Rhein-Neckar/Ahrtal, 19. August 2021. (red/pro/gast) Beate E. Wimmer ist als Journalistin auf Wein und Genuss spezialisiert. Seit einiger Zeit ist sie vor Ort im Ahrtal, dass sie als herausragendes Weinbaugebiet natürlich sehr gut kennt. Sie berichtet vor Ort – teils zu ihrem Spezialthema, teils als Reporterin, was sie sieht, wahrnimmt und in Erfahrung bringt. Und sie ordnet ein – für sich und andere.
Von Beate E. Wimmer
Guten Morgen Welt,
Tag 34 nach der Flutwasserkatastrophe: 5.50 Uhr und ich höre sofort die mir mittlerweile sehr bekannten Geräusche. Die ersten Bagger sind unterwegs. Und ZACK! Da sind sie wieder, diese Gedanken, mit denen ich gegen Mitternacht, wenn der Adrenalinspiegel nachlässt, todmüde einschlafe und am Morgen aufwache. AHRTAL, FLUTWASSER, ZIVILE HELFER, KAMPF…
Gestern, Tag 33, war ein intensiver Tag, vielleicht der intensivste, den ich bislang erlebt habe. Möglicherweise hängt es auch damit zusammen, dass wir von Bewohnern an noch schlimmere Orte geführt wurden als die, die ich bislang schon gesehen habe.
Gestern habe ich viel geweint, einmal öffentlich und mehrfach heimlich. Es geht mir gut dabei, denn diese Tränen entlasten meine Seele.
Ich frage mich zum wiederholten Male, was denn hier meine Aufgabe ist. Warum bin ich hier und wie kann ich den Menschen hier wirklich helfen? Mein Vorhaben, den Menschen hier ein Gesicht und eine Stimme zu geben, setze ich so gut es geht in die Tat um.
Ich bin überzeugt, dass ich eine starke Frau bin, und dennoch werde ich an Grenzen geführt, wo ich immer denke, schlimmer kann es nicht kommen. Es sind Grenzen, die mich prägen werden. Bislang bin ich einigermaßen behütet aufgewachsen, habe ein gutes Leben geführt und mich in meiner Komfortzone bewegen können.
Ja, auch ich wusste, dass es da draußen Menschen gibt, denen es nicht so gut geht wie mir. Menschen, die von deutlich weniger Geld leben müssen als ich. Menschen, die in einem sozialen Umfeld geboren wurden, aus dem auszubrechen sehr schwierig ist. Menschen, die aus einem anderen Land kommen und kaum Möglichkeiten der Integration haben. Menschen, die eben anders leben als ich und die weniger Glück im Leben hatten als ich. Und bislang habe ich immer wieder irgendwas gemacht, um ihnen zu helfen.
Ich habe zeitweise einer Wärmestube gearbeitet und den Bedürftigen warme Mahlzeiten ausgegeben. Ich bin gläubig und kann auch für andere beten. Ich habe bislang immer gesagt, dass mir Demut und Empathie wichtig sind. Ich habe immer versucht ein guter Mensch zu sein, ein Mensch der andere respektiert und die Meinungen anderer toleriert. Gemessen an dem, was ich hier erlebe ist das tatsächlich nicht mal der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
Und dann kommt der Tag, der vieles in meinem Leben verändern wird. Ein Tag, an dem ein ganzer Landstrich in Schutt und Asche gelegt wird. Ein Tag, an dem Menschen sterben oder um ihr Leben bangen. Ein Tag, der vielen Menschen alles nimmt, was sie sich erspart, erarbeitet und aufgebaut haben.
Mein Weltbild verändert sich von einer Sekunde auf die nächste. Ich gehen aus meiner Komfortzone raus und treffe auf Menschen unterschiedlichster Prägung. Menschen, die alles geben, um Menschen zu helfen. Und nein, es sind nicht die Menschen, die ihre Geldbörse aufmachen, um zu spenden und damit Gutes zu tun.
Es sind die vielen, teils junge Menschen, die kommen, um mit ihrer bloßen Anwesenheit zu helfen. Es sind Menschen, die nicht wissen, was sie hier erwartet. Es sind Menschen, die nicht vorbereitet sind, aber anpacken, egal was. Und es sind Menschen, die diese Erlebnisse hier nie wieder in ihrem Leben vergessen werden. Sie nehmen viel mit nach Hause, was auch ihre Seelen belasten wird.
