Heidelberg/Rhein-Neckar, 18. Dezember 2015. (red/ms/pro) Im Patrick Henry Village soll die Abwicklung von Asylverfahren drastisch beschleunigt werden. Eindeutige Fälle will man innerhalb von maximal 48 Stunden abarbeiten, bestenfalls noch am gleichen Tag. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) spricht von einem “Zugewinn für alle Beteiligten”. Kommunen und Kreise geraten durch die beschleunigten Verfahren allerdings zusätzlich unter Zugzwang: Sie müssen jetzt noch schneller Wohnraum für Flüchtlinge schaffen. Ohne mehr Fördermaßnahmen wird das viele Städte und Gemeinden organisatorisch und finanziell überfordern.
Von Minh Schredle
Eine Schar von mehreren Dutzend Journalisten wuselt emsig um den Mann herum – ständig baumeln über dessen Kopf Mikrophone. Sechs Kamerateams schubsen einander herum und wetteifern um die beste Position, die beste Bildperspektive. Blitzlichter flackern. Die Verschlüsse der Kameras klacken.
Warum dieser Auftrieb? Ministerpräsident Winfried Kretschmann besucht das PiÄdschWi (Patrick Henry Village, PHV). Er hält die Arme hinter dem Rücken verschränkt, guckt konzentriert. Irgendwie in sich gekehrt. Irgendwie auch ein wenig düster. Er selbst redet wenig, hört überwiegend zu. Er erträgt das Gewimmel. Den Grüßonkel gibt er nicht.
Der Weg führt durch das Zentrale Registrierungszentrum in Heidelberg.
Mit dem Patrick Henry Village können wir wieder Struktur ins Chaos bringen,
sagt der Ministerpräsident wenig später auf einer Pressekonferenz, nachdem er seinen Rundgang beendet hat – und was er fordert, ist bitter nötig.
Seitdem die Flüchtlingszahlen in Deutschland drastisch angestiegen sind, geht es bei Registrierung und Unterbringung landesweit drunter und drüber. Die Notlage erfordert Notlösungen – das ist völlig verständlich. Und trotzdem ändert es nichts daran, dass aktuell noch jede Menge Zeit, Geld und Ressourcen verschwendet werden.
Manche Flüchtlinge werden doppelt registriert, andere gar nicht. Ein echter Überblick ist offenbar lange verloren gegangen. Teils wurden Flüchtlinge in Baden-Württemberg wegen überfüllten Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEAs) auf Kommunen verteilt, bevor sie überhaupt ihren Asylantrag stellen konnten. Dann mussten sie für Antragstellungen und Interviews jeweils zwei Zug- oder Busfahrten, teils durch ganz Baden-Württemberg, auf sich nehmen. Und der Steuerzahlen trägt die unnötigen Kosten.
Deutschlandweit sind rund 360.000 Asylanträge zwar gestellt – aber noch nicht bearbeitet. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) hat Schwierigkeiten, da noch hinterher zu kommen. Es fehlen hunderte Mitarbeiter. Und während Altanträge abgearbeitet werden, stauen sich die neueren Anträge auf.
1.000 Anträge am Tag
Das Patrick Henry Village (PHV) soll Abhilfe schaffen: 1.000 Asylanträge am Tag – das ist die Zielmarke, die hier ab Januar abgewickelt werden soll. Und an dieser Ambition wird sich der Erfolg des “Vorzeigeprojekts für ganz Deutschland”, wie Ministerpräsident Kretschmann das Zentrale Registrierungszentru bezeichnet, messen müssen.
Noch ist das “Heidelberger Modell” bundes- und landesweit einzigartig: Hier wird ein Großteil aller im Südwesten ankommenden Flüchtlinge registriert, medizinisch untersucht und geröntgt. Hier stellen die Flüchtlinge ihren Asylantrag, bevor sie weiter verteilt werden.
