Mannheim/Baden-Württemberg, 14. März 2012. (red) Es wird viel und heftig debattiert über die Einführung von Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Im April soll das Gesetz, welches die grün-rote Landesregierung erarbeitet hat, verabschiedet werden. Die Integrierte Gesamtschule Mannheim-Herzogenried (IGMH) setzt das Konzept bereits teilweise um. Die Schulleitung blickt erfreut auf die Entwicklung, hält aber zunächst am eigenen System fest, wie sie uns im Gespräch mitteilt.
Interview: Julian Heck
Herr Diehl, Sie sind Schulleiter einer von nur drei Gesamtschulen in Baden-Württemberg. Ist Ihre Schule schon das, was die Landesregierung mit Gemeinschaftsschulen haben möchte?
Diehl: In dieser Form nicht, nein. Bei uns werden nur die Klassen 5 bis 7 gemeinsam unterrichtet und dort gibt in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch A- und B-Kurse, niemand kann sitzenbleiben. Ab Klasse 8 werden die Kinder dann auf die Haupt- oder Realschule bzw. auf das Gymnasium verteilt. Das ist der Unterschied zur Gemeinschaftsschule. Ansonsten haben wir aber auch noch einiges zu bieten.
Wie sieht es zum Beispiel mit dem Kontakt zu den Eltern aus, der bei den neuen Gemeinschaftsschulen groß geschrieben werden soll?
Diehl: Der wird auch bei uns groß geschrieben! Über 50 Eltern unterstützen den Schulbetrieb ehrenamtlich, zum Beispiel durch die Essens- oder Spielgeräteausgabe. Wir führen viele Elterngespräche durch, die Elternabende sind gut besucht und alle Schülerinnen und Schüler haben ein Schülerhandbuch, in das die Lehrer positive wie negative Kommentare vermerken, die von den Eltern unterzeichnet und damit gelesen werden. Außerdem planen wir in den 5. Klassen den Besuch des Klassenlehrers bei den Eltern zu Hause, um die Familie kennenzulernen und einschätzen zu können.
Frau Seifert, warum wird Ihre Schule so gut angenommen, sodass Sie jährlich sogar die Hälfte aller Aufnahmeanträge in die 5. Klasse mangels Kapazität abweisen müssen?
Seifert: (lacht) Weil wir einfach gut sind! Und das spricht sich rum! Es existieren viele Kooperationspartner, wir führen viele Aktionen und Projekte durch und haben ein gutes Unterrichtskonzept. So gibt es beispielsweise in allen rund 65 Klassen Klassenlehrertandems, die eine intensivere Betreuung ermöglichen. Die Schulnoten werden in den unteren Klassen durch Verbalbeurteilungen ergänzt. Ein Feedback zum Leistungsstand erhalten die Schülerinnen und Schüler quartalsweise. Und ganz wichtig: Durch G9 gewährleisten wir eine Durchlässigkeit, sodass es auch Hauptschüler mit guter Leistung bis zum Abitur schaffen können!
Und das ist auch praktisch umsetzbar?
Seifert: Klar! Unsere Zahlen belegen: In den letzten Jahren haben unter allen IGMH-Abiturienten 13,5 Prozent eine Grundschulempfehlung für die Hauptschule gehabt. 44,6 Prozent wurden für die Realschule empfohlen. Noch nicht einmal die Hälfte der Abiturienten (41,9 Prozent) hatte demnach eine Gymnasialempfehlung. Diese Zahlen zeigen, wie schlecht die frühzeitige Selektion in die Dreigliedrigkeit ist. Deshalb sind wir mit der Teilung in Klasse 8 auf dem richtigen Weg, auch, wenn wir das gemeinsame Lernen nicht bis zum Abschluss beibehalten.
Planen Sie, Ihre Schule zeitnah in eine Gemeinschaftsschule umzuwandeln?
Diehl: Nein. Wir sind von unserem Konzept überzeugt. Wir haben schließlich eine lang erarbeitete Daseinsberechtigung. Aber natürlich gehört es dazu, dass wir uns weiterentwickeln und das Konzept optimieren. Wir fahren damit bisher sehr gut und glauben, dass wir den richtigen Weg gehen.
