Rhein-Neckar, 18. April 2016. (red) Die Debatte um das “Schmähgedicht” des ZDF-Moderators Jan Böhmermann gegen den türkischen Staatspräsidenten ist so niveaulos, dass man das nicht mehr unterbieten kann? Haha. Das dachten Sie. Es geht aber noch schlimmer, wie vor allem Medien und deren Journalisten jeden Tag aufs Neue beweisen. Fakten werden aus dem Zusammenhang gerissen, wildeste Spekulationen werden angestellt und darauf folgen logische Kurzschlüsse in Kettenreaktion. Alle kreischen was von “Freiheiten”, die es zu schützen gilt und kaum jemand stellt Fragen nach Verantwortung.
Von Hardy Prothmann
Ihr denkt also, dass Merkel die Gewaltenteilung hätte missachten sollen, um gegen Erdogans Missachtung der Gewaltenteilung zu protestieren?
Sascha Lobo, bekannt als Blogger, Journalist, Kolumnist kommentiert in seiner prägnanten Kühle die Aufregung um die Debatte, ob Kanzlerin Dr. Angela Merkel die Strafverfolgung nach Paragraf 103 Strafgesetzbuch hätte untersagen müssen, statt den Fall der Justiz zu überlassen.
Was Herr Lobo klug in einem Satz auf den Punkt bringt, wird von gefühlt jedem Medium mit ein wenig Sendungsbewusstsein thematisiert. Nach aktuellen Umfragen zeigt das Wirkung und mehr als zwei Drittel der Deutschen sollen die Entscheidung der Kanzlerin für falsch halten.
Aber…
Wen man soweit überzeugen kann, dass deren Entscheidung diplomatisch vernünftig, politisch eben nicht anstößig, sondern einfach nur korrekt war, der kontert: “Aber ohne ihre Politik wäre es gar nicht so weit gekommen. Die kuschelt und kuscht doch nur.” Dann folgt: “Merkel muss weg.” Und dann noch: “Die ist verrückt.” “Die hat das Land verraten.” “Die ist verantwortlich, dass Erdogan sich unseres Systems bemächtigt.” Und weiteres Zeugs, das überwiegend kompletter Unsinn ist.
Man kann über die Politik der Angela Merkel und deren Fehler diskutieren. Man kann den Türkei-Deal für falsch halten – so wie wir das tun, nicht grundsätzlich, aber in der Form auf alle Fälle. Aber das ist eine andere Baustelle. Auch die Politik von Herrn Erdogan in der Türkei ist eine andere Baustelle. Die allergrößte Baustelle ist aber, dass offenbar viele Menschen denken, dass man den Rechtsstaat so hinbiegen kann, wie man das will. Wer behauptet, Frau Merkel hätte “politischen Einfluss” auf die Strafverfolgung genommen, indem sie dieser stattgegeben hat, blendet gleichzeitig aus, dass sie das auch getan hätte, wenn sie dem Anliegen der Türkei widersprochen hätte. Und dann?
Haben Sie das verstanden? Egal wie Frau Merkel sich entscheidet – die jeweils andere Wut findet genug Nahrung, um Schaum vors Maul zu bekommen und zu toben. Nur eine kleine Minderheit registriert offenbar, dass Frau Merkel eben nicht gekuscht hat. Sie hat nicht klug, sondern nur korrekt gehandelt. Eine Absage an das Ersuchen wäre die Steilvorlage gewesen, dass ein Herr Erdogan behaupten könnte, die Deutschen hielten sich nicht an ihre Rechte.
Stich- und Reizwörter als ultimativer Beweis
Für alle, die nur noch wütend sind, spielt Differenzierung keinerlei Rolle mehr. Es reicht der Zitatausriss, es reicht ein Stich- oder Reizwort und sofort ist der Puls auf 180 und es wird losgewettert, was das Zeug hält. Und jeder sucht sich exakt den Artikel, den Zitatausriss, der seine Sicht der Dinge “belegt”. Der “ultimative Beweis” besteht häufig aus nur wenigen Sätzen und meist nur noch aus einem Link.
Die Rolle der Medien spiegelt dieses für-oder-dagegen-Lagerdenken absolut wieder. Eine Stellungnahme der Kanzlerin, in der sie die Strafverfolgung freigibt, aber gleichzeitig die höchsten Rechtsgüter der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in Richtung Türkei betont, gleichzeitig aber auch an die guten Beziehungen appelliert, ist für viele Journalisten entweder zu intellektuell oder vollständig ungeeignet, um ordentlich Rabatz zu machen. Deshalb wird zugespitzt, die Zitate werden ausgerissen, das Reizwort fällt und die Wut nimmt ihren Lauf.