Das ist aber noch nicht alles: Seit etwa sechs Wochen ist auf dem PHV außerdem noch eine Außenstelle des BaMFs eingerichtet – jetzt sollen im PHV Asylverfahren im Eiltempo abgewickelt werden. In eindeutigen Fällen soll das nur 24 bis 48 Stunden dauern. Noch wurde der Regelbetrieb nicht aufgenommen – sollte das Ziel aber erreicht werden, wäre das ein Quantensprung in der Verfahrensabwicklung: Aktuell liegt die durchschnittliche Bearbeitungsdauer eines Asylantrags in Deutschland bei ungefähr fünf Monaten.
Das “Erfolgskonzept Patrick Henry Village” wurde nun vergangenen Freitag der Presse präsentiert – auch wenn angeblich der Besuch von Ministerpräsident Kretschmann im Vordergrund gestanden haben soll. Doch der Rundgang durch die Einrichtung ist bis ins Detail inszeniert. Die Route – so scheint es – Schritt für Schritt festgelegt. “Fotografen bitte hierher”, “Nein, hier keine Fotografen”, “lassen Sie bitte eine Gasse frei, damit die Delegation durchkommt” – Michael Brandt, Sprecher der Lenkungsgruppe dirigiert die Journalisten.
Ein engagierter Mitarbeiter lotst Herrn Kretschmann und Begleitung – einen Pulk von über 70 Menschen, darunter Politiker, Amtsleiter, Journalisten und Kamerateams – durch die verschiedenen Stationen des Patrick Henry Villages. Einzelne Räume sind auf so große Menschenmassen nicht ausgelegt und gnadenlos überfüllt. Viel Gedränge, viel Gemurre – und ein Ministerpräsident, der sich von diesem ganzen Auftrieb wenig beeindruckt zeigt, die Schultern hängen lässt und wenig begeistert wirkt. Die Ringe unter seinen Augen zeugen von wenig Schlaf und viel Stress.
Währenddessen wird augenscheinlich der Regelbetrieb aufrecht erhalten: Vor den Augen von Politik und Presse werden Flüchtlinge registriert und erkennungsdienstlich erfasst, Pässe und Ausweise werden auf Echtheit untersucht, die Räume für medizinische Untersuchungen vorgestellt und mit allem, was möglich ist, vermittelt: Was hier geschieht, hat Hand und Fuß.
Das Vorzeigeprojekt hat eine Botschaft, die meisten Medien übernehmen die Darstellung des Landes ungefiltert:
Von einer Zentralisierung der Verfahrensschritte profitieren alle Beteiligten.
So formuliert es Ministerpräsident Kretschmann. Auf den ersten Blick gibt es wenig Anlass zur Kritik: Durch die enorme Beschleunigung der Verfahren sparen Land und Bund nicht nur Zeit und Geld – es werden die teils dramatisch überbelegten Landeserstaufnahmestellen entlastet. Allerdings ist damit das Problem der Wohnungsnot noch nicht aus der Welt.
Wie Herr Kretschmann betont, wolle man demonstrieren, dass “Baden-Württemberg auch in Sachen Integration und Flüchtlinge ein Musterländle” sei. Auch BaMF-Leiter Frank-Jürgen Weise sagt eindeutig, dass keine andere Einrichtung in Deutschland so effizient Asylanträge bearbeiten werde, wie es in Heidelberg geplant ist. In Heidelberg könne man nicht nur alle Flüchtlinge aus Baden-Württemberg registrieren, Heidelberg könne außerdem dabei helfen, das BaMF mit Altanträgen aus der gesamten Bundesrepublik zu entlasten.
Davon profitieren die Verwaltung von Bund und Land – gleichzeitig nimmt der Druck auf Kreise und Kommunen enorm zu. Denn die haben jetzt noch weniger Zeit, zumutbaren Wohnraum für Flüchtlinge schaffen. Bei der Anschlussunterbringung geht es zudem nicht um eine notdürftige Zwischenlösung für ein paar wenige Monate – sondern um Integration.
