Rhein-Neckar, 17. November 2015. (red/nh) Seit dem Schuljahr 2015/2016 gilt das neue Schulgesetz zur Inklusion in Baden-Würtemberg: Die Sonderschulpflicht wurde abgeschafft beziehungsweise das Elternwahlrecht eingeführt. Zudem werden die Sonderschulen zu „Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) weiterentwickelt“. Die Vertreter der Sonderschulen legen ihre Ämter im 17. Landeselternbeirat BW mit sofortiger Wirkung nieder. Das neue Gesetz wirft viele Fragen auf.
Von Naemi Hencke
Die Vertreter der Sonderschulen des Regierungsbezirks Karlsruhe haben aktuell ihre Ämter im 17. Landeselternbeirat Baden-Würtemberg mit sofortiger Wirkung niedergelegt. Dr. Stefan Stötzel, 1. Vorsitzender im Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar e.V. war gemeinsam mit seiner Stellvertreterin Sonja Heddrich-Fenske seit April 2014 im Gremium des Landeselternbeirats (LEB) tätig.
Sonderschulen nicht angemessen berücksichtigt?
In einer Pressemitteilung begründen sie ihre Entscheidung damit, dass die von ihnen vertretene Schulform im 17. Landeselternbeirat nicht angemessen berücksichtigt würde:
„Menschen mit Handicap sind auch im 17. LEB nur eine Randgruppe, deren Interessen nicht entsprechend berücksichtigt werden.“
In der Stellungnahme zur Änderung des Schulgesetzes – Inklusion des LEB vom 02.04.2015 wurden von den Vertretern der Sonderschulen vorgebrachte Sachargumente „nicht berücksichtigt, geschweige den hinterfragt und diskutiert“, so der Vorwurf. Wesentliche Schwächen des Schulgesetzentwurfs wären seitens des LEB in der Anhörungsphase „nicht erörtert“ und die „angespannte Personalsituation niemals thematisiert“ worden.
Das neue Schulgesetz zur Inklusion
Die Sonderschulpflicht wurde vor 40 Jahren beschlossen. Mit der Einführung des neues Schulgesetzes zur Inklusion wird diese Pflicht zum Besuch einer Sonderschule wieder abgeschafft. Die Folge: Ab dem Schuljahr 2015/16 dürfen Eltern von „Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot“ auswählen, welche Schulform das Kind besuchen soll. Hiermit soll das „Elternwahlrecht“ gestärkt werden – doch das ist nicht absolut bindend. Soll ein Kind mit „Anspruch“ eine Regelschule besuchen, wird eine sogenannte Bildungswegekonferenz durch das Staatliche Schulamt durchgeführt.
Weitere Kritik: Die Sonderschulen sollen in „Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren“ umbenannt beziehungsweise „weiterentwickelt“ werden.
Telefoninterview mit Stefan Stötzel
Dr. Stefan Stötzel begrüsst das neue Schulgesetz zur Inklusion. An für sich sei das eine gute Sache, aber Sonderschulen seien im LEB nach wie vor sehr schwach vertreten. Die „Lobby“ der Gymnasien sei wesentlich größer und somit stärker in den Anhörungsphasen vertreten. Viele Sonderschul-Mitarbeiter würden ehrenamtlich arbeiten.
Das Wort „Schule“ verschwindet
Die Umbenennung der Sonderschulen in „Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren“ würde ihm als Vertreter der Sonderschulen in Baden-Würtemberg große Sorgen bereiten. Das Wort „Schule“ würde in diesem Kontext gänzlich verschwinden:
Nur wo Schule drauf steht, ist Schule drin.
Wichtige nötige Ressourcen
Dr. Stötzel ist skeptisch, ob die nötigen und von ihm und Frau Sonja Heddrich-Fenske geforderten Ressourcen in der Umsetzung des neuen Schulgesetzes zur Inklusion tatsächlich bereitgestellt würden.
Vor allem an allgemeinen Schulen müssten die baulichen und sächlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Beispielsweise bräuchte es spezielle Lehr- und Lernmittel, es müssten Maßnahmen zur barrierefreien Gestaltung der Schulgebäude ergriffen und Ruheräume geschaffen werden. Zudem seien gesonderte Räume unabdingbar, um die menschenwürdige Pflege und die medizinische Versorgung und Therapie (Physio-, Ergotherapie, Logopädie) gewährleisten zu können.
Dies sei eine große Herausforderung für alle Schulen. Schwerst mehrfach behinderte Kinder benötigen einen sehr individuellen Bildungsplan und ebenso spezielle Raumqualitäten. Laut Dr. Stötzel seien diese Punkte in der Stellungnahme des LEB nur bedingt aufgegriffen worden.
Hoher Mehrbedarf an qualifizierten Fachkräften
Wenn Kinder mit einem sonderpädagogischen Bedarf an Regelschulen unterrichtet werden sollen, bedarf es neben den oben genannten sachlichen und baulichen Voraussetzungen auch ein Mehr an gut ausgebildeten Fachkräften. Es werden Krankenpfleger, medizinische Behandlungspfleger und sonderpädagogische Fachkräfte benötigt.
Es würde schon jetzt ein „riesiger Mangel“ an Sonderpädagogen und vor allem Fachlehrer für geistig- und körperbehinderte Kinder (G & K) bestehen.
Beispiel: Auf 42 Schulen für Körperbehinderte kämen 34 Ausbildungsplätze. Das sei schlicht nicht genug. Zudem würde die Umstrukturierung des bestehenden Studiengangsystems hin zum Bachelorstudiengang eine 3-jährige Unterbrechung von Nachwuchskräften bedingen.
