Mannheim, 19. Dezember 2013. (red/ld) Prof. Dr. Heidrun Kämper hält nichts davon, Kinderbücher und historische Texte in politisch korrekte Sprache zu übertragen. „Das ist Geschichtsfälschung“, sagt sie im Interview. Außerdem sei es dem Ziel, das man dadurch erreichen will, eher abträglich. Die Lösung für das Problem ist zwar einfach, aber mit Anstrengungen verbunden.
Interview: Lydia Dartsch
Die Debatte um politisch korrekte Sprache läuft seit den neunziger Jahren und ist jetzt auch in der klassischen Literatur angekommen: Bei den Kinderbüchern von Astrid Lindgren und von Ottfried Preussler zum Beispiel. Dabei überkommt einen das Gefühl, dass man durch diese Korrektheit immer mehr seiner Sprache und seiner Kultur beraubt wird. Wie sehen Sie das?
Prof. Dr. Heidrun Kämper: Dass man der Identität beraubt wird, kann ich vollkommen nachvollziehen. Alle Texte haben eine Geschichte. Wir müssen Sie aus dem historischen Kontext heraus erklären.
Was ist denn der historische Kontext aus der Entstehung dieser Texte? Es würde ja niemand Astrid Lindgren vorwerfen, sie sei eine Rassistin gewesen.
Kämper: Vor 100 Jahren ist man mit Kategorien wie „Neger“ oder „Zigeuner“ sehr sorglos umgegangen. Damals hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, dass man damit Menschen diskriminiert.
Heute ist sich die Sprachgesellschaft darüber bewusst. Warum sollte man diese Texte dann noch so belassen, wie sie geschrieben worden sind?
Kämper: Wir können nicht wollen, dass klassische Texte umgeschrieben werden, um die Kinder davor zu schützen, sich in diskriminierender Weise zu äußern. Ich halte es – gerade bei Kinderbüchern – für sehr viel wichtiger, Kinder darauf aufmerksam zu machen, dass Bücher ihre Geschichte haben und mit dem Vergleich der Sprache von früher mit der von heute den Kindern ein historisches Bewusstsein vermitteln.
„Alles andere wäre Geschichtsfälschung“
Welche Grenzen gibt es denn für politisch korrekte Sprachkorrekturen in historischen Texten? Goethe und Schiller haben noch früher gelebt und sind mit entsprechenden Ausdrücken scheinbar sorgloser umgegangen.
Kämper: Wir müssen Goethe und Schiller selbstverständlich ein hohes Maß an Reflektion zugestehen. Sie wollten sicher niemanden sprachlich diskriminieren. Beide waren Aufklärer, haben sich intensiv mit den Menschenrechten auseinandergesetzt und standen in der Tradition von Immanuel Kant. Aber auch dieser große Ethiker war nicht frei von Denkmustern, die nach heutigem Verständnis mit den Menschenrechten nicht zusammenpassen.
Wieso müssen die Texte belassen werden, wie sie sind?
Kämper: Alles anderes wäre Geschichtsfälschung. Erst durch den Unterschied zwischen diskriminierender und nichtdiskriminierender Sprache kann man erkennen, wie man nach dem heutigen ethischen Bewusstsein sprechen sollte, um Menschen nicht zu diskriminieren. Man braucht diesen Vergleich.
Wäre das Streichen der Begriffe nicht die einfachere Lösung?
Kämper: Die problematischen Begriffe zu streichen kann das Problem gar nicht lösen. Dadurch kann das Bewusstsein, dass man mit Sprache diskriminiert, gar nicht entstehen. Man sollte den Kindern erklären, wieso Pippi Langstrumpfs Vater in den Büchern, die vor 70 Jahren entstanden sind, „Negerkönig“ genannt wird und wieso das heutzutage als rassistisch gilt.
„Teufelskreis“ vermeintlich korrekter Bezeichnungen
Was bewirkt die politisch korrekte Sprache Ihrer Ansicht nach in Hinblick auf das Denken und die Gesellschaft?
Kämper: Das Ziel ist, Menschen sprachlich nicht zu diskriminieren und Menschen dazu zu bringen, über diskrimierende Sprache nachzudenken. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber dieser Effekt tritt nicht in der gewünschten Form ein.
Woran erkennen Sie das?
Kämper: Durch die Ersetzung eines inkorrekten Wortes durch ein vermeintlich korrektes setzt man einen Kreislauf in Gang: Wenn man das Wort „Neger“ nicht sagen darf, sagt man „Schwarze“. Bis man feststellt, dass das auch diskriminiert und ersetzt es mit „Afroamerikaner“ und es geht immer so weiter.
Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?
Kämper: Wir müssen bei den Menschen ein Bewusstsein dafür herstellen, dass Diskriminierung gegen die Menschenrechte verstößt, dann haben wir ein Ziel erreicht.
„Feministische Linguistik hat viel verändert“
Wie lässt sich dieses Bewusstsein herstellen, wenn nicht über Sprachregelungen? Wie funktioniert dieses Bewusstwerden?
Kämper: Hinter den Sprachregelungen steht die Idee, dass Sprache die Wirklichkeit verändern kann. Man spricht ja auch von sprachlicher Konstruktion von Wirklichkeit. Aber die Regeln wirken nicht immer, wie beabsichtigt: Es gibt immer noch Fremdenfeindlichkeit, obwohl man nicht mehr „Neger“ sagt. Es gibt auch Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus, obwohl man sich in der Gesellschaft weitgehend sprachlich korrekt verhält.
Ist das bei allen Sprachregelungen so? In der Genderdebatte war man doch damit ganz erfolgreich. Was ist daran anders?