Doch vielen Kommunen fehlt schlichtweg das Geld für neue Gemeinschaftsunterkünfte. Der Markt für Container-Anlagen ist international leergefegt. Städte und Gemeinden rechnen mit Lieferzeiten von mindestens einem Jahr. Neubauten sind ohne Fördermaßnahmen oder private Investoren für viele Gemeinden ohnehin nicht zu finanzieren. Sollen langfristig Turnhallen belegt und Zeltstädte errichtet werden?
In anderem Medien wurde diese Problematik nach unserem Kenntnisstand bislang kaum thematisiert. Auf Rückfrage der Redaktion, inwiefern Städte und Kommunen mit Unterstützung rechnen könnten, erklärt Ministerpräsident Kretschmann, man sei in enger Absprache mit Kommunalverbänden und der Ministerpräsidentenkonferenz. Ein Plan sei es, privaten Investoren bessere Zinsvergünstigungen für sozialen Wohnungsbau zu bieten. Damit käme man günstiger davon, als mit hohen Subventionen.
300 geförderte Wohnungen pro Jahr – “das ist nichts”
Markus Müller, der Präsident der Architektenkammer Baden-Württembergs, schätzt das völlig anders ein. In einem Interview mit Kontext:Wochenzeitung sagte er Ende Oktober über Zinsverbilligungen:
Es ist empirisch erwiesen, dass das im Markt nicht nachgefragt wird. Im Moment laufen über die Wohnbauförderung in Baden-Württemberg 300 Wohnungen pro Jahr. Das ist de facto nichts.
Stattdessen müsse Baden-Württemberg dringend mehr Fördergelder bereitstellen. Aktuell belaufen sich die Landesmittel auf nur etwa 40 Millionen Euro im Jahr – Bayern habe die Landesmittel dagegen aktuell auf 500 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt.
Mehr Offenheit, mehr Ehrlichkeit
An dieser Stelle gibt es also dringenden Nachholbedarf im “Musterländle” – ein anderer Aspekt ist Transparenz, denn die ist gerade unter einer grün-roten Regierung, die sich mit einer “Politik des Gehörtwerdens” brüsten will, mehr als dürftig. Während Berichterstattung aus dem Patrick Henry Village grundsätzlich nur mit vorheriger Anmeldung und Begleitung gestattet ist, durften beim Pressetermin am vergangenen Freitag nur ausgewählte Räume besichtigt werden – so ist es schwierig, sich ein fundiertes und unabhängiges Urteil zu bilden.
Darüber hinaus werden immer wieder Versprechungen gemacht, die nicht ansatzweise eingehalten werden. Das gilt auch für Herrn Kretschmann: Noch im Juni kündigte er bei einem Besuch im PHV an, die Belegungszahl werde wieder unter 2.000 Menschen sinken. Aktuell sind es nach Informationen unserer Redaktion 6.300 Personen – das Land spricht in einer Pressemitteilung von “rund 5.000” Flüchtlingen.
Vor ziemlich genau einem Jahr wurde das PHV in Betrieb genommen. Damals war noch von einer “Interimslösung für den Winter” die Rede. Heute ist das PHV auch langfristig nicht mehr wegzudenken. Im Gegenteil: In der Flüchtlingskrise ist es inzwischen eine der bedeutendsten und – was die reine Funktionalität angeht – vorbildlichsten Einrichtungen Deutschlands.
Die Pläne dazu werden aber nicht vor ein paar Wochen plötzlich vom Himmel gefallen sein. Doch die Bevölkerung wird regelmäßig belogen und dann vor vollendete Tatsachen gestellt. So verspielt man sich Verständnis und Anerkennung für ein Musterprojekt, das tatsächlich etwas Ordnung ins Chaos bringen kann.
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Lesetipp: Erst Notlager , jetzt”Mustereinrichtung”. Erst 1.000, jetzt 6.000 Flüchtlinge
Das Notlager
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