Rhein-Neckar/Berlin, 20. September 2016. (red/ric) Die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin hat der SPD und der CDU heftige Verluste eingebracht. Die SPD ist zwar stärkste Fraktion – aber mit 21,6 Prozent mit dem schwächsten Ergebnis seit der Wiedervereinigung 1990 (30,4 Prozent). Die CDU rutscht auf 17,6 Prozent ab, 1990 lag sie bei 40,4 Prozent. Die Grünen verzeichnen leichte Verluste. Gewinner sind Die Linke, FDP und die AfD. Wir haben uns das Ergebnis etwas genauer angeschaut und Überraschung: Viele Interpretationen scheinen fragwürdig.
Von Riccardo Ibba und Hardy Prothmann
Wer einfache Botschaften will, die “ins Bild passen”, meint, die AfD würde vor allem von Männern über 45 in Hartz IV-Bezug gewählt. Ganz so einfach ist das aber nicht.
Ein Vergleich mit den Wahlen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist nicht angebracht, da hier nur in Westberlin gewählt wurde. Wir schauen deshalb auf die Zahlen seit der Wiedervereinigung und den Wahlen seit 1990. Seither befinden sich beide “Volksparteien” in der Hauptstadt in einer katastrophalen Abwärtsspirale: 40,4 Prozent für die CDU, die SPD schaffte 30,4 Prozent. Aktuell kommt die SPD noch auf 21,6 Prozent und die CDU gar nur noch auf 17,6 Prozent – zusammen also auf 39,2 Prozent gegenüber 70,8 Prozent in 1990. Das ist ein sattes Minus von 31,6 Prozent.
Viele Auffälligkeiten
Welche Auffälligkeiten brachte die Wahl am Sonntag? Im Osten und bei weniger Wahlbeteiligung ist die AfD am stärksten und kommt hier im Durchschnitt auf 17,36 Prozent.
Betrachtet man die Wahlbezirke Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg, erreicht sie sogar 21 Prozent im Schnitt. Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg sind gleichzeitig die Wahlbezirke mit der niedrigsten Wahlbeteiligung.
Die AfD überholt in Marzahn-Hellersdorf mit 23,6 Prozent Die Linke mit 23,5 Prozent und gewinnt diesen Bezirk. Die neuen “Volksparteien” mit zusammen 47,1 Prozent wäre also eine ganz ungewöhnliche Koalition aus AfD/Die Linke. Interessant: 2011 lag die Wahlbeteiligung hier bei 51 Prozent. 2016 ist es immer noch der schwächste Wahlbezirk, kommt aber auf 61 Prozent. Auch hier konnte die AfD vermutlich in erheblichem Umfang frühere Nicht-Wähler mobilisieren.
Hartz IV = AfD? Von wegen
Stimmt die Zuordnung, dass die AfD vor allem von Hartz IV-Empfängern gewählt wird? Nein. Im Gegenteil. In den drei Hartz IV-Hochburgen Neukölln, Mitte und
Friedrichshain-Kreuzberg verzeichnet die AfD mit Abstand ihre schwächsten Ergebnisse (mal vom wohlhabenden Charlottenburg-Wilmersdorf abgesehen) im einstelligen Bereich.
In Mitte leben die meisten jungen Menschen, sowie die meisten Ausländer und wenigsten alten Menschen. Zudem beziehen in Mitte mit 26,1 Prozent nach Neukölln (28,5 Prozent)
die zweitmeisten Einwohner Hartz IV. Hier leben die wenigsten Frauen. Mitte ist nach Kreuzberg Hochburg für die Grünen, die in Kreuzberg 28,4 Prozent bei der Zweitstimme einfahren. Hier leben auch besonders viele Wessis, “Schwaben” genannt. Der vermeintlich grüne Wähler in Mitte ist jung, bezieht Hartz IV, lebt gerne mit vielen Ausländern zusammen und ist tendenziell männlich (51,5 Prozent). Rechnet man Mitte, Pankow und Friedrichshain-Kreuz zusammen, erreichen die Grünen hier 24,1 Prozent gegenüber dem Gesamtergebnis 15,8 Prozent (2011: 17,6 Prozent).