Miese Medien und falsche Fakten
Ein Beispiel: Die “Strafverfolgung” wird von vielen Medien so beschrieben, als drohten Herrn Böhmermann tatsächlich drei bis fünf Jahre Gefängnis. Das ist kompletter Unsinn. Irgendwo und irgendwann thematisieren die “seriöseren” Medien das auch in Bezug auf das Begehren des Herrn Erdogan im Nebensatz. In den Kommentaren stellen diese es aber immer wieder so dar, als regiere der türkische Staatspräsident in Deutschland durch. Das ist nichts anderes als verantwortungslose Versuche der Volksverdummung.
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Dass eine Staatsanwaltschaft Anzeigen zu prüfen hat, dass diese sowohl belastende als auch entlastende Fakten zu sammeln hat, wird so gut wie nie erklärt – vielleicht, weil die Journalisten das nicht wissen, vielleicht, weil es die geile Geschichte und die Wut kaputt machen würde. Auch eine mögliche Anklage ist noch längst keine Verurteilung – denn Urteile sprechen unabhängige Richter auf der Basis von Gesetzen. Und der Beklagte kann sich wehren – im Fall Böhmermann mit einem der bekanntesten, teuersten und erfolgreichsten Rechtsanwälte Deutschlands, dessen eigene mögliche Verstrickung in den Fall Böhmermann noch vollständig offen ist.
Freiheit für Böhmermann?
Die vielen Böhmermann-Fans, die allermeisten finden sein “Schmähgedicht” zwar mindestens “nicht gelungen”, wollen aber trotzdem “Freiheiten” verteidigen oder verteidigt sehen, wundern sich nicht, dass Herr Böhmermann sehr, sehr frei ist. Er kann eben einfach mal vier Wochen Sendepause machen – wer zahlt eigentlich seiner Produktionsfirma den Ausfall der Einnahmen? Hat da jemand der Journalisten schon mal nachgefragt?
Der ZDF-Intendant Thomas Bellut behauptet im Spiegel, er hätte die Löschung des “Schmähgedichts” veranlasst – uns teilte der Pressesprecher mit, es sei der Programmdirektor gewesen. Der verantwortliche Stoffredakteur werde nicht zur Verantwortung gezogen – dabei lag die Sendung einen Tag lang vor und der Redakteur kam nicht auf den Gedanken, mal einen Juristen draufschauen zu lassen? Das ZDF behauptet, die Geschäftsleitung hätte von der Passage nichts gewusst. Das ZDF löscht also die Passage, weil sie nicht den “Qualitätsansprüchen” entspricht, ist aber bereit, Herrn Böhmermann “vollen Rechtsschutz” zu geben – sprich Anwaltshonorare und Gerichtskosten in Höhe von mehreren zehntausend Euro einfach so zu bezahlen? Aus Gebührengeldern?
Wie viel Freiheit will man noch für Herrn Böhmermann? Er bezichtigt den türkischen Staatspräsidenten Erdogan der übelsten Dinge, macht danach mal ein paar Wochen Sendepause und die juristischen Kosten übernimmt der Sender? Sollte es zu einer Verurteilung kommen, fallen Gerichts- und Anwaltskosten an, vielleicht eine Geldstrafe – dafür muss er nicht gerade stehen.
Er ist ein Entertainer, der von Aufmerksamkeit lebt und hat sie als F-Promi in einer Form, die nicht zu überbieten ist. Es gibt Einschränkungen seiner Freiheit, beispielsweise durch Drohungen gegen ihn. Das ist für viele Personen, die anständige politische Aufklärungsarbeit machen, leider häufig so.
Hasskommentare? Nur von anderen
Haben Sie die Debatte über die “Hasskommentare” in sozialen Medien verfolgt? Da waren alle deutschen Medien, hinter denen Medienunternehmen stecken, gegen Facebook – ein Medienunternehmen, das mit anderen um Aufmerksamkeit und Anzeigen konkurriert.
Wie stehen Sie zu Kommentaren, die menschenverachtend und rechtsradikal sind? Wie begründen Sie die Freiheit der Schmähung in Form einer Satire gegenüber der Unfreiheit, nicht mal ordentlich über Juden oder Zigeuner abzuhetzen?
Auf wie vielen politischen Veranstaltungen waren Sie so in letzter Zeit? Wie viele Medien konsumieren Sie? Wie viel Zeit nehmen Sie sich für differenzierte Artikel oder reichen Ihnen die Überschriften für eine Meinungsbildung? Haben Sie mal mit Türken über das “Schmähgedicht” gesprochen? Haben Sie sich vorgestellt, wenn dieses in dergleichen Form über einen israelischen Politiker oder den amerikanischen Präsidenten verfasst und öffentlich gemacht worden wäre – Stichwort Gaza oder Guantanamo?
