Frankenthal/Rhein-Neckar, 17. Mai 2016. (red) In der Nacht von Freitag auf Samstag kam es in Frankenthal zu einem Familiendrama. Ein zwei Monate altes Baby wurde getötet, eine Frau und ein sechsjähriges Mädchen wurden ebenso wie der Tatverdächtige und ein weiterer Mann verletzt. Über Facebook wird prompt zu einer Massenkundgebung aufgerufen – ist das noch Anteilnahme oder hat das schon Partycharakter?
Kommentar: Hardy Prothmann
Es gibt Texte, die schreibt man nicht gerne. Vorab: Jeder Mensch, der emotional nicht verroht ist, wird von der traurigen Nachricht des Todes des Säuglings berührt sein. Mensch sein heißt auch, sich nicht nur von Gefühlen treiben zu lassen, sondern ebenso seinen Verstand zu benutzen. Verantwortlich handelt nur, wer Fragen stellt, um Antworten zu finden.
Wie angemessen ist es, wenn sich eine Masse von mehreren hundert Menschen, die Polizei stellt sich sogar auf über 1.000 Personen ein, heute Abend um 20 Uhr vor einem Haus in Frankenthal einfinden wird, um ihr „Mitgefühl“ für ein erst vor wenigen Tagen zu Tode gekommenes Kind zu zeigen?
Aus den vergangenen Jahren kennt man viele Beispiele von so genannten „Facebook-Parties“, bei denen sich mit einem Male neben geladenen Gästen Unmengen von Fremden einstellten – meist mit ungutem Ausgang.
Nun soll es heute Abend zu einer „Betroffenheitsbewegung“ ungekannten Ausmaßes kommen. Über 700 Menschen aus der gesamten Umgebung von Frankenthal, aus Haßloch, Bad Dürkheim, Heidelberg und Mannheim und sogar aus Aalen haben sich zum Termin über Facebook angemeldet, um dem „Engel“, der „Prinzessin“ zu gedenken.
Auf der Terminseite werden mitleidsvolle Beiträge und Fotos gepostet – statt stiller Trauer wird die Aktion erst zu einer virtuellen und dann zu einer realen Massenveranstaltung für sich betroffen Fühlende, die aber allesamt nicht persönlich Betroffene sind. Der allergrößte Teil kannte weder das Kind noch sonst jemanden der Familien.
Mit dabei werden Fernseh- und Fotokameras und Reporter sein. Die Objektive werden auf die Masse gerichtet und nach besonders betroffenen fühlenden Menschen suchen, um deren „entsetzte“ Gesichter einzufangen. Mikrofone werden gehalten, in die dann „betroffene“ Menschen ihr „Entsetzen“ und ihren „Schock“ sprechen dürfen. Für gewisse Medien wird die Zusammenkunft ein „Fest“ sein – emotionaler geht nicht. Diese Nachrichten werden sich gut verbreiten lassen.
Diese Bilder und Töne werden erst von Medien veröffentlicht und im Anschluss über soziale Netzwerke erneut verteilt werden. Wieder mit betroffenen Kommentaren, aber auch solchen, die zur Gewalt gegen den Tatverdächtigen konkret und im Allgemeinen aufrufen. Herz und Hass – beides wird in Kübeln ausgeschüttet werden; nur kein Hirn. (Lesen Sie hierzu unseren Beitrag: „Lasst dem toten Säugling und seinen Geschwistern ihren Frieden„)
- Geht es tatsächlich noch um das tote Baby oder geht es eher darum, sich selbst und seinen individuellen Schmerz, der woraus auch immer resultiert, in der Masse einer Betroffenheitsbewegung zu zelebrieren?
- Hilft dieses Massenevent tatsächlich den betroffenen Familien, das erlittene Unglück besser zu verarbeiten?
- Oder geht es eher um jeden Teilnehmer selbst, der oder die irgendetwas für sich besser gemeinsam mit anderen „verarbeiten“ möchte?
Die öffentliche Zelebrierung eines privaten Unglücks wird genau das Gegenteil dessen bewirken, was möglicherweise beabsichtigt ist: Man wolle, so die Anmelderin, dem toten Kind ein „Stückchen ihrer Würde zurückgeben“ – ist eine Massenveranstaltung dafür tatsächlich geeignet? Wäre es nicht besser gewesen, eine Postadresse zu nennen, an die Kondolenzen gesendet werden können?
Niemand muss sich schuldig fühlen – Mitgefühl zu haben, ist durchaus positiv. Aber Teil einer Betroffenheitsmasse zu sein, hat nichts mit individuellem Mitgefühl und persönlicher Trauer zu tun. Man ist Teil einer Bewegung. Man gehört dazu, alle die nicht dabei waren, nicht. Und das gibt den Teilnehmern vermutlich das Gefühl, besonders zu sein und deswegen dabei sein zu müssen.
Das kleine Baby ist kein Engel, wie es vielfach auf Facebook genannt wird. Es war ein kleiner Mensch, der früh aus dem Leben gerissen worden ist. Es schaut auch nicht von oben zu, wie viele auf Facebook schreiben. Es ist tot.
Wer ihm wirklich Frieden wünscht, sollte das mit angemessener Pietät tun. Angeblich ist die Veranstaltung mit der Familie „abgestimmt“ – diese ist tatsächlich in einer emotionalen Schocklage und kann allein schon deswegen die möglichen Auswirkungen nicht überblicken. Anteilnahme hat keine reale Größe – schon gar nicht nur Masse. Persönliche Anteilnahme ist nicht massentauglich.
Ist es würdevoll, den schnellen, unerwarteten Tod als vermutliche Folge eines Beziehungsstreits mit einer solchen Veranstaltung so dermaßen zu überhöhen, dass er auf lange Zeit ins kollektive Gedächtnis gebrannt wird? Entwürdigt man nicht jedes andere gestorbene Kind in Zukunft, dem nicht gleichermaßen „gedacht wird“?
Wie geht es nach heute Abend weiter? Kommen zur Beerdigung des Kindes dann nur noch viel weniger Menschen oder gar noch mehr? Was passiert am Jahrestag des Todes? Erinnert sich dann noch jemand der heutigen Teilnehmer? Oder kommen noch mehr? Und in zehn Jahren?
Ja – es wird jede Menge Leute geben, die mir nach der Lektüre dieses Textes vorwerfen, ich würde die Teilnehmer „schlecht“ machen, also die, die doch „nur Gutes“ wollten.
Nein, ich will niemanden „schlecht“ machen, sondern anregen nachzudenken, ob Gutes wollen auch Gutes bringt oder ob Zweifel angebracht sind.
Kein Mensch, der nicht teilnimmt, ist deswegen schlecht oder herzlos. Ebenso keiner, der nicht „geschockt“ ist, sondern einfach nur meint, dass dies ein tragischer Fall ist. Kindstötungen kommen immer wieder vor, so wie Mord und Totschlag. Jeder Fall ist tragisch – hängt die Form der Würde in Zukunft von der Größe der „Trauergemeinde“ ab? Wollte man für sich selbst, dass nur wenige Tage nach dem Unglück hunderte und mehr Menschen sich derart versammeln?
Denken Sie drüber nach und diskutieren Sie mit anderen darüber.
Anm. d. Red.: Wir orientieren uns bei der Berichterstattung übrigens, insbesondere wegen des Alters des Todesopfers, strikt am Pressekodex – im Gegensatz zu den allermeisten anderen Medien.