Ludwigshafen/Hamburg, 20. Oktober 2016. (red/cr) Die Festspiele Ludwigshafen wurden in diesem Jahr mit einem brisanten Theaterstück eröffnet. Der Regisseur ist jung und unkonventionell, die Romanvorlage stammt von einem Literaturnobelpreisträger. Das Thema sind vordergründig Konflikte in einer türkischen Kleinstadt zwischen Islam und Säkularisierung. Aber eigentlich geht es um viel mehr. Es geht um uns. Alle.
Anm. d. Red.: Wir können leider keine Fotos zeigen. Wir hätten selbst Fotos gemacht. Das war nicht erlaubt. Wir hätten Fotos übernommen – die waren nur kostenpflichtig zu erhalten. Das Thalia-Theater hat also für diese fotolose Situation gesorgt. Wie schade.
Von Christin Rudolph
Sieben Menschen sitzen an einem Tisch auf einer Bühne. Sie sehen sich an. Sie haben gesummt, gesprochen, geschrien und geweint. Angeklagt und verurteilt, gezweifelt und gehofft, geträumt und resigniert.
Jetzt schweigen sie. Sie sehen sich nur noch an.
“Und jetzt?”
Ein Zuschauer ruft das, was alle denken. Was die Figuren des Theaterstücks beschäftigt. Was die Gesellschaft beschäftigt. Was die Zuschauer denken.
Es geht um die Sache, nicht um die Geschichte
Sie haben soeben ein Theaterstück gesehen, das auf dem Roman “Schnee” des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk beruht. Jedoch wurde die Handlung nicht einfach wiedergegeben oder nachgespielt.
Ja, das Stück spielt in der Türkei und es kommen kopftuchtragende Frauen und bärtige Männer vor. Doch sie treten nicht kostümiert auf und spielen eine bestimmte Rolle, eine Person. Sie treten abstrakt auf.
Es geht nicht um eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende. Es geht viel mehr um die Fragen, die gestellt werden. Darüber wird gesprochen, sehr viel abstrahiert. Es fallen keine Worte wie “Allah” oder “Islam”. Es geht um Menschen.
“Bedeutet Säkularismus, ohne Religion zu sein?”
Es geht um Muster in der Gesellschaft, ob von politischen oder religiösen Kräften getrieben. Und wie die Presse Entwicklungen beeinflusst.
Manche Vorfälle hat es doch nur gegeben, weil wir es vorher zur Meldung gemacht haben – das heißt moderner Journalismus!
Es geht um Zwänge und Druck. Anhand exemplarischer Szenen werden Ausschnitte ganzer Weltbilder verdeutlicht.
Etwa eine Schule, die von der Regierung des Auftrag bekommt, Mädchen mit Kopftuch den Zutritt zu verwehren: Innerhalb eines Monologes wechselt die Sichtweise des Zuschauers von einer die Säkularisation und damit das Ablegen des Kopftuches fordernden Haltung hin zu einer, die es als grausam empfindet, junge Mädchen vor die Wahl zwischen Kopftuch und Bildung zu stellen.
Wir und der Fremde
Dieser Konflikt setzt eine Spirale der Gewalt in Gang. Die Mädchen bringen sich um, der Direktor der Schule wird ermordet.
Dabei beginnt der Zuschauer, an jeder Position zu zweifeln. Sogar an der eigenen. Eine Figur sagt:
Der Fremde verurteilt uns.
Und das tut man. Das wird jedem bewusst. Man hat sie verurteilt, sowohl die Figur des Theaterstücks als auch die realen Menschen, für die die Figur steht.
Zwischen Wahnsinn und Komik
Doch es stehen sich nicht nur zwei Parteien gegenüber, das Fremde und das Bekannte, Säkulare und Religiöse, Kopftuch oder nicht, Westen und Osten.
Keine der Figuren ist sicher. So klagen sie sich gegenseitig an. Das ist so absurd, dass es stellenweise lustig wirkt. So zeigt eine der Figuren auf jemanden im Publikum und sagt:
Ich mag ja ein wenig paranoid sein, aber das heißt nicht, dass er kein Spitzel ist.
Oder Aussagen, die selbstverständlich klingen und unkommentiert stehengelassen werden:
In unserer Gesellschaft haben Atheisten immer Platz. Außer auf dem Friedhof, das stört die Seelen der Gläubigen.
Doch im nächsten Moment sind alle Figuren wieder todernst. Eine der Figuren wird beschuldigt, sich mit “Hans Hansen”, einem typisch deutschen Journalisten eingelassen zu haben.
Jeder hat einen Anteil
Von beiden fühlt sich der Rest der Gruppe verraten. Sie sind keine “religiösen Extremisten”.
Spricht Hans Hansen mit uns oder nur über uns?
Und plötzlich treffen die Frage jeden Einzelnen.
Wird sich Hans Hansen gegen einen anti-demokratischen Militärputsch erheben oder ist das egal? Zu weit weg?