Feige Drecksau – nächste Eskalationsstufe?
Kennen Sie schon den neusten “Debattenbeitrag” zur Causa Böhmermann von Herr Prof. Dr. Bernd Lucke, ehemals Chef der AfD, jetzt Chef von Alfa? “Böhmermann ist eine feige Drecksau”?
Halten Sie das für eine Beleidigung? Dann liegen Sie richtig. Das ist eine Beleidigung und das Kalkül ist, dass Herr Lucke damit rechnet, diese äußern zu können, weil Herr Böhmermann nicht dagegen vorgehen wird, weil er sich sonst “lächerlich” machen würde. Würde er das? Ganz sicher nicht. Er würde sein Recht wahrnehmen, sich beleidigt zu fühlen und dies von der deutschen Justiz überprüfen zu lassen. Er hat das Recht dazu, ebenso wie Herr Erdogan. So geht das in einem Rechtsstaat.
Richtig – der ist nur “theoretisch” für alle gleich. Es geht schon bei der “Waffengleichheit” los – wer viel verdient, kann sich die teuren Anwälte leisten oder wie im Fall Böhmermann, lässt einfach jemand anderen bezahlen. Für andere sind teure Rechtsstreitigkeiten existenzbedrohend – ich weiß, wovon ich rede.
Lassen Sie Ihr Mütchen nun wieder aufladen, wenn die Medien die “Drecksau”-Debatte thematisieren sollten? Das Reizwort ist gesetzt – ein Zitatausriss ist es nicht. Herr Lucke schreibt einen langen und differenzierten Beitrag zur Lage der Türkei – doch dieses Umfeld rechtfertigt nicht seine Beleidigung. Ich hoffe sehr, dass Herr Böhmermann gegen die Beleidigung vorgeht – er wird gewinnen und Herr Lucke wird eine Unterlassungserklärung unterzeichnen müssen.
Der Rechtsstaat als Motor der Wut
Mulmig wird mir allerdings beim bevorstehenden Prozess zum “Schmähgedicht”. Ich persönlich vermute, dass Herr Böhmermann verlieren wird. Das gefällt mir nicht, weil sich damit Herr Erdogan “durchsetzt” – er regiert nicht durch, sondern wird bestätigt, dass er übelst beleidigt worden ist. Weiter kann Herr Erdogan dann darauf verweisen, dass ein Großteil der deutschen Presse für Herrn Böhmermann war und gegen Herrn Erdogan – wenn Herr Erdogan will und das ist zu befürchten, wird er das als tief sitzenden, strukturellen Türkenhass der Deutschen deuten. Sollte Herr Böhmermann sich durchsetzen, wird Herr Erdogan den Beweis dafür haben, wie verderbt der westliche Rechtsstaat ist und seinen konservativen Anhängern, die die Mehrheit in der Türkei und außerhalb stellen, aufzeigen, wie schändlich dieser westliche Rechtsstaat doch ist. Mit einem Wort – egal, wie das Urteil gefällt wird, es wird Stoff für neue Wut sein.
Richtig ist – man muss unsere Freiheitsrechte verteidigen. Aber mit Sinn und Verstand. Freiheit darf niemals verantwortungslos sein. Freiheit verpflichtet zum sorgsamen Umgang mit dem Recht und nicht zur willenlosen Spreizung bis an den Rand des Zumutbaren. Wir stellen uns das Ergebnis vor: Der deutsche Rechtsstaat verteidigt die Freiheit von “Künstlern”, Staatsoberhäupter anderer Staaten, als zoophile Ziegenficker zu bezeichnen.
Wutheit vs. Überlegenheit
Irgendwelche Intellektuelle auf irgendwelchen Meta-Ebene mögen dies “geil” finden und dann rauschende Ziegenficker-Parties feiern – ganz normalen Menschen wäre das nicht vermittelbar und den allermeisten Menschen in den allermeisten Ländern dieser Welt schon gar nicht.
Freiheit – und das haben die allerwenigsten Böhmermann-Apologeten verstanden – ist nicht nur Verantwortung, sondern auch die Pflicht, sich im Wortsinn überlegen zu zeigen. Denken Sie – oder besser – überlegen Sie mal, was das meinen könnte.
Wenn Ihnen das zu anstrengend ist, tun Sie, was Sie tun müssen, um Ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Sie sind nicht in allerbester Gesellschaft, aber sicherlich Teil der mehrheitlichen Wutheit. Und je wütender Sie sind, umso besser stehen Ihre Chancen als Zitatausriss in den Medien vorzukommen.
Anm. d. Red.: Unsere Kolumne Montagsgedanken greift außerhalb des Terminkalenders Themen auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Gesellschaft oder Regionales oder Verkehr. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden…