21. Januar, 14:10 Uhr: 127,11 Euro). Das wären gut 500 zahlende Leser. Das hatten wir noch nicht für einen einzelnen Artikel. Aber wir arbeiten dran.
Und wir bieten Ihnen ein Live-Erlebnis. Der Artikel wird geschrieben und Sie können diesen bei der Entstehung lesen. Unfertig. Sie können miterleben, wie er wächst. Jedes Mal, wenn Sie ihn aufrufen. Wenn „fertig“ drüber steht, ist die veröffentlichte Fassung erfüllt.
Klicken Sie sich also immer wieder ein. Soviel Transparenz bietet Ihnen kein Medium in Deutschland und weltweit. Sie können bis „fertig“ alle Zwischenfassungen speichern. Es wird Leute geben, die uns „überführen“ wollen – kein Problem. Wozu? Einem Textentwicklungsprozess zuzuschauen? Sehr spannend.
Der Text wird sehr, sehr lang werden. Ist also nur für Leser/innen interessant, die tief einsteigen wollen. Die in der Lage sind, auch lange Texte zu verstehen. Genau die wollen wir. Die anderen dürfen sich an bekannte Medien der Region halten, wo skandalisierte Überschriften und kurze Texte gegebene Bedürfnisse befriedigen.
Danke vorab.
Von Hardy Prothmann
Heute ist Urteilsverkündung. Einige der sechs heranwachsenden Angeklagten machen sich Hoffnungen auf Bewährungsstrafen. Sie werden massiv enttäuscht werden. Bewährungsstrafen, also eine „Verurteilung in Freiheit“ wird keiner erhalten. Alle müssen hinter Gitter.
Alle haben längst eine „Bewährung“ verspielt, also die Chance, als Verurteilter trotzdem auf freiem Fuß zu sein. Sich in Freiheit zu beweisen, dass man mit Freiheit verantwortlich umgehen kann.
Bevor es los geht, müssen alle Besucher durch eine umfangreiche Kontrolle. Neben der schon gewohnten „Körperkontrolle“ mit intensivem Abtasten und einem Metalldetektor, ist heute auch ein Scanner im Einsatz. Im Saal sind rund 30 Polizeibeamte vom Einsatzzug Mannheim sowie acht Justizbeamte.
Heranwachsende Räuber und Gewalttäter
Angeklagt waren Furkan D., Jermaine L., Özcan K., Taufik M., Filmon N., Eyyüpcan P.. Allesamt „schmale Hemden“. Zur Zeit der vorgeworfenen Taten im Februar und März 2017 erst 17 und 18 Jahre alt. Alle haben einen Migrationshintergrund, türkisch, arabisch, osteuropäisch, afrikanisch. Alle sind Gewalttäter und einige Räuber.
Der Verteidiger von Taufik M. meint bei seinem Plädoyer, der Migrationshintergrund spiele keine Rolle. Auch Bildungsferne nicht. Wer das erwähne, hier meint er Medien, vermutlich sogar das Reinneckarblog.de, agiere rechtspopulistisch.
Auch für Strafverteidiger gilt die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz. Die schützt auch dumme Meinungen wie die des Strafverteidigers Thorsten Schulte-Günne. In früheren Berichten hatten wir den Mann positiv herausgestellt – sein Plädoyer an diesem Tag ist unterirdisch. Er zieht die Ermittlungsarbeiten in den Dreck, wie auch die journalistische Berichterstattung. Dass er nicht differenziert, nehmen wir ihm persönlich übel. Mit „rechtspopulistisch“ könnten auch wir gemeint sein. Vermutlich meint er uns, denn nur das Rheinneckarblog hat explizit darauf hingewiesen, dass hier ein multikultureller Haufen von Straftätern angeklagt ist, der eben keine Bereicherung der Gesellschaft darstellt. Wenn eine solche Feststellung rechtspopulistisch in den Augen eines Anwalts aus dem multikulturellen Freiburg sein sollte, wo gerade ein hinterhältiger Mord verhandelt wird, dann ist das halt so. Die Meinung ist eben frei, auch die dumme.
Acht Jahre statt Freispruch
Am Ende wird er Freispruch für seinen Mandanten Taufik M. fordern – doch der wird mit acht Jahren die vermeintlich härteste Strafe bekommen. Ist damit Herr Schulte-Günne ein Dummschwätzer? Nein, ist er nicht. Er hat ein Plädoyer vorgetragen. Er hat versucht, seinen Mandaten zu verteidigen. Er ist damit halt gescheitert. Wie sein Mandant, obwohl der sehr intelligent ist. Aber nicht intelligent genug, um die Kammer unter Vorsitz des Richters Bock von einer vermeintlichen Unschuld zu überzeugen.