Fast zwei Stunden Wechselbad der Gefühle, Meinungen, Weltbilder und Erzählweisen. Und am Ende gibt es keine Lösung, keinen Retter, keine Erklärung und keinen Sieg. Nicht mal ein “richtiges” Ende.
Und jetzt?
Die Schauspieler sitzen am Tisch auf der Bühne, die Zuschauer auf ihren Plätzen im dunklen Saal. Sie schweigen. Sie schweigen sich an. Alle.
Als Zuschauer fragt man sich: Ist das jetzt das Ende? Was wird von uns erwartet? Sollten wir etwas tun oder lieber abwarten?
Mehrmals wird hier und dort applaudiert, doch die Darsteller reagieren darauf nicht. Es regt sich Getuschel, Zwischenrufe werden laut. Dann geht plötzlich das Licht aus und wieder an, alle Zuschauer applaudieren und die Darsteller verbeugen sich.
Pfalzbau zeigt Werkschau des Thalia Theaters
Die Reaktionen waren krasser als in Hamburg, Zwischenrufe haben wir sonst nie,
sagte nach der Vorstellung Steffen Siegmund, einer der Darsteller im Stück des Thalia Theaters Hamburg.
Im Thalia Theater spielen er und seine Kollegen meist vor 200 Zuschauern, im Theater im Pfalzbau waren es am vergangenen Freitagabend etwa 600. Stücke des Thalia Theaters Hamburg werden in den kommenden Wochen öfter im Pfalzbau zu sehen sein. (Anm. d. Red.: Allerdings keine Fotos – und selbst, wenn das Thalia-Theater die regide Haltung ändern würde, würden wir die “Tradition pflegen”. Sie werden auf lange Zeit kein Foto des Thalia-Theaters auf Rheinneckarblog.de finden.)
Denn die Vorstellung von “Schnee” eröffnete die 12. Festspiele Ludwigshafen, bei denen unter anderem eine Werkschau des Thalia Theaters mit fünf weiteren Stücken gezeigt wird.
Im Gespräch mit den “Machern”
Bis zum 04. Dezember sind außerdem 23 andere Produktionen aus Tanz, Ballett und Schauspiel sowie Konzerte im Theater im Pfalzbau zu sehen.
Zusätzlich zu den Vorstellungen gibt es immer wieder Stückeinführungen und Gespräche. So tauschten sich etwa bei der Eröffnung der Festspiele Pfalzbau-Intendant Tilman Gersch mit dem Regisseur des Stückes “Schnee”, Ersan Mondtag, und dem Dramaturgen Matthias Günther aus.
Gersch sagte in seiner Eröffnungsrede, der Theaterraum solle “Meinungen teilen, gegenüberstellen und aushalten”.
Vielgelobter junger Regisseur
Demnach passte “Schnee” als Eröffnungsstück für die sehr international aufgestellten Festspiele. Ersan Mondtag wurde in Berlin als Sohn türkischer Eltern geboren. Ausgezeichnet wurde er zum Nachwuchsregisseur des Jahres.
Aktuell lebt er in der Schweiz. Er erzählte bei der Eröffnung, dass er weder die Haustür noch sein Fahrrad abschließe, es sei ein “glattgebügeltes Land” in dem es praktisch keine Kriminalität gebe. Daher müsse er nicht bis in die Türkei reisen, um kulturelle Unterschiede zu erfahren.
Als ich heute in Mannheim war, gab es in der S-Bahn erstmal eine Schlägerei. Und dann bin ich nach Ludwigshafen rüber gefahren…
Es geht um Gemeinschaft
Großer Applaus vom Publikum. Mondtag ist noch jung und schien im Gespräch anfangs oft unsicher. Er trug ein hippes Hemd und eine Basecap, womit er auch optisch einen Gegensatz zu Herrn Gersch bildete.
Doch als es im Gespräch um Gesellschaftspolitik ging, taute er auf.
Wir haben versucht, kein Stück über die muslimische Gemeinschaft, keine Stück über die Türkei, sondern eine Stück über uns zu machen. Religion ist nur eine Form von Gemeinschaft.
Die Debatte fördern
Dramaturg Matthias Günther sagte:
Wir müssen debattieren. Es bleibt uns nicht anderes übrig.
Bereits vor der Vorstellung hatte er das Publikum mit einer “Schnell-Stückeinführung” gewonnen. Da die Gruß- und Dankesworte von Intendant Tilman Gersch und Kulturdezernentin Cornelia Reifenberg etwas zu spät kamen und etwas zu lang gerieten, fiel sie sehr kurz und knackig aus.
Gelungene Eröffnung
Die Kernaussagen:
Wenn Roman drauf steht hat der Zuschauer meistens Angst. Aber es wird nicht so wie das Leseerlebnis. Seien Sie nicht verwirrt, wenn Sie nicht alles verstehen.
Tatsächlich war nicht alles verständlich. Doch auch ohne Kenntnis der Romanvorlage war verständlich, worum es geht.
Um die Fragen einer jeden Gesellschaft. Daher werden der bereits zehn Jahre alte Roman und das junge Stück des jungen Regisseurs wohl so schnell nicht an Aktualität verlieren.