Mehr alte als junge Wähler
Ebenfalls interessant: Dort wo die meisten jungen Wahlberechtigten leben (Mitte, Neukölln, Spandau) liegt die Wahlbeteiligung unter mit 63,0 unter dem Schnitt von aktuell 66,9 Prozent. Gleichzeitig befinden sich inklusive Kreuzberg hier die Hartz IV-Hochburgen 26,6 Prozent Beziehern gegenüber 19,3 Prozent in Berlin gesamt.
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Lediglich die Linke und FDP konnten in Mitte, Neukölln, Spandau zulegen – hingegen mussten SPD, CDU und Grüne ohne Ausnahme teils heftige Verluste hinnehmen. Die AfD lag etwas unter Schnitt mit 13,4, gegenüber Berlin gesamt mit 14,1 Prozent.
Dort wo die meisten alten Wahlberechtigten (70+) leben (Steglitz-Zehlendorf, Reinickendorf, Treptow-Köpenick) liegt die Wahlbeteiligung mit 69,9 Prozent über Schnitt. In diesen Bezirken liegt der Hartz IV-Anteil unter Schnitt mit 15,1 Prozent.
Der große Gewinner ist die FDP, die in allen “älteren” und “gut situierten” Bezirken zugelegt hat und in Steglitz-Zehlendorf sogar auf 11,8 Prozent kommt sowie in Reinickendorf auf 8,8 Prozent. Die Linke hielt sich hier nur, während SPD, CDU und Grüne durchgängig teils heftig verloren. Die AfD lag mit 15,9 über Schnitt.
Die Linke profitiert vom miesen Abschneiden der Piraten. Diese pulverisieren sich von 8,9 Prozent auf nur noch 1,7 Prozent. Woher der Erfolg der FDP kommt, die mit 6,7 Prozent (1,8 Prozent) wieder den Einzug geschafft hat, ist nicht ganz klar. Möglicherweise profitiert sie von der AfD bei Wählern, die enttäuscht von der SPD und CDU sind, aber nicht AfD wählen wollen.
Vorbote für die Bundestagswahl?
In vielen Medien wird das Ergebnis von 14,2 Prozent für die AfD als “nicht so erfolgreich” dargestellt – daran haben wir erhebliche Zweifel. Im “Multikulti”-Berlin, einem Stadtstaat im Gegensatz zu den Flächenländern, aus dem Stand ein solches Ergebnis zu erreichen, ist ein weiterer Erfolg für die rechtspopulistische Partei. Und sie ist gar nicht weit entfernt von CDU, Die Linke und den Grünen.
Verloren hat die große Koalition aus SPD und CDU (17,6 Prozent). Die SPD (21,6 Prozent) stellt mit Michael Müller voraussichtlich wieder den regierenden Bürgermeister in einer vermutlich rot-rot-grünen Koalition mit Die Linke (15,6 Prozent) und Bündnis90/Die Grünen (15,2 Prozent). Die SPD fühlt sich als “Gewinner” – aber auf welch katastrophalem Niveau.
Interpretationen, dass die Berlin-Wahl ein Vorbote für die Bundestagswahl sind, sollte man ignorieren – Landtagswahlwahlen und die speziellen Abgeordnetenhauswahlen im sehr besonderen Berlin sind sicher nicht mit der Bundestagswahl vergleichbar.
Tatsache ist, dass die erst 2013 gegründete AfD ihren Siegeszug fortsetzt und nun in zehn Landesparlamenten mit teils erstaunlichen Wahlergebnissen vertreten ist. Die etablierten Parteien schauen mit großer Sorge auf den Herbst 2017 und die Bundestagswahl – aktuell gibt es niemanden mehr, der nicht an den Einzug der AfD glaubt.
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