Mannheim/Heidelberg, 17. November 2012. (red/ld/tt) Das 61. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg nähert sich seinem Finale. Morgen Abend werden die Preise der Jury und des Publikums vergeben. Unter dem Motto „Leben! Aber wie?“ stehen 28 Filme im Wettbewerb. Warum müssen wir uns das gerade jetzt fragen und wie wird das Festival in 50 Jahren aussehen? Darüber sprachen wir mit dem Festivalleiter Dr. Michael Kötz.

Festivalleiter Dr. Michael Kötz beim 61. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg (Foto: Timo Tamm)
Interview: Lydia Dartsch
Wie geht es Ihnen, Herr Dr. Kötz?
Dr. Michael Kötz: Gut – ich bin ein bisschen müde. Ich komme spät ins Bett, weil ja um Mitternacht der letzte Empfang ist und muss früh raus, weil so viel zu tun ist. Das ist aber jedes Jahr dasselbe. Insofern gewöhnt man sich dran.
Was macht denn der Festivalleiter den Rest des Jahres, wenn die Festivals gerade nicht laufen?
Kötz: Dieses Filmfestival zu organisieren, dauert ungefähr zehn Monate und das andere Festival zu machen, dauert etwa acht Monate. Macht zusammen 20 Monate und das Jahr hat nur zwölf.
Sie haben die Zeit besiegt.
Kötz: Meine Frau und ich arbeiten eigentlich immer. Das geht gar nicht anders. Dafür bin ich aber auch nicht jeden Tag im Büro. Ich arbeite, wann ich will. Das ist schon cool. Aber meine fünf Kinder fluchen. Die sagen: „Papa, Du sitzt immer nur am Schreibtisch!“
Das heißt, Sie planen schon für das kommende Festival?
Kötz: Ich hab übernächste Woche einen Termin wegen der Finanzierung für 2013. Dann schreibe ich einen Antrag, und dann geht’s ans Sommerfestival.
Jeder, der einmal da war, kommt wieder.
Welche Bilanz ziehen Sie zwei Tage vor Ende des Festivals?

„Man muss den Film auch wirken lassen.“
Kötz: Ich hab noch keine Ahnung. Ich weiß, dass wir eine steigende Zuschauerzahl haben, um wie viel Prozent ist noch offen. Das ist sehr erfreulich. Woran das liegt, dass das sich jetzt nochmal gesteigert hat, weiß ich nicht. Wir machen ja zum Beispiel Fragebögen, um das zu evaluieren. Da interessiert mich besonders, ob die Leute wegen des Themas kommen. Wir wollten damit neue Besucher zum Filmfestival bringen. Ich behaupte ja, dass jeder, der einmal da war, wiederkommt.
Warum haben Sie das Thema “Leben! Aber wie?” gewählt?
Kötz: Der eine Grund ist, dass wir alle täglich mit Filmen bombardiert werden. Das hat zur Folge, dass die Filme relativ belanglos werden. Und das ist schlecht für den Film. Das ist schlecht für Filmkunst. Das ist schlecht für das, was das Kino eigentlich kann, indem es sich ganz tief in Dinge hinein begibt und damit auch etwas auslöst, bei dem, der die Filme anschaut. Aber dazu muss man den Film auch wirken lassen. Ein Filmfestival muss auch dazu führen, dass man sich auf eine andere Weise mit Film befasst und das kann man mit so einem anspruchsvollen Thema machen. Da muss sich der Zuschauer Zeit nehmen und sich zurücklehnen.
Um was zu erfahren?
Kötz: Meine Interpretation ist, dass wir in einer Zeit leben, die von einer „Ökonomiemaschine“ bestimmt ist.
Alles muss effizient sein …
Kötz: Genau. Es muss sich vor allen Dingen lohnen, was man macht. Das ist auch in die Kunst eingezogen, dieses Denken und jetzt ist die entscheidende Frage, wie nahe das am Menschen dran ist und ich glaube, es ist ziemlich weit weg. Ich glaube nämlich, dass die Menschen gar nicht ökonomisch funktionieren.
Menschen funktionieren nicht ökonomisch.
Wie denn?
Kötz: Wenn man sich verliebt, ist man in der Lage, 17 Mal um die Welt zu fliegen, dafür alles Mögliche liegen zu lassen. Wenn man Kinder hat, wenn man sich um seine Eltern kümmert, wenn man den Nachbarn hilft, wenn man spazieren geht, sich an der Natur freut – handelt man unökonomisch! Wenn man sich überlegt, wann man sich sinnvoll verhält im ökonomischen Sinne, wird man feststellen: Fast nie. Und wenn man es tut, ist es fast nie erfüllend. Das ist ein Skandal!
Was jetzt genau?