97 Briefe hat Taufik M. an das Gericht geschickt. Die Richter für befangen erklärt, seine Anwälte abgelehnt. Soviel brachte der Prozess hervor: Er war, anders als die Staatsanwaltschaft zunächst meinte, eben nicht der Haupttäter. Er hat nicht versucht, dem Opfer auf den Kopf zu springen.
Klar ist aber auch: Er hatte eine Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren zu verbüßen, die um eineinhalb Jahre verlängert worden war, weil er einem Mithäftling eine brennende Zigarette im Gesicht ausgedrückt hatte. Und jetzt ist die Strafe nochmals auf acht Jahre angehoben worden – von denen er freilich 3,5 Jahre bereits abgesessen hat. Wird ihm die Untersuchungshaft angerechnet, sind also vier Jahre und zwei Monate schon verbüßt.
Aggression als Normalzustand
Nach der 7/12-Regel könnte er nach vier Jahren und acht Monaten wieder auf Bewährung freikommen. Doch das wird erheblich von seinem Verhalten abhängen – sein Konto ist ausgereizt. Und mutmaßlich hat er seine erste Bewährung nicht genutzt, sondern sich an der gemeinschaftlichen, schweren Körperverletzung in der OEG beteiligt. Das dürfte ein wichtiges Indiz sein, ihm eine längere „Erziehungszeit“ hinter Gittern zu „gönnen“.
Im Rückblick wurden Raub und gefährliche Körperverletzung verhandelt, also aggressive Delikte. So zeigten sich auch einige der nun Verurteilten aggressiv. Insbesondere Jermaine L. der ständig böse Blicke in den Raum warf, so Eyyüpcan P., der bei der Aussage des Opfers aufsprang und wilde Beleidigungen ausstieß wie auch Taufik M., der immer und immer wieder die Ermittlungen und das Gericht anzweifelte und durch aggressive Fragen auffiel.
Diese aggressive Atmosphäre korrespondierte mit dem Publikum, das ständig störte, aufsprang, ebenfalls Beleidigungen lauthals in den Raum rief und nach tumultartigen Zuständen durch ein massives Polizeiaufgebot in Schach gehalten werden musste. Das Opfer soll durch die Mutter von Taufik M. vor dem Gebäude bedroht worden sein. Am ersten Verhandlungstag gab es einen Raub und fast eine Schlägerei, weil die Freundesgruppen sich offenbar nicht alle gut gesinnt sind. Es kam sogar fast zum Versuch einer Gefangenenbefreiung beim Abtransport der Angeklagten.
Und nicht nur das: In der Weihnachtszeit gingen fünf Heranwachsende auf eine Polizeistreife los. Zunächst wurden die zwei Beamten beleidigt, die wollten dann eine Personalienfeststellung machen, diese eskalierte. Dadurch wurde ein Großeinsatz ausgelöst, 18 Streifenwagen waren im Einsatz. Unter den Angreifern waren nach unseren Informationen der jüngere Bruder von Taufik M. sowie mindestens einer der Freunde, die auch die Gerichtsverhandlung verfolgten. Gegen einen der fünf erging Haftbefehl.
Es wurden massive Vorwürfe gegen die Polizei erhoben – die Beamten seien auf die Jugendlichen losgegangen. Mittlerweile liegen 17 Zeugenaussagen vor, die die Version der Polizei bestätigen und keine einzige gegenteilige. Ein Vater kündigte Strafanzeigen an – es blieb bei der Ankündigung.
Respekt, Empathie und Regeln
Zu würdigen ist die wirklich vorbildhafte Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters Dr. Bock. Unter all diesen widrigen Umständen fiel es ihm manchmal sichtbar nicht leicht, die Ruhe zu bewahren. Doch ist das überzeugend gelungen.
Respekt, Empathie und die Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, sind die Bedingungen für ein gesellschaftliches Zusammenleben,
beginnt der vorsitzende Richter Dr. Joachim Bock seine Urteilsbegründungen für die Haftstrafen nach Jugendstrafrecht und fährt fort:
Das habe ich hier nicht erlebt, weder von den Angeklagten, noch beim Publikum. Ich sehe hier erheblichen Nachholbedarf. Auf Respekt legen Sie selbst allergrößten Wert, das haben Sie in alle Deutlichkeit gezeigt und sogar massiv eingefordert.
Der Richter macht eine Pause, schaut in die Runde der Angeklagte und betont:
Das lässt mich hoffen. Denn zumindest den ersten Teil meines einleitenden Satzes haben Sie offenbar bereits verstanden. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Sie können Ihr Leben ändern.
