Mannheim, 18. Januar 2016. (red/nh) In Metropolen explodieren die Mietpreise. Das sprengt die Möglichkeiten vieler Geldbörsen. Immer mehr Menschen sind auf preisgünstige Angebote – wie sozialen Wohnungsbau – angewiesen. Hier ist Mannheim verhältnismäßig stark aufgestellt: Die GBG betreibt knapp 20.000 Wohnungen in der Stadt, der Löwenanteil davon mit weit unterdurchschnittlichen Mietpreisen. Doch viele Gebäude sind bereits mehrere Jahrzehnte alt und dringend sanierungsbedürftig. Während dafür Bauarbeiten durchgeführt werden, müssen Mieter für einige Wochen in „Drehscheiben“ umziehen. Das führt zu Wohnungs-Tetris.
Von Naemi Hencke
Stellen Sie sich vor, Sie wohnen schon seit vielen Jahren in Ihrer Wohnung. Vielleicht im 13. Stockwerk eines Hochhauses in Mannheim. Sie haben sich eingerichtet und fühlen sich wohl. Die Aussicht ist fantastisch. Es ist schön so, wie es ist.
In diesem Haus wohnen weitere 96 Mietparteien. Und plötzlich sollen Sie schon in drei Monaten ausziehen, weil in der Wohnung „Moderniesierungsmaßnahmen“ umgesetzt werden sollen.
Eine solche Ankündigung kann Existenzängste auslösen – insbesondere bei älteren Menschen. Stress ist vorprogrammiert. Fragen drängen sich auf: Kann man sich die Miete nach der Modernisierung überhaupt noch leisten? Was passiert, wenn nicht? Wie schafft man den Umzug, wenn man kaum zeitliche oder körperliche Kapazitäten hat?
Jeder achte Mieter in Mannheim wohnt in einer von der GBG geförderten Wohnung – also fast 50.000 Menschen. Der Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft mbH (GBG) gehören 19.168 Mietwohnungen (Stand November 2015) in Mannheim. Das entspricht fast 15 Prozent des Gesamtbestandes in der Stadt.
Knapp drei Viertel des GBG-Eigentumbestandes sind vor 1970 gebaut. Insgesamt sind somit rund 14.032 Wohnungen über 50 Jahre alt und stark modernisierungsbedürftig. Die GBG muss handeln.
Seit 15 Jahren sind die Modernisierungsmaßnahmen exzessiv. Im vergangenen Jahr hat die GBG 58,1 Millionen Euro für Instandhaltung und Modernisierung ausgegeben,
sagt Christian Franke, Leiter der Stabstelle für Unternehmenkommunikation der GBG.
Wir haben uns am Beispiel der drei Hochhäuser in der Hessischen Straße angeschaut, was das bedeutet.
Die GBG arbeitet hier mit dem Baukompetenzzentrum der Stadt Mannheim zusammen. In etlichen sogenannten „Portfoliositzungen“ geht es immer um solche Fragen: Renovieren? Modernisieren? Abreißen? Neu bauen? Was lohnt sich ökonomisch? Wie können die verschiedenen beteiligten Gewerke einer Großbaustelle möglichst reibungslos und effizient arbeiten? Wie geht man mit den betroffenen Mietern um?
Wenn der Fahrstuhl im 12 Stockwerk stecken bleibt
Eins ist definitiv unabwendbar – im Ist-Zustand können die 291 Wohnungen der Hessichen Straße nicht verbleiben. Die Stromleitungen sind marode, die Bäder und die Heizungsanlagen sind veraltet, die Fenster nicht der Norm entsprechend klimaeffizient, die Fahrstühle fahren nicht mehr zuverlässig – das ist vor allem für älterere Bewohner der höheren Stockwerke ein großes Ärgernis. Zumal die Fahrstühle sowieso nur jedes „gerade“ Stockwerk erreichen – so wurde das halt damals gebaut. Einzelne Balkone mussten bereits wegen Sicherheitsmängeln gesperrt werden.
Nach langem Hin und Her und vielen Überlegungen ist die Entscheidung endlich gefallen: Auch die Hochhäuser der Hessischen Straße werden von Grund auf modernisiert. Aber was passiert in der Zwischenzeit mit den Bewohnern? Den Mietern kündigen – wie es private Wohnungsbaugesellschaften im Falle einer Total-Sanierung oft tun – kommt für die GBG nicht in Frage. Das städtische Unternehmen hat eine hohe soziale Verantwortung gegenüber den Mietern.
Hier kommt das Konzept der sogenannten „Drehscheibenwohnungen“ ins Spiel.
Große Herausforderungen
„Drehscheibenwohnungen“ sind Leerstandswohnungen, die Mietern als zeitlich begrenzte Unterkunft dienen, die im Zuge der intensiven Modernisierungsmaßnahmen nicht in ihrer eigenen Wohnung bleiben können. Die Betroffenen ziehen mit Hab und Gut in diese teils renovierten Übergangswohnungen um. Sobald die kompletten Baumaßnahmen abgeschlossen sind, können die Mieter wieder zurück in ihre alte „neue“ oder beziehen eine gleichwertige modernisierte Wohnung.
Das ist kein Zuckerschlecken. Weder für die Mieter noch für uns,
sagt Katja Kalusche, Leiterin der dezentralen Verwaltungseinheit HSC3, gleichzeitig auch eine direkte Schnittstelle zu den Mietern.
