Weinheim, 20. November 2015. (red/ms) Weinheim braucht dringend Wohnraum für anerkannte Flüchtlinge. Die Verwaltung hat Standorte für Neubauten vorgeschlagen, die Anwohner sind – wie immer – aufgebracht und der Gemeinderat will sich – wie immer – noch nicht festlegen. Jetzt soll eine Standortfindungskommission die Entscheidungsfindung erleichtern. Doch viel Zeit bleibt nicht: Weinheim steht unter Zugzwang. Spätestens in drei Wochen muss es zu einem Beschluss kommen. Kann die Kommission in diesem knappen Zeitrahmen überhaupt beschlussreife Alternativen erarbeiten?
Von Minh Schredle
Er könne Vertagungswünsche „ein Stück weit nachvollziehen“, sagte Oberbürgermeister Heiner Bernhard (SPD) vor dem Einstieg in die inhaltliche Debatte. Doch Zögerlichkeit sei fehl am Platz:
Grundsätzlich sind ja immer alle dafür. Aber sobald es konkret wird, gibt es plötzlich Entscheidungsschwierigkeiten. Das können wir uns nicht mehr lange leisten.
Weinheim muss Platz für Flüchtlinge schaffen. Das ist eine Pflichtaufgabe: Obdachlosigkeit muss mit allen Mitteln vermieden werden – zur Not mit Beschlagnahmungen. So weit will in Stadtverwaltung und Gemeinderat niemand gehen. Also müssen zügig neue Kapazitäten geschaffen werden.
Die größten Herausforderungen stehen noch bevor
Um Verwirrung vorzubeugen: In Weinheim leben sowohl Flüchtlinge in vorläufiger Erstunterbringung, als auch Flüchtlinge in kommunaler Anschlussunterbringung. Für die erste Gruppe – aktuell etwa 350 Personen – ist der Rhein-Neckar-Kreis zuständig. Die Menschen befinden sich noch im laufenden Asylverfahren, über ihre Bleibeperspektive ist noch nichts Endgültiges entschieden.
Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Flüchtlinge, die anerkannt wurden oder „geduldet“ sind. Die Anschlussunterbringung ist eine Aufgabe der Städte und Gemeinden. Sie müssen dafür sorgen, dass alle Flüchtlinge, die ihnen vom Kreis zugewiesen werden, einen zumutbaren Wohnraum finden.
Somit stehen die wirklichen Herausforderungen den Kommunen erst noch bevor – bei einem großen Teil der Flüchtlinge in Deutschland wurde bislang noch nicht über den Asylantrag entschieden. Klar ist aber, dass sich Städte und Gemeinde bereits jetzt darauf einstellen können, in den kommenden Jahren deutlich mehr preiswerten Wohnraum zur Verfügung stellen zu müssen.
Das könnte – ohne finanzielle Unterstützung durch Land und Bund – viele Gemeinden überfordern. Die Baukosten sind in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen. Ohne Fördermittel ist sozialer Wohnungsbau in Baden-Württemberg schlicht nicht rentabel. Und die Förderprogramme sind rar.
Wohnungsmangel wird sich verschärfen
Zu Beginn des Jahres ging Weinheim noch davon aus, 2016 für etwa 50 Personen eine Anschlussunterbringung ermöglichen zu müssen. Stattdessen muss sich die Stadt jetzt auf rund 180 Menschen einstellen. Doch wo sollen die untergebracht werden?
Der freie Wohnungsmarkt in Weinheim ist angespannt. Welche Alternativen gibt es? Aktuell werden fünf städtische Wohnungen zur Flüchtlingsunterbringung in Stand gesetzt. Die bieten Platz für 25 bis 30 Menschen. Im Oktober beschloss der Gemeinderat außerdem, für rund 1,2 Millionen Euro Container-Anlagen zu kaufen, in denen bis zu 90 Personen unterkommen sollen. Addiert man die Zahlen, wird deutlich, dass sich Weinheim auf mehr als 180 Personen einstellt.
Abgesehen davon, dass unklar ist, wann die Container geliefert werden können – es liegt ein internationaler Engpass vor -, fehlen mindestens 60 weitere Plätze. Diese müssen noch 2016 verfügbar werden. 2017 werden weitere Flüchtlinge Wohnraum brauchen. Und zwar noch deutlich mehr Menschen als im kommenden Jahr, wohl mindestens doppelt so viele. Also muss es schnell gehen.
Zeit für Neubauten?
Die Weinheimer Verwaltung will rechtzeitig Neubauten errichtet haben. Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, denn der Zeitplan ist taff. Die Gebäude sollen jeweils Platz für 40 bis 50 Menschen bieten – für solche Projekt sind mindestens sechs Monate Bauzeit einzuplanen, eher neun, und auch das ist noch optimistisch. Hinzu kommt die baurechtliche Bürokratie, die wiederum einige Monate für Formalitäten verschlingt. Oberbürgermeister Bernhard sagte deshalb:
Wir müssen unbedingt noch in diesem Jahr zu einer Entscheidung kommen.
Doch selbst wenn das dem Gemeinderat in der kommenden Sitzung gelingen sollte, wird es zeitlich sehr eng. Klar muss jedem sein: Viel Raum für langwierige Planungsprozesse ist schlichtweg nicht gegeben. Um handlungsfähig zu bleiben, ist Eile angesagt.