Ob die Angeklagten, den ironischen Seitenhieb verstehen? Vermutlich nicht. Ebensowenig den gezielten Einsatz von „unverbesserlich“ und „Optimist“. Sind die Angeklagten „unverbesserlich“? Schaffen Sie es auch „optimistisch“ zu werden, also positiv nach vorne zu schauen?
Der Vorsitzende Richter fasst den Hintergrund zusammen:
Wir konnten im Video aus der S-Bahn sehen, wie sie einen jungen Mann geschlagen, gequält und gedemütigt haben. Und Sie hatten daran Spaß und Freude. In der OEG haben Sie gemeinsam auf einen Mann am Boden gewalttätig eingewirkt. Von einem Tötungsvorsatz geht das Gericht allerdings nicht aus. Viele Zeugenaussagen waren nicht glaubhaft und widersprüchlich, trotzdem war es möglich, die Tatvorwürfe im Kern zu rekonstruieren. Die Offenheit der Verhandlungsatmosphäre verringerte sich durch den notwendig gewordenen Schutz. Geschadet haben sich die Angeklagten damit selbst. Wir erkennen bei allen einen enorm hohen Erziehungsbedarf. Das springt bei den Lebensläufen, den Vorstrafenregistern und den aktuellen Taten förmlich ins Auge.
Dr. Joachim Bock spricht die gesamte Zeit sehr konzentriert, sehr ruhig und ist der lebendige Kontrast zur Aggressivität der jungen Männer. Hier im Gericht hat die Kammer, der er vorsitzt, die Macht – und wird ohne Häme und ohne Vergnügen ausgeübt, obwohl harte Urteile gefallen sind, die der Richter aber mit einer milden Ausstrahlung und einem individuellen Einfühlungsvermögen begründen wird.
Er beginnt mit Furkan D.:
Sie sind auf den ersten Blick ein sympathischer junger Mann. Es gibt aber auch ein anderes Gesicht. In ihren Briefen haben Sie aber zum Ausdruck gebracht, dass Sie an sich arbeiten wollen. Vier Jahre Haft sind eine lange Zeit. Sie können das mit Schule und Ausbildung schaffen, früher entlassen zu werden, um ein straffreies Leben zu führen. Sie müssen aber beweisen, dass Sie hart an sich arbeiten.

Bei 1:41 sieht man einen ansatzlos getretenen Kick zum Kopf – in einer Straßenbahn. Vermutlich ging das Opfer Mehmet E. durch so einen Kick zu Boden, wo fünf der Angeklagten über ihn hergefallen sind. Jermaine L. trat dann gegen den Kopf des am Boden liegenden Opfers, „wie gegen einen Fußball“. Einige aus dem Publikum werden mit Sicherheit in Zukunft auf der Anklagebank Platz nehmen dürfen.
Zu Jermaine L., der als „Haupttäter“ gilt und dem Opfer gegen den Kopf getreten hatte und kurz vor dem OEG-Urteil vom Landgericht Bensheim bereits zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden war:
Ihr Lebenslauf hat mich beeindruckt, weil Sie mit der Ihnen widerfahrenen Gewalt eigentlich wissen sollten, wie solche Taten auf jemanden wirken, der Opfer ist. Trotzdem verhalten Sie sich selbst so. Sie müssen Ihre Aggressivität zu überwinden lernen. Leicht wird das nicht. Damit Sie das nicht falsch verstehen – man hätte gegen Sie eine deutlich höhere Strafe verhängen können. Sie haben die Möglichkeit zur Umkehr. Arbeiten Sie an sich.
„Passiert halt“ als Tiefpunkt des Verfahrens
Bei Özcan K., der zweieinhalb Jahre erhält, verdüstert sich die Miene des Richters:
Für mich sind Sie der Tiefpunkt dieses Verfahrens. Weil Sie auf die Fragen, warum Sie zugeschlagen haben, mit „Passiert halt“ geantwortet haben. Es „passiert halt“ nicht einfach so, dass man einem anderen Menschen mit der Faust ins Gesicht schlägt. Sie glauben doch nicht etwa, dass jemand, der eine solche Haltung vor Gericht zeigt, noch Hoffnung auf Bewährung hat? Das ist ausgeschlossen.
Filmon N. erhält dreieinhalb Jahre, zuvor bat seine Mutter um Milde:
Eritrea ist ein unsicheres Land. Ihre Mutter ist aufgebrochen, als sie noch ein kleiner Junge waren, um ihnen ein gutes Leben und Stabilität zu bieten. Sie haben ihre Mutter schwer enttäuscht. All das, was Sie zeigen, die vielen Vorstrafen, die Sie angesammelt haben, verdienen keine Bewährung. Dreieinhalb Jahre Haft sind viel, aber angemessen.