Das Hin- und Herziehen bedeutet für viele Mieter einen schweren Kraftakt oder ein Ärgernis. Manche meinen, ihre Wohnung müsse nicht saniert werden und sie „büßten“ nun wegen der anderen 96 Mietparteien, weil „die“ ihre Wohnungen nicht ordentlich in Stand gehalten hätten. Andere leiden unter der psychischen oder körperlichen Herausforderung eines solchen „Zweifach-Umzugs“ – krankheitsbedingt oder weil sie schlicht schon sehr alt sind und eine Veränderung der gewohnten Umgebung „Angst und Stress“ vor der unbekannten neuen Umgebung mit sich bringt – nicht bei jedem, aber durchaus bei einigen.
Tetris in der Wohnungsbaugesellschaft
Das Konzept gleicht einem „Tetrisspiel“ und erweist sich in der Umsetzung als überaus kompliziert – organisatorisch hochgradig aufwändig. Zunächst wird den Bewohnern angekündigt, dass Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen. Eine der drängendsten Fragen ist sofort: „Kann ich die Miete danach noch bezahlen?“ Nicht wenige beziehen Sozialleistungen oder haben eine schmale Rente – oft kommt es auf jeden Euro an.
Mietpreissteigerung inklusive
Aktuell liegt der durchschnittliche Mietpreis der GBG-Wohnungen um die 5,70 Euro pro Quadratmeter. Die Mannheimer Durchschnittsmiete dagegen 6,71 Euro pro Quadratmeter. Demnach sind die Wohnungen in der Hessischen Straße vergleichsweise günstig. Nach der Modernisierung werden die aufzubringenden Kosten die ersten drei Jahre pro Quadratmeter 6,50 Euro betragen, danach bis 7,50 Euro gedeckelt.
Ist das eine „geringfügige Erhöhung“ – oder unbezahlbar? Das ist eine Frage des Standpunkts und vor allem des Geldbeutels. Bei 50 Quadratmetern wären es im Mittel immerhin rund 65 Euro mehr im Monat.
Klar ist: Keine Modernisierung ist kostenlos zu haben. Um soziale Härten zu mildern, kommt die GBG ihren Mietern mit der Kulanzspanne und der Deckelung entgegen. Mehrkosten werden zudem durch die Modernisierung teils wieder aufgefangen – beispielsweise durch geringere Heizkosten. Außerdem werden die Wohnungen wieder in einen zeitgemäßen Zustand versetzt. In einem Neubau zahlt man dagegen selten weniger als 12 Euro pro Quadratmeter – da sind sogar 7,50 Euro noch vergleichsweise moderat.
Um den Mietern entgegen zu kommen – frei nach dem Motto „man muss zusammen an einem Strang ziehen“ – organisiert die GBG den kompletten Umzug in „Drehscheibenwohnungen“ und die eventuell nötige Einlagerung von Inventar.
Win-Win-Situation
Das Angebot der Drehscheibenwohnungen bietet dem Mieter ein “Rundum-Sorglos-Paket“. Wenn nötig, organisieren wir auch Helfer für das Einpacken der Umzugskartons,
versichert Katja Kalusche.
Bei dem enormen Aufwand dürfe man nicht vergessen, dass die Modernisierung im bewohnten Zustand, immense Beeinträchtigungen für den Mieter bedeuten würde: Fahrstühle funktionieren nicht, Schmutz und Staub überall und jeden Tag, dazu Stromausfälle und eine enorme Lärmbelästigung.
Ist die Wohnung frei, können Handwerker der einzelnen Gewerke wesentlich schneller arbeiten. Die Dauer der Baustelle verkürzt sich erheblich und die Mieter können schneller wieder zurück in ihre eigenen Wohnungen.
Die Maßnahme kostet insgesamt natürlich viel Geld. Baukosten, die Renovierung der Ersatzwohnungen und Umzugs- bzw. Einlagerungskosten. Der Bauzeitplan ist straff: Rund neun Monate und schneller werden angesetzt, bis zur Fertigstellung der Baumaßnahmen. Es ist eine Gegenrechnung: Die schnellere Modernisierungszeit spart Geld, das Kosten für die Umsetzung in Drehscheibenwohnungen zwar nicht auffängt, aber mindert. So gesehen ist das neudeutsch eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Das „verrückte“ Prozedere in der Realität
Zurück zum aktuellen Beispiel „Hessische Straße“: Wie läuft das ganze Prozedere denn derzeit nun genau ab?
Die Hausnummer 91 wurde noch in bewohntem Zustand modernisiert. Die Baumaßnahme dauerte von Herbst 2013 bis Anfang 2015 – also fast eineinhalb Jahre.
Die Hausnummer 83 wurde zum letzten Jahreswechsel 2014/2015 leer gezogen – also nur neun Monate. Seit November 2015 ist dort die Modernisierung beendet und die Mieter ziehen aus ihren Übergangswohnungen zurück in ihre zuvor verlassene Wohnung oder in eine andere Wohnung im Haus Nr. 83.
Die Hausnummer 87 wird wieder über den Jahreswechsel 2015/2016 leer gezogen und den Mietern Ersatz in der frisch modernisierten Hausnummer 83 angeboten.
Da hier die gleichen Grundrisse vorhanden sind, entscheiden sich aktuell alle befragten Mieter, dauerhaft dort zu bleiben, weil sie sich dann einen zweiten Umzug ersparen. Das ist ja auch verständlich,
erklärt Katja Kalusche und ergänzt:
Manche kommen nach der überstandenen Maßnahme mit einem selbst gebackenen Kuchen vorbei und bedanken sich bei uns. Wenn die Mieter zufrieden sind, freuen wir uns auch. Und die Hessische Straße ist nach der Modernisierung nun definitiv nicht mehr die „Hässliche Straße“, wie sie zuvor oft genannt wurde.