
Nele und Linn Schüßler besuchen dieselbe Grundschule in Heddesheim. Ohne ihre Implantate wäre Nele (links) aber taub.
Heddesheim/Weinheim/Rhein-Neckar, 16. Oktober 2013. (red/ld) Ihre Taubheit sieht man Ihr nicht an: Sie mag Musik, egal ob laut oder leise. Sie liebt Hip-Hop und Tanzen, Voltigieren und Karate. Nele ist von Geburt an gehörlos. Trotzdem geht die Siebenjährige auf dieselbe Schule wie ihre Schwester. Seit drei Jahren haben Eltern beeinträchtigter Kinder das Recht, ihre Kinder auf eine Regel- und nicht auf die Sonderschule zu schicken. Und das wird sehr gut angenommen – trotz vieler Hürden.
Von Lydia Dartsch
Als Nele zur Welt kam, war die Freude bei Familie Schüßler aus Heddesheim groß: Ein gesundes Mädchen. Ihre zweite Tochter. Zunächst deutete nichts auf ihre Hörbehinderung hin. Das Hörscreening-Gerät war an ihrem Geburtstag defekt.
Doch den Eltern fiel auf, dass bei Nele etwas anders war, als bei der Geburt ihrer ersten Tochter Linn zwei Jahre zuvor: Nele habe nicht auf Rasseln oder Geräusche allgemein reagiert, wie es Babys sonst tun. Ivonne und Per Schüßler waren sicher, dass etwas nicht stimmte. Der Kinderarzt konnte zunächst nichts feststellen. Erst das nachgeholte Hörscreening bei Nele schaffte Klarheit: Die Reizleitung zwischen Trommelfell und Hörnerv ist unterbrochen. Nele ist taub. Für die Eltern ein Schock. Ratlosigkeit. Und dann der Entschluss:
Nele soll so „normal“ aufwachsen wie möglich.
Im zarten Alter von einem Jahr wurde das Mädchen operiert. Ein Spezialist in Hannover öffnete ihr den Kopf und setzte ihr auf beiden Seiten des Schädels ein Cochlear Implantat ein. An ihren Ohren trägt Nele Hörgeräte mit Prozessoren, die ankommende Geräusche in elektrische Impulse umwandeln. Per Kabel werden diese an ein Plättchen weitergeleitet, das auf Neles Kopf liegt und dort magnetisch am Gegenstück an der Schädeldecke haftet und die Reize ins Innenohr an den Hörnerv überträgt.
Es sei beängstigend für Nele gewesen, als sie die ersten Geräusche gehört habe, erinnern sich ihre Eltern. Davor hatte sie in völliger Stille gelebt: Keine Herztöne im Bauch ihrer Mutter. Keine Sprache. Keine Alltagsgeräusche. Erst nach und nach wurde die Lautstärke erhöht und Nele an ihren neu-erworbenen Sinn gewöhnt. Sie lernte sprechen und liebt heute Musik und tanzen.

Im Alter von einem Jahr wurde Nele ein Cochlear-Implantat eingesetzt. Seitdem kann sie hören.
Nur zum Schwimmen und Schlafen nimmt Nele die Geräte ab – wie andere eine Brille abnehmen – und kehrt zurück in die „Welt der Stille“, wie ihre Eltern es nennen. Dann versteht sie nur noch die Gebärdensprache, die sie bei einer Privatlehrerin lernt. Sie soll sich später selbst entscheiden können, ob sie hören möchte oder lieber im Stillen lebt – wie beispielsweise morgens:
Beim Frühstück mag ich lieber meine Ruhe haben.
Ihre große Schwester ist davon regelmäßig genervt, wenn sie ihre Hörgeräte absetzt. Sie will sich schon früh mit Nele unterhalten. Ihr etwas sagen. Ein bisschen Gebärdensprache hat Linn auch gelernt. Aber auf Dauer sei ihr das zu anstrengend. Dann besteht sie darauf, dass Nele ihre Geräte aufsetzt.
Statt in den Kindergarten ging Nele in die Vorbereitungsklasse der Hörbehindertenschule. Bei der Frage um die Grundschule hatte Nele einen Wunsch: Sie wollte die gleiche Schule besuchen, wie ihre Schwester – die Johannes-Kepler-Schule in Heddesheim. Das wollten auch ihre Eltern. Ihnen war es wichtig, dass Nele in der Nähe zur Schule geht:
Wenn sie in der Nähe zur Schule geht, wohnen auch ihre Freunde in der Nähe.
Rund 90 Prozent der Eltern behinderter Kinder wollen das auch. So hoch ist der Anteil derer, die seit 2010 einen Antrag auf inklusive Beschulung in Wohnortnähe beim staatlichen Schulamt in Mannheim gestellt haben. Seit dem Jahr 2010 läuft der Schulversuch, den die Landesregierung von CDU und FDP gestartet hatte.
Dieser sieht vor, dass Kinder mit körperlichen oder geistigen Behinderungen gemeinsam mit anderen, nicht-behinderten Kindern unterrichtet werden müssen, wenn die Eltern das wünschen. Für Arnulf Amberg, Rektor der Maria-Montessori-Schule in Weinheim ist das ein großer Schritt in der Schulpolitik, denn Bildunng für behinderte Menschen gibt es erst seit den Sechziger Jahren:
Diese Kinder sind früher gar nicht zur Schule gegangen. Sie wurden von Bildung ausgeschlossen.