Also sind Sie von dem Gemeinschaftsschulkonzept nicht überzeugt?
Diehl: Das stimmt nicht. Es ist toll zu beobachten, dass endlich Bewegung in das Schulsystem kommt. Dass Schulen vor Ort frei entscheiden können, ob sie Gemeinschaftsschule werden wollen oder nicht, ist gut. Zum längeren gemeinsamen Lernen brauche ich nichts mehr zu sagen. Die Schülerinnen und Schüler profitieren davon enorm. Jedoch muss auch erwähnt werden, dass jede Form der individuellen Förderung Ressourcen benötigt. Wer in einer Klasse mit 25-30 Kindern individuell fördern möchte, ohne eine Kurseinteilung vorzunehmen, wie sie die Gemeinschaftsschule nicht vorsieht, braucht zusätzliches Personal und Zeit – und damit finanzielle Mittel. Die Lehrer müssen entlastet werden. Vor allem die Belastung der Klassenlehrer ist sehr aufgebläht, hat sich durch einen höheren Erziehungsanteil in den letzten Jahren um ein Vielfaches potenziert. Zudem muss die Lehrerausbildung angepasst werden. Das alles findet im Konzept der Gemeinschaftsschule noch zu wenig Beachtung.
Wäre die IGMH bald eine Gemeinschaftsschule, wenn Sie genug Zeit und das nötige Personal hätten?
Seifert: Die IGMH bleibt die IGMH. Man muss zudem beachten, dass die Schule kürzlich komplett saniert worden ist und damals, bei der Entwicklung eines Raumkonzeptes, war noch keine Rede von einer Gemeinschaftsschule. Eine Binnendifferenzierung mit Lerngruppen erfordert mehrere kleinere Räumlichkeiten, die wir nicht haben und in nächster Zeit nicht haben werden. Oder wir müssten die Schülerzahl reduzieren, was auch nicht Sinn der Sache ist. Aber wir verfolgen die Entwicklung mit großem Interesse und wünschen uns für die ersten Gemeinschaftsschulen alles das, was sie brauchen, um eine bestmögliche Bildungsstätte zu sein.
Wäre eine Gemeinschaftsschule in Ihrer Nähe eine Konkurrenz für Sie?
Diehl: Definitiv nein. Ganz im Gegenteil: Es ist unserer Ansicht nach sogar unbedingt wünschenswert, wenn eine Gemeinschaftsschule oder eine Schule wie die IGHM in den Mannheimer Raum kommt, um die ganzen Schüler mit dem Wunsch nach einer Schule wie dieser zu befriedigen. Wir müssen jedes Jahr rund 230 Schüler abweisen – wir haben einfach nicht mehr Kapazität. Eine Gemeinschaftsschule in unserer Nähe würde dem Zustand nur gerecht werden.
Ist die Gemeinschaftsschule die Schule der Zukunft?
Seifert: Wahrscheinlich schon. Doch bis dahin muss noch erprobt, daran gefeilt und weiterentwickelt werden. Wenn das Ziel, die individuelle Förderung aller Kinder, erreicht ist, ist es letzten Endes egal, wie die Schulform heißt und wer sie politisch durchgesetzt hat! Es wäre zunächst einmal wünschenswert, dass nicht schlecht über diese neue Schulform gesprochen wird und kein schlechtes Image entsteht. Ein guter Start ist für alle hilfreich!
Zur Person:
Lore Seifert (61) ist seit 2003 stellvertretende Schulleiterin der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried. Zuvor hat sie schon 28 Jahre an der Schule unterrichtet. Ihre Fächer sind Mathematik und Informationstechnische Grundlagen.
Gerhard Diehl (60) ist seit acht Jahren Schulleiter mit dem Unterrichtsfach Deutsch, das er seit 1979 an der IGMH unterrichtet.
Zur Schule
Die Integrierte Gesamtschule Mannheim-Herzogenried ist seit ihrer Gründung im Jahr 1973 eine Gesamtschule und hat in diesem Schuljahr etwa 1600 Schülerinnen und Schüler sowie 160 Lehrkräfte. Zurzeit arbeiten dort 15 Referendare und ein Dutzend städtisches Personal sowie zwei Schulsozialarbeiter.