Kämper: Da ist auch noch viel zu tun. Aber das Ziel der Feministinnen in den siebziger Jahren war die Sichtbarmachung der Frauen in der Sprache. Und das hat einiges verändert. Beispielsweise schreibt man in Stellenanzeigen auch die weibliche Form der Berufsbezeichnung hinein. Das hat zu dem Bewusstsein geführt, dass Frauen auch zu den Angesprochenen gehören. Es ist aber auch ein ganz anderer Aspekt als die Diskriminierung in Bezug auf Hautfarbe, ethnische Zughörigkeit oder Herkunft. Ein Grund könnte sein, dass Farbige im europäischen Raum einen ganz anderen Status haben. Ein anderer ist sicher, dass Fremdenfeindlichkeit möglicherweise sehr viel tiefer sitzt als Frauenfeindlichkeit. Die hat historisch einen sehr viel längeren Weg hinter sich.
Versucht man durch die politisch korrekten Sprachregelungen gegenüber ethnischen Gruppen Unterschiede auszublenden, die definitiv da sind? Lässt sich das so verstehen?
Kämper: Die Ersatzausdrücke „Farbige“ oder „Sinti und Roma“ versuchen ja nicht, die Unterschiede auszublenden. Das Problem ist eigentlich, dass es den Menschen nicht bewusst ist, dass sie mit Ausdrücken wie „Neger“ oder „Zigeuner“ gegen Menschenrechte verstoßen.
„Sich-Bewusstwerden und Sprachregelungen müssen Hand in Hand gehen“
Welche Lösung schlagen Sie vor, um das zu ändern?
Kämper: Das Sich-Bewusstwerden und die Sprachregelungen müssen Hand in Hand gehen. Ich bin aber sehr skeptisch, was den Erfolg der sprachlichen Korrektheit angeht, wenn die Gründe für die Diskriminierung und die Fremdenfeindlichkeit so tief sitzen.
Teilweise treibt politische Korrektheit die skurrilsten Blüten. Wer entscheidet denn darüber, was politisch korrekt ist und was nicht?
Kämper: Am Ende entscheidet die Sprachgemeinschaft darüber. Man kann Regelungen formulieren und behördlich anordnen. Die Sprachgemeinschaft muss sie annehmen, sonst laufen sie ins Leere.
Wer ist die Sprachgemeinschaft?
Kämper: Das ist vor allem der offizielle Bereich. Also wenn Politiker sich äußern, Ämter, die Medien. Wenn in diesen Domänen deutlich wird, dass die Verwendung bestimmter Begriffe sanktioniert wird, dann greift die Sprachregelung irgendwann und gelangt in die Köpfe der Menschen.
Wie funktioniert denn diese Sprachregulierung? Beschreiben Sie den Vorgang.
Kämper: Diese Sprachregelungen sind ja zum Teil Wortschöpfungen – sogenannte Neologismen. Da läuft der Vorgang zum Beispiel so ab: Bei „Sinti und Roma“ gab es zuerst eine behördliche Anordnung, dass man nicht mehr „Zigeuner“ sagen darf, sondern „Sinti und Roma“ verwenden muss. Das wurde von den Medien aufgegriffen und thematisiert. Dieses „darüber Reden“ trägt zur Etablierung der Sprachregelung bei und nach einer gewissen Übergangszeit wird nur noch die neue Form verwendet. Das ist ein relativ langer Prozess.
„Tabus sind wichtig“
Soweit zur offiziellen Sprachgemeinschaft. Wann finden solche Regelungen Eingang ins Private?
Kämper: Das passiert in dem Moment, an dem jedem bewusst geworden ist, dass man Menschen diskriminiert, wenn man die Ausdrücke „Neger“ oder „Zigeuner“ verwendet und man das aber gar nicht will. Das ist aber leider nicht in umfassendem Sinn geschehen. Das zeigt die Tatsache, dass immer weiter diskriminiert wird, obwohl es Ersatzausdrücke gibt.
Gibt es Beispiele für diese Diskrepanz?
Kämper: Beim Antisemitismus kann man es sehr gut beobachten. Es gibt ihn in der Bevölkerung zu 20 bis 25 Prozent. Die offizielle Gesellschaft hat aber jegliche Form von Antisemitismus mit einem Tabu belegt.
Welche Auswirkungen haben diese Tabus auf die Sprache? Wird sie dadurch hölzerner oder leerer?
Kämper: Keinesfalls. Und diese Tabus sind richtig und wichtig. Im öffentlichen Raum wird jeder Verstoß sofort durch die Presse, durch Politiker und die Gesellschaft sanktioniert. Interessanterweise bestätigen solche Verstöße und die folgende Reaktion wiederum die Sprachregelung und stärken ein Bewusstsein für Diskriminierung durch Sprache.
Zur Person:
Prof. Dr. Heidrun Kämper ist Leiterin des Arbeitsbereichs „Sprachliche Umbrüche“ am Institut für Deutsche Sprache (IdS) in Mannheim. Ihre Forschungsinteressen liegen unter anderem in der Deutschen Sprachgeschichte sei 1933, in der forensischen Linguistik und der Diskursgeschichte. Sie ist seit 2002 Mitherausgeberin der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs und lehrt an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, wo sie im Jahr 2005 habilitierte. Am IdS arbeitet sie seit 1993. Sie studierte Germanistik und Politologie an der Universität Hamburg.
2014 wird das Institut für Deutsche Sprache 50 Jahre alt. Aus diesem Anlass kooperieren wir mit dem IdS und veröffentlichen eine Reihe von Artikeln zur Forschung des Instituts. Hier finden Sie alle Artikel.