Doch der Besuch der Sonderschulen, die die Kinder besonders fördern und auf deren individuellen Behinderungen eingehen sollte, bedeutete für die Eltern meist lange Fahrten zur Schule und die soziale Trennung von gleichaltrigen Kindern ohne Behinderung.
Erste Proteste gegen diese Politik äußerten Eltern in den 80-er Jahren. Aber erst ein Jahrzehnt später wurden sogenannte „Außenklassen“ eingerichtet, bei denen Kinder mit Behinderungen wieder stärker in Kontakt mit anderen kamen. Das Ziel, den Unterricht in der Nähe des Wohnorts anzubieten, habe man damit aber nicht erreichen können, sagt Herr Amberg.
Prinzip Gemeinschaftsschule für Inklusion
Das war erst mit dem laufenden Schulversuch möglich geworden: Kleine Gruppen von behinderten Schülern werden in einer Inklusionsklasse gemeinsam mit anderen Kindern an einer Grundschule in der Nähe unterrichtet. Da sie spezielle Förderungen brauchen, stellt das Schulamt 22 zusätzliche Wochenstunden bereit und die Klasse bekommt einen zweiten Lehrer, der für alle Schüler da ist.
Auch geistig behinderte oder lerneingeschränkte Kinder können so gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet werden. Ermöglicht wird das durch sogenannte zieldifferente Unterrichtsmethoden, die auch an Gemeinschaftsschulen angewandt werden. Statt eines Lehrplans für alle Kinder, gibt es für jeden einen individuellen Wochenplan mit Zielen und Arbeitsmaterialien, an denen die Kinder arbeiten.
Das ähnelt dem Konzept der Lernbüros. Die Kinder haben dann nicht den gleichen Unterricht. Sie schreiben vielleicht nicht einmal Tests oder müssen versetzt werden.
Auch Nele hätte eine solche Inklusionsklasse besuchen können. Aber sie und ihre Eltern bestanden auf die Johannes-Kepler-Schule. Sie ist die einzige in ihrer Klasse mit einer Behinderung. Ihre Hörgeräte trägt sie für alle sichtbar und hat ihrer Klasse auch schon ein paar Mal erklärt, dass sie ohne die Geräte nichts hören kann. Seltsam angesprochen wurde sie von ihren Mitschülern bisher nicht. Nur manchmal bemerken die Eltern neugierige Blicke von Mitmenschen. Nele gehe aber offen damit um.
Doch Inklusion bedeutet auch einen höheren Aufwand. Und zwar für alle Beteiligten. Nachdem die Schüßlers ihre Tochter an der Grundschule angemeldet hatten, wurde ein Kommittee aus Schulamt, Verkehrsbehörde, einem Vertreter der Gemeinde und den Eltern gebildet. Im Zentrum stand die Frage: Wie kann man die Schule auf Nele vorbereiten?

Die siebenjährige Nele geht gerne in die Schule. Und sie weiß schon, was sie nach der Schule werden will: Tierärztin.
Die alten, knarzenden Holzstühle im Klassenzimmer wurden durch neue, leisere Plastikstühle ersetzt. Die Eltern kauften eine FM-Anlage mit Mikrofon, in das ihre Lehrer beim Unterricht sprechen, damit Nele sie neben dem sonstigen Unterrichtslärm deutlich hören kann. Die Lehrer wurden geschult, mit dem Gerät umzugehen und einen spielerischen Weg zu finden, es in ihren Unterricht einzubauen. Denn auch die Mitschüler benutzen das Mikrofon, wenn sie etwas sagen möchten. Auch ein Schall schluckender Vorhang war für die Fenster geplant gewesen. Doch dieser wurde noch nicht umgesetzt.
Sorge um die weiterführende Schule
Für drei Stunden in der Woche kommt auch ein Sonderschullehrer in den Unterricht. Zweimal im Jahr treffen sich außerdem ihre Eltern, ihr Therapeut, ihr Logopäde und ihr Klassenlehrer zu einem Runden Tisch und besprechen Neles Entwicklung. Alle sechs Monate muss Nele außerdem in die Reha zur Feinabstimmung ihrer Geräte.
So kann Nele wie alle anderen Kinder am Unterricht teilnehmen. Noch. In knapp drei Jahren wird Nele eine weiterführende Schule besuchen. Wie wird es dann sein? Sie wird mehr Lehrer haben, denen man das Mikrofon erklären muss. Mehr Menschen werden sich auf sie einstellen müssen und dann kommen die Kinder in die Pubertät und werden „speziell“. Bei dem Gedanken daran und an die vielen Fragen kämpft ihre Mutter mit den Tränen. Daran will sie noch gar nicht denken:
Das wird unser nächstes großes Projekt.
Antworten auf diese Fragen kann auch Arnulf Amberg nicht liefern. Viele Gespräche zwischen Eltern, Lehrern und den Schulträgern seien dafür erforderlich und die Umsetzung des Schulversuchs im Schulgesetz. Dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden und in Gemeinschaft leben, sollte Normalität werden, sagt er. Das sei noch längst nicht der Fall.
Trotzdem sind sich Neles Eltern sicher, dass ihr alle beruflichen Wege offen stehen. Das sei ihnen spätestens dann bewusst geworden, als sie sahen, dass Neles Arzt die gleichen Implantate trug. Sogar Pilotin könnte sie werden, sagt ihr Vater. Da hat Nele aber ganz andere Pläne:
Ich will mal Tierärztin werden.