Frankenthal/Rhein-Neckar, 18. Mai 2016. (red/pro) Rund 600 Menschen sind am Dienstag vor dem Wohnhaus zusammengekommen, wo in der Nacht zu Samstag ein zwei Monate alter Säugling getötet worden war. Nach der Veranstaltung tobt die Mitleids- sowie die Hasswelle auf Facebook.
Über 800 Menschen hatten über ein Facebook-Event ihr Kommen zugesagt, die Polizei hatte mit möglicherweise mehr als 1.000 Teilnehmern gerechnet – letztlich kamen rund 600 Menschen vor dem Haus zusammen, wo sich am Pfingstwochenende eine Beziehungstragödie abgespielt hatte.
Ein zwei Monate alter Säugling wurde getötet, vier Personen wurden verletzt – die Zusammenhänge sind noch immer im Unklaren.
Über Facebook war der Termin über eine private Initiative organisiert worden, um dem getöteten Kind „ein Stückchen Würde“ zurückzugeben.

Dieser Kameramann hat sich einen „günstigen“ Aussichtspunkt gesucht und filmt aus dem zweiten Stock einer Privatwohnung die Szenerie.
Es kam, wie es kommen musste. Die Bild-Zeitung veröffentlichte umgehend ein Foto der Mutter, deren Säugling vom Vater aus dem zweiten Stock einer Wohnung geworfen worden sein soll und das sofort an den Verletzungen gestorben sein soll. Nach offiziellen Angaben war das Kleinkind sofort tot.
Über diese Berichterstattung echauffiert sich jetzt die „Facebook-Gemeinde“ zutiefst empört. Vor Ort waren mehrere Kamerateams und andere Journalisten – wie auch ein Vertreter von Rheinneckarblog.
Der Unterschied: Wir wollten sehen, wie die Journalisten mit dem Thema umgehen. Eine inhaltliche Berichterstattung über die Tatsache hinaus, dass sich Menschen versammelt haben, war von uns nicht geplant. Wir haben im Vorfeld eingeordnet, wie es letztlich dann geschehen ist. (Sie finden die früheren Texte unterhalb dieses Artikels als Link)

Hauptsache draufhalten – „Emo-Bilder“ verlangen keine Recherche, keine analytische Einordnung.
Die bildorientierten Medien suchten höher gelegene Plätze auf, um bessere Bild-Positionen zu haben. Der Kameramann eines Regionalsenders ging bis ganz nach vorne, wo Kerzen, Blumen und Kuscheltiere abgelegt wurden, „um das beste Bild zu haben“.
Die Veranstalter forderten die Medienvertreter zuvor auf, nicht im inneren Bereich der Versammlung zu fotografieren und zu filmen. Weiter wurden die Menschen aufgefordert, nach dem Aufstellen der Kerze und einer Spende für die Familie den Ort zu verlassen, auch um Anwohner nicht über Gebühr zu stören. Nein, das war kein Witz, das war todernst gemeint.

Auf der Mauer, auf der Lauer… Bildjournalisten auf Aussichtspunkten.
Das innere Paradoxon, dass erst die Organisation des Massenevents nicht nur das Interesse von Teilnehmern, sondern auch der Medien überhaupt erst geweckt hat und für die Anwohner durch Straßensperrungen über Stunden eine Störung durch das Event eingetreten war, haben die Veranstalter entweder nicht verstanden oder bewusst ausgeblendet.
Wir haben in zwei früheren Kommentarbeiträgen die Problematik dieser Art von Zusammenkunft dargelegt. Unsere Prognosen sind insgesamt eingetroffen.
Die bleibende Frage heißt: „Hat der tote Säugling durch diese Versammlung eine Stückchen seiner Würde zurückerlangt?“ Die Antwort möge bitte jeder für sich selbst suchen.
Wir stellen fest – die Bild-Zeitung hat sofort nach der Veranstaltung ein Bild der weinenden Mutter veröffentlicht. Zuvor hat die Boulevard-Zeitung private Fotos des mutmaßlichen Täters und des getöteten Kindes veröffentlicht. Die Schlagzeilen sind eindeutig und falsch – ein „Meer aus brennenden Kerzen“ hat es nicht gegeben. Auch nicht ein „brennendes Herz“, das mit Kreide auf den Boden aufgemalt war und eigentlich von Kerzen gesäumt sein sollte.
Die „Facebook-Trauergemeinde“ lässt nach der „Trauer“ nun der Wut über diesen „Drecksjournalismus“ ihren Lauf und versteht nicht, dass man selbst Teil dieser Inszenierung war. Jeder, der die Veranstaltung besucht hat, wollte Teil dieses „öffentlichen Auflaufs“ sein.

Pflichttermin – Oberbürgermeister Martin Hebich ist selbstverständlich vor Ort, gibt Interviews. In einer Anfrage von uns reagiert er professionell, teilt glaubhaft seine Anteilnahme mit. Zuvor hat er vor der versammelten Menschenmenge gesprochen – spürbar um Worte ringend. Was soll man schon sagen?
Und jeder ist selbst für die Teilhabe verantwortlich – was Medien daraus machen, ist ebenso offen wie die Kommentare der „Facebook-Gemeinde“.
Wenige sind reflektiert, die meisten suchen und genießen die Aufmerksamkeit – die Bild-Zeitung vermarktet sie wie gewohnt professionell, immer dann, wenn es um TTT – Tiere, Titten, Tote geht. Das ist ihr Element – und sie ist und bleibt Europas erfolgreichste Boulevard-Zeitung, weil die Blut- und Spermaberichte Absatz finden.
Das Wort „Würde“ hat dabei keinen Platz. Ob diese Veranstaltung dem getöteten Baby „ein Stückchen Würde zurückgegeben hat“?
Die „würdetragende“ Stadtgesellschaft war bis auf den Oberbürgermeister eher nicht anwesend, sondern „einfache“ Menschen, die vermutlich im Alltag wenig Würde erfahren und wissen, was die Sehnsucht danach bedeutet.
Auch diese Sehnsucht, endlich mal „wahr genommen zu werden“. Den täglichen Schmerz zu teilen, der jetzt eine Familie so endgültig zerrissen hat.
Wer geduldig ist, hört die Geschichten von Suff und Vorstrafen, von Existenzängsten und Gewalt, von Familienchaos und Zukunftsängsten. Und diesem Traum von Hoffnung auf ein besseres Leben oder zumindest der kleine Bitte, doch bitte „davon, was hier passiert ist“, verschont zu bleiben.
Soviel ist den Leuten mittlerweile klar – keine Interviews mit Medien. Denn die wollen einen nur verarschen. Ist das so? Ja. Leider ist das oft so. Es geht nur um das Event und nur selten um Hintergründe.