Ich bin ein politisch denkender Mensch, ich interessiere mich für Politik national und international. Mein Tag zu Hause beginnt üblicherweise mit den neuesten Nachrichten auf verschiedensten Kanälen. Ich konsumiere gerne die Nachrichten aus vielen Blickwinkeln heraus, um mir selbst mein Bild machen zu können.
Hier im Krisengebiet ist das anders. Ich erlebe erstmals 1:1, wie verschoben die Realitäten sind. Denn ich lese in der hiesigen Tageszeitung: ORTE IM AHRTAL SIND NOTDÜRFTIG WIEDER ERREICHBAR – DIE AUFBAUARBEIT IM KATASTROPHENGEBIET GEHT VORAN – PRIVATE HELFER WERDEN WEITER DRINGEND GEBRAUCHT! Ich lese tatsächlich wieder, dass PRIVATE HELFER WEITERHIN WILLKOMMEN SIND! In diesem Artikel steht, dass die Arbeiten voran gehen, dass die Infrastruktur mit Strom, Gas, Wasser und Abwasser sowie die Bevölkerung mit Lebensmitteln, Duschen und Toiletten zu versorgen, weiterhin im Vordergrund stehen, so der Krisenstab.
Es steht geschrieben, dass das THW ihre Einsatzkräfte halbiert habe, von 3.000 auf 1.500 und sie zunächst einmal ihren Einsatz bis Ende September planen. Ich lese, dass das THW 650.000 Liter Heizöl schon abgepumpt hat und viele verschlammte Straßen voller Unrat freigeräumt habe.
Ich frage mich wieder ernsthaft, woher der Krisenstab diese Informationen nimmt. Denn die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Der Müll türmt sich immer und immer wieder meterhoch an den Straßenrändern. Die Menschen laufen traumatisiert rum, hilflos. Sie fühlen sich von ihrer eigenen Regierung alleine gelassen.
Das ist ein roter Faden, der sich durch meine vielen Gespräche zieht. Und aus eigener Erfahrung kann ich das 100% nachvollziehen. Es ist keine Zeit, um ein Bashing gegen die Regierung zu beginnen. Wer mich kennt und liest weiß, dass ich davon weit entfernt bin.
Auch ich suche ständig nach Lösungen, auch ich führe mit engagierten Menschen hier viele Gespräche, um den Menschen zu helfen. Bis tief in die Nacht telefoniere ich beispielsweise mit Seelsorgern, mit Architekten, mit (vereidigten) Sachverständigen, mit vielen Menschen, die sich auch ehrenamtlich in den Dienst des Ahrtals stellen wollen.
Es sind Menschen, die in ihrem Leben viel erreicht haben und von diesem etwas an die Gesellschaft zurückgeben wollen. Wir alle stehen immer wieder fassungslos dem politischen Geschehen gegenüber. Wo sind die Medien, die hier einmal das wirkliche Gesicht des Ahrtals aufnehmen und aufklärend hier helfen. Denn ein wenig stimmt, was die Medien berichten. Aber eben nur ein wenig! Es geht nicht darum zum wiederholten Male von den Betroffenen zu hören, wie sie die Nacht der Katastrophe erlebt haben. Es geht darum, kritische Fragen zu stellen und nach dem WARUM zu fragen. Es geht darum, die Wirklichkeit zu zeigen und den Mut zu habe, hinter die wahren Kulissen zu schauen.
Ich merke, dass ich jetzt meinen Tag beginnen muss. Ein Tag, der wieder viele Eindrücke bringen wird, die ich am Abend dann sortieren, verarbeiten und in Worte kleiden werde.
Ich gehe von meinem beheizten Wohnmobil in das nur wenige Meter entfernte Zelt, in dem ich morgens meinen Kaffee hole.
Ich begegne auf dem Weg Michael, der im wirklichen Leben JVA-Angestellter ist. Er hat im Auto die Nacht bei gefühlten 6° verbracht. Es war recht kühl, sagt er mir.
In der kommenden Nacht wird er eine Decke brauchen. Im Zelt liegen zwei junge Männer auf Pritschen und stecken neugierig ihre Köpfe raus, grüßen freundlich und räkeln sich. Ich kredenze ihnen einen Kaffee an ihr „Bett“. Sie freuen sich über diese Geste. Auf meine Frage, ob sie sich mitunter fragen, warum sie sich das antun, antwortet einer von ihnen: Das ist doch nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen hier erlebt und ertragen müssen.