Der Einsatz beziehungsweise auch der eventuelle Ausfall von Schulbegleitern als Assistenzkräfte seien im neuen Schulgesetz zur Inklusion ebenfalls nicht ausreichend geregelt.
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang sei die sonderpädagogische Fortbildung von Grund-, Haupt-, Real- und Gymnasiallehrern. Diese fühlten sich schon jetzt „alleine gelassen“.
Vor allem geht es um die Kinder
Dr. Stötzel warnt: An erster Stelle würden die Kinder, dann die Eltern, Lehrer und die Fachkräfte darunter leiden, wenn diese Fragen und Forderungen seitens des LEB nicht ernst genommen werden würden.
Das neue Schulgesetz ist zwar fertig, aber ein Stückwerk.
Vorsitzender des Landeselternbeirats weist Kritik zurück
In einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden des Landeselternbeirtas BW, Dr. Carsten Rees, am 18.11.2015 äußerte sich dieser zu der Pressemitteilung vom 16.11.2015 wie folgt:
Er sei verärgert über die in der Pressemitteilung getätigten Aussagen von Sonja Heddrich-Fenske und Dr. Stefan Stötzel. Frau Heddrich-Fenske sei Mitglied des Gremiums und Dr. Stefan Stötzel ihre Stellvertretung. Dr. Stefan Stötzel sei, laut Dr. Rees, nie bei den Sitzungen persönlich anwesend gewesen. Frau Heddrich-Fenske müsste es „eigentlich besser wissen“, denn die in der Pressemitteilung aufgeführten Kritikpunkte und Fragen seien in den Sitzungen nie aufgeführt beziehungsweise gestellt worden.
Dr. Rees kündigt seinerseits an, dass er am 19.11.2015 eine ausführliche Erklärung zu der am 16.11.2015 von Frau Heddrich-Fenske und Dr. Stefan Stötzel veröffentlichten Pressemitteilung abgeben würde.
Die Sicht der Martinsschule in Ladenburg
Auf Nachfrage äußerte sich Josef Jatzkowski, Konrektor der Ladenburger Martinsschule, diplomatisch: Die Entscheidung der Elternvertreter würden natürlich akzeptiert, denn die Sicht der Elternvertreter sei verständlich. Dennoch sei es sehr schade, dass deren Sicht durch den Landeselternbeirat wenig berücksichtigt worden wäre.
Rektor Kurt Gredel bedauert die Entscheidung von Frau Heddrich-Fenske und Dr. Stefan Stötzel. Beide wirken im Vorstand des Elternbeirats der Martinsschule in Ladenburg mit. Herr Gredel schätzt die Zusammenarbeit mit beiden Elternvertretern sehr.
Personelle Ressourcen und spezielle Infrastrukturen sind Voraussetzung das Inklusion gelingt
Herr Gredel ist der Auffassung, dass definitiv die Einstellung von Personal im Fokus stehen sollte, damit eine hundertprozentige Inklusion gelingen kann. Zudem ist es von besonderer Bedeutung, den gemeinsamen Unterricht (GU) zu fördern.
Es sollten immer mehrere Kinder mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot in eine Klasse an einer Regelschule integriert werden.
Doch das ist aufwändig. Ein Beispiel: Einem körperbehinderten Kind an einer allgemeinen Schule stünden fünf sonderpädagogische Stunden in der Woche zu. Zweien demnach schon zehn. Vieren 20 Stunden. Demzufolge stehen mehreren Kindern in einer Klasse an einer Regelschule deutlich mehr Stunden zur Verfügung. Dies würde sich positiv auf die Betreuungsqualität auswirken. Die konkrete Stundensumme für ein Kind wird jedes Jahr vom Organisationserlass des Landes BW neu festgelegt.
Zusammenarbeit von Regelschulen und Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ist wichtig
Zudem sei Voraussetzung für das Gelingen der Inklusion, dass allgemeine Schulen und die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren zusammenarbeiten. Und: Beide Systeme sollten gleichermaßen gefördert werden:
Dann wird das was!
Oder durch die „umgekehrte Inklusion“: Die Klasse einer Regelschule wird an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum unterrichtet.
Diese Möglichkeit sei besonders für mehrfach schwerbehinderte Kinder wichtig. Oft hätten allgemeine Schulen gar nicht die finanziellen uns strukturellen Möglichkeiten, die für diese Kinder notwendigen personellen und infrastrukturellen Bedingungen, zu schaffen. Im Umkehrschluss wären an den SBBZ diese Bedingungen bereits vorhanden.
Herr Gredel, als Rektor der Martinsschule in Ladenburg, würde dieses Konzept sehr gerne an seiner Schule verwirklichen. Doch: Die nötigen Räume fehlten.
Ist die Umsetzung des neuen Schulgesetzes zur Inklusion realistisch?
Sollten diese Voraussetzungen an den Regelschulen nicht bestmöglich umgesetzt werden, so Herr Gredel, dann sind auch die Eltern gefragt, nach bestem Gewissen zu entscheiden, welche Lösung für ihr Kind die Beste ist. Dann steht Inklusion zwar auf dem Papier – die bessere Betreuung findet aber nicht an den Regelschulen statt.
Eigentlich war das ja anders gedacht.
Info: Die Martinsschule in Ladenburg ist eine kreis- und länderübergreifende Schule für körperbehinderte Kinder und leistet seit ihrer Gründung 1981 seit 34 Jahren vorbildliche Arbeit. Zu ihrem Einzugsgebiet zählt der Landkreis Rhein-Neckar und Südliche Bergstraße/Hessen sowie die Städte Mannheim und Heidelberg. Insgesamt circa 300 SchülerInnen werden von rund 180 Mitarbeitern an verschiedenen Standorten unterrichtet.