„Gegen die Ökonomiemaschine machen wir jetzt ein Festival.“
Kötz: Die relativ hohe Beziehungsunfähigkeit bei jungen Menschen, die kaum noch in der Lage sind, sich auf einen anderen Menschen einzulassen und auch die Beziehungsfragen ziemlich ökonomisch handhaben, indem sie sagen: Naja, wie viel bringt mir das jetzt? Wie viel muss ich da investieren und lohnt sich das noch?
Woher kommt das?
Kötz: Weil Karriere machen und sich selbst durchschlagen eine Folge des ökonomischen Denkens ist, das alles andere dominiert. Deswegen machen wir jetzt ein Festival dagegen.
Gegen die Ökonomiemaschine?
Kötz: Genau. Ich mach das nicht, weil ich damit Geld verdiene. Ich will schon etwas bewirken und bewegen.
Die Protagonistin in „Mi Universon en Minúsculas – My Universe in Lowercase“ von Hatuey Viveros läuft auf der Suche nach ihrem Vater, den sie nicht kennt, ganz Mexico-Stadt ab. Dabei entstehen viele Freundschaften. Ein unökonomisches Verhalten?
Kötz: Das ist zutiefst unökonomisch. Und es freut mich ganz besonders, dass der Film so vielen Menschen gefallen hat. Damit habe ich gar nicht gerechnet.
Was gefällt Ihnen an Filmen? Wann ist ein Film richtig gut?

„Naive Kreativität ist wie Hamburger futtern. Wirkliche Kreativität bringt die Menschen zum Staunen.“
Kötz: Wenn sich die Filme etwas einfallen lassen, nicht nur in der Geschichte. Es gibt eine naive Kreativität und eine wirkliche.
Das erklären Sie mir?
Kötz: Naive Kreativität ist sehr weit verbreitet: Es ist ein Grundraster, wie man erzählt, was jeder kennt. Die klassische dramatische Grundstruktur im Spielfilm, die typischen Klischees, wenn und wie zwei Menschen sich sehen, sich begegnen, verlieben oder nicht lieben, hassen.
Was ist Wirklichkeit? Was ist Zeit? Wer bin ich?
Aha.
Kötz: Das ist wie Hamburger futtern: Du weißt schon vorher, wie das schmeckt. Das ist beruhigend. Du fühlst dich sicher. Ich bin kein Snob. Ich sage nicht wie doof die Leute sind. Ich sage nur, dass es schade ist. Es entgeht ihnen viel.
Was ist hingegen die wirkliche Kreativität?
Kötz: Die wirkliche Kreativität besteht eben darin, dass ich in Erzählstrukturen kreativ bin wie zum Beispiel in dem mexikanischen Film. Die Geschichte, dass sich eine an ihre Kindheit erinnert und damit nicht klar gekommen ist. Mehr nicht. Das ist schon tausendmal erzählt worden. Das kann man immer wieder erzählen. Die Frage ist: Wie kann man das erzählen? Komme ich dabei ins Staunen oder fange ich an, darüber nachzudenken.? Was ist Wirklichkeit? Was ist Zeit? Wer bin ich?
Was passiert bei dem Filfestival denn abseits der Filme?
Kötz: Ein Filmfestival ist gleichzeitig ein Treffpunkt für Fachleute auf allen möglichen Gebieten: welche, die mit Filmen handeln, Künstler, die die Filme machen. Es gibt Journalisten, die darüber schreiben, Wissenschaftler, alles Mögliche. Solche professionellen Beziehungen zum Medium Film muss ein internationales Filmfestival ermöglichen. Ansonsten bist Du ein großes schönes Kino. Das ist aber so kompliziert, das kann ich jetzt nicht darstellen.
Davon bekommt das Publikum hier aber auch nichts mit.
Kötz: Überhaupt nicht. Ich darf auch gar nicht sagen, wer da dabei ist, weil dann die Autogrammjäger kommen. Aber es sind ein paar dabei, die wirklich wichtig sind in dieser Filmwelt.
Ich hasse Science-Fiction-Filme.
Reden wir mal über die Zukunft des Festivals. Wie lange wird es das Festival denn noch geben, also mit den neuen Möglichkeiten, den neuen Medien?
Kötz: Das ist ne gute Frage. Dieses Festival ist 61 Jahre alt. Ich gehe eine ziemliche Wette ein, dass es das noch gibt, wenn ich nicht mehr lebe. Wie das dann in 50 Jahren, weiß ich nicht. Ich glaube schon, dass da medial ziemlich viel passieren wird.
Was können Sie sich als Motto fürs nächste Jahr vorstellen?
Kötz: Da hab ich noch nicht drüber nachgedacht.
Könnte es auch mal um die Frage gehen, wie wir in 100 Jahren leben? Also ein Science- Fiction-Festival?
Kötz: Ich hasse Science-Fiction-Filme.
Gehen Sie denn noch ins normale Kino?
Kötz: Nein.
Gar nicht mehr?

„Ein Film kann langsam sein, aber nicht langweilig.“
Kötz: Naja, ich sehe so viele Filme im Jahr bei zwei Festivals. Drei Wochen lang Filme. Und zwar so 12 am Tag, oder 15.
Wie geht das? Ein Film ist doch so um die 90 Minuten lang.
Kötz: Ich spule vor. Wenn ich dauernd vorspule, dann sortiere ich ihn aus. Der Film kann zwar langsam sein, aber er darf nicht langweilig sein.
Wenn ich zum Abschluss nochmal auf das Motto „Leben! Aber wie?“ zurückkomme: Haben Sie denn den Weg zum Glück für sich gefunden?
Kötz: Glück kann man erstens nicht machen und zweitens nicht allein. Man muss es kriegen. Und je öfter man alleine ist, desto weniger glücklich ist man. Menschen sind die einzigen Herdentiere, die annehmen, dass sie’s nicht sind.