Turnhallen-Zweckentfremdung durch die Stadt?
Die Verwaltung hat über die vergangenen Wochen 34 Grundstücke im Besitz der Stadt auf ihre Tauglichkeit überprüft, dort Flüchtlingsunterkünfte zu errichten. Danach blieben noch sechs Flächen übrig, die aus Sicht der Stadtplaner in Frage kamen. Neubauten wurden dem Gemeinderat zunächst auf vier Grundstücken empfohlen: In der Friedrichstraße, der Händelstraße, der Prinz-Friedrich-Anlage in Sulzbach und der Ortsstraße Süd in Oberflockenbach.
Im Gemeinderat konnten diese Empfehlungen allerdings noch keine mehrheitliche Zustimmung finden. Es gab deutlichen Beratungsbedarf. Die Fraktionen von CDU, SPD, Freien Wählern und Grünen kritisierten, dass die Bürger bislang noch nicht beteiligt wurden. Stella Kirgiane-Efremidis (SPD) sagte dazu:
Wir brauchen vier breit angelegte Bürgerinformationen und eine Vorberatung im Ausschuss für Umwelt und Technik, bevor wir im Gemeinderat entscheiden können.
Erster Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner entgegnete:
Das können wir schon machen. Aber dann können wir uns auch jetzt schon überlegen, welche Turnhallen wir belegen lassen.
Ein so umfangreiches Verfahren würde mindestens vier Monate beanspruchen. Diese Zeit habe man nur, wenn man bereit sei, sich zwischendurch mit Notlösungen zufrieden zu geben.
Nach knapp zwei Stunden Diskussion einigte sich der Gemeinderat, in der bevorstehenden Sitzung am 09. Dezember eine Entscheidung zu finden, wo gebaut wird. Dabei soll ebenfalls ein Standort für die Container-Anlagen festgelegt werden. Um die Beschlussfindung zu erleichtern, wird eine „Standortfindungskommission“ eingerichtet, an der unter anderem Stadträte aus allen Gruppen und Fraktionen sowie die Ortsvorstehenden und Verwaltungsmitarbeiter beteiligt sind. Die Kommission soll alle Grundstücke noch einmal überprüfen und mögliche Alternativen beurteilen. Dafür sind jetzt etwa drei Wochen Zeit.
Bürgerbeschwichtigung
Am 30. November wird eine Bürgerversammlung stattfinden. Der Bevölkerung sollen in diesem Rahmen auch die weiteren Pläne zur Flüchtlingsunterbringung in Weinheim vorgestellt werden. Dass auf der Veranstaltungen seitens der Bürger Gegenvorschläge eingebracht werden, die innerhalb von wenigen Tagen fachlich überprüft und dem Gemeinderat beschlussreif vorgelegt werden können, wirkt aber eher unwahrscheinlich.
Welchen Nutzen wird die Bürgerversammlung also haben? Verwaltung, Gemeinderat und Oberbürgermeister können für ihre Standorte werben und „betroffene“ Anwohner vielleicht etwas beschwichtigen. Für eine echte, ergebnisoffene Diskussion über nicht bedachte Alternativen ist der Zeitplan aber zu knapp – zumindest, wenn noch in diesem Jahr eine Entscheidung erfolgen soll.
Dafür werben Oberbürgermeister Bernhard und Bürgermeister Dr. Fetzner eindringlich. Doch der Gemeinderat zeigte sich am Mittwoch zögerlich – immerhin geht es bei vier Neubauten für mindestens 160 Personen um eine Investition von über zehn Millionen Euro. Das ist eine immense Herausfoderung für den städtischen Haushalt. Es ist eine Entscheidung für die kommenden Jahrzehnte. Nach der Nutzung als Flüchtlingsunterkunft wolle man die Neubauten über den „normalen Wohnungsmarkt“ vertreiben, teilt Oberbürgermeister Bernhard mit.
Vertagung nutzbringend?
Dr. Carsten Labudda (Die Linke) sagte am Mittwoch, er hätte die Entscheidung gerne schon jetzt getroffen. Es sei unwahrscheinlich, dass eine Kommission in so kurzer Zeit tragfähige Alternativen zu den Vorschlägen der Verwaltung finden würde. Auch sei Bürgerbeteiligung bei Flüchtlingsunterbringungen oft problematisch und „ein Standort unabhängig vom Standort“ aus Sicht einiger Anwohner immer der falsche:
Dann heißt es: Eigentlich sind wir ja gerne bereit zu helfen. Aber genau hier geht es leider überhaupt nicht, weil… Und dann werden meistens Gründe angeführt, die an anderen Standorten genauso gelten. Das ist wenig konstruktiv.
Man dürfe bei Standortentscheidungen aber nicht nur die Interessen der Anwohner berücksichtigen, sondern müsse für das Wohl der gesamten Stadt entscheiden:
Auch wenn ein paar damit Probleme haben, eine Lösung, die alle zufrieden stellt, gibt es wahrscheinlich gar nicht.
Oberbürgermeister Bernhard gab diesen Worten seine „100-prozentige Zustimmung“. Es wird also spannend, was die Standortfindungskommission dem Gemeinderat am 09. Dezember außer drei Wochen Zeitverlust genutzt haben wird.