Nichts hören, nichts lernen
Eyyüpcan P. erhält vier Jahre und zeigt im Gericht, was der Vorsitzende Richter mit erheblichem Erziehungsbedarf beschreibt:
Ihre Gewalterfahrungen haben Sie nicht dazu gebracht, sich anders zu verhalten. Das muss einen betroffen machen, dass jemand wie Sie offensichtlich Spaß daran hat, Gewalt auszuüben. Sie müssen jetzt viel tun, um das Ruder herumzureißen.
P. ruft etwas in den Raum, Dr. Bock erwidert, er solle zuhören und etwas lernen. Aggressiv und trotzig sagt P.:
Ich will aber nicht zuhören und ich will auch nichts lernen.
Der Richter fährt fort:
Es gibt noch ein weiteres Verfahren gegen Sie, auch hier gilt zunächst die Unschuldsvermutung.
Möglicherweise sei der zusätzliche Strafrahmen überschaubar. Nach dieser Reaktion und der zuvor in der Verhandlung gezeigten Aggressivität ist das eher unwahrscheinlich. Bis September war P. auf freiem Fuß, kam aber wegen einer erneuten räuberischen Erpressung in einer Straßenbahn dann in Untersuchungshaft. Das wird nicht strafmildernd wirken.
Intelligenz ist ohne Vernunft nichts wert
Der Angeklagten Taufik M. erhält acht Jahre. Dr. Bock hatte ihn in der Reihenfolge übersprungen, möglicherweise, um ihm die Chance zu geben, die Begründungen der anderen zu verfolgen:
Sie sind eine interessante Persönlichkeit. Eigentlich gehören Sie hier nicht her. Sie sind sehr intelligent, aber ich darf Ihnen sagen: Intelligenz ist ohne Vernunft nichts wert.
Es ist erstaunlich, wie der Richter in seinen Ansprachen seine einleitenden Worte wirken lässt: Respekt, Empathie und das Einhalten von Regeln. Er lässt sich individuell auf die Delinquenten ein, versucht jeden persönlich abzuholen, gerade Taufik M., der sich schnell provoziert und benachteiligt fühlt. Bei ihm hebt der Richter dessen Intelligenz hervor, entwertet sie aber, was unweigerlich als Provokation empfunden werden muss, um dann aber einen Ausweg zu zeigen – nämlich Vernunft. Vielleicht ist dem Richter gelungen, dieses Samenkorn einzupflanzen, dass Taufik M. beginnt, über Vernunft nachzudenken. Intelligent genug ist er allemal.
Der Richter, das Furkan D., Jermaine L. sowie Taufik M. die Kosten für Anwalt des Nebenklägers zu tragen haben: „Ob da mal was kommt, muss man abwarten.“
Wichtig zur Einordnung: Taufik M. hat keine acht Jahre für seine Tatbeteiligung erhalten. Seine bestehende Strafe von fünf Jahren wurde auf acht Jahre erweitern, unterm Strich bekam er also nur drei Jahre. Jermaine L. wurde bereits zu neun Monaten verurteilt – gemessen an den fünf Jahren Haft, hat er also mit vier Jahren und drei Monaten die höchste Strafe erhalten.
Mob und Spaßkämpfchen
Andere Medien berichten von einem „Aufschrei“ und bitter weinenden Angehörigen. Das ist übertrieben dargestellt. Es gab keinen Aufschrei, sondern nur einen respektlos klatschenden Taufik M.. Das Klatschen klingt höhnisch und einsam im Gerichtssaal. Ein paar Personen, meist Frauen, weinen.
Die Verurteilten Furkan D., Jermaine L., Taufik M. und Eyyüpcan P. werden in Handschellen abgeführt. Özcan K. und Filmon N. dürfen nochmals in die Freiheit, bevor sie ihre Haftstrafen antreten müssen.
Vor dem Landgericht rotten sich gut 20 junge Männer zusammen. Die starken Polizeikräfte haben diese genau im Blick und gehen in Position. Man spürt, dass von dieser Gruppe nichts Gutes ausgeht. Es wird gut eine halbe Stunde dauern, bis der Pulk sich auflöst.
Währenddessen scherzt Filmon N. breitbeinig vor dem Gericht mit Kumpels und liefert sich mit einem, man staune, ein Spaßkämpfchen. Dann lacht er. Strahlt Zuversicht und gute Laune aus. Strotz vor Kraft. Offenbar hat er nicht verstanden, dass eine lange Gefängnisstrafe auf ihn wartet. Wie Richter Dr. Bock zutreffend feststellte – es besteht erheblicher Erziehungsbedarf