Mannheim, 15. Juli 2016. (red/ms) Gelungene Bürgerbeteiligung bedeutet einen Gewinn für alle – häufig endet sie aber auch im Streit und die Konflikte können nicht befriedigt werden. Beim 90-Millionen-Projekt Stadtbahn Nord war die Ausgangslage enorm angespannt. Trotzdem ist es gelungen, einen Kompromiss zu finden, mit dem sich die allermeisten zufrieden zeigen. Im Interview mit dem Rheinneckarblog erläutert Mannheims Erster Bürgermeister Christian Specht (CDU), was die Stadtverwaltung aus dem Prozess gelernt hat.
Interview: Minh Schredle
Herr Specht, die Stadtbahn Nord ist jetzt gut einen Monat im Betrieb. Wie fallen denn bislang die Rückmeldungen aus, die Sie erhalten haben?
Christian Specht: Die neuen Bahnlinien kommen bei den Fahrgästen sehr gut an. Wir haben im Schnitt schon 7.700 Fahrgäste pro Werktag. Das liegt deutlich über unseren Erwartungen und hier ist die Zufriedenheit sehr groß. Unser Ziel ist es, bis 2020 durchschnittlich 9.000 Fahrgäste pro Tag zu erreichen. Es sieht jetzt so aus, als könnten wir das schon deutlich früher erreichen. Für Ärger, insbesondere im Stadtteil Gartenstadt, sorgt aber die Umstellung der Buslinien.
Worin liegt denn das Problem?
Specht: Die Busse sind teilweise mehrere Jahrzehnte lang auf den gleichen Routen gefahren und das hat sich Anfang Juni über Nacht geändert. Jetzt gibt es neue Haltestellen und Fahrpläne. Diese wurden zwar bereits vor Beginn der Bauarbeiten der neuen Stadtbahnlinie gemeinsam mit den Mitgliedern des Bürgerbeteiligungsforums erarbeitet, dennoch kamen diese Änderungen nun für viele, die sich nicht im Vorfeld informiert haben, überraschend. Eine Umstellung ist es in jedem Fall. Besonders ärgerlich ist aber, dass es in den ersten Wochen nach der Fahrplanänderung zu vielen Verspätungen kam und deswegen Anschlüsse nicht erreicht wurden.
7.000 Arbeitsstunden Bürgerbeteiligung
Wird hier also bald nachjustiert?
Specht: Die ersten Auswertungen der rnv haben ergeben, dass die Hauptursachen für die Unzufriedenheit mangelhafte Pünktlichkeit und Unzuverlässigkeit sind. Das hängt auch mit Baustellen auf der Route zusammen, durch die sich das Vorankommen verzögert. Ein anderer Kritikpunkt ist, dass einige Busse zu klein wären. Außerdem wollen wir noch über Zusatzverkehre für Schüler des Johanna-Geissmar-Gymnasiums in Schönau und der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried reden. Selbstverständlich werden die Stadt und die rnv regelmäßig prüfen, wo es noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Allerdings muss man den neuen Fahrplänen auch etwas Zeit geben, sich einzupendeln.
Abgesehen von den Buslinien scheinen ja aber die allermeisten sehr zufrieden mit der neuen Stadtbahn zu sein – obwohl es während der gesamten Planungszeit immer wieder Streit und zum Teil regelrecht verfeindete Lager gab. Wie ist es gelungen, den Prozess zu befrieden?
Wir haben eine Bürgerbeteiligung durchgeführt, wie sie die Stadt noch nicht gesehen hat. Insgesamt sind hier 7.000 Arbeitsstunden eingeflossen.
Specht: Wir haben eine Bürgerbeteiligung durchgeführt, wie sie die Stadt noch nicht gesehen hat. Insgesamt sind hier 7.000 Arbeitsstunden eingeflossen. Seit 2007 hat die Bevölkerung den Planungsprozess bei allen Schritten begleitet und geholfen, unsere Konzepte noch zu verbessern. Als unsere Pläne dann schließlich beschlussreif waren und wir dem Regierungspräsidium Karlsruhe den sogenannten Planfeststellungsbeschluss vorgelegt haben, wurde keine einzige Klage gegen das Projekt eingereicht. Das ist bei einem Projekt von dieser Größenordnung eigentlich unvorstellbar, vor allem wenn man sich vor Augen führt, wie vehement der Widerstand gegen die Stadtbahn Nord zu Beginn war.
In diesem Zusammenhang gab es ja durchaus auch sehr unschöne Szenen…
Specht: Mein persönlicher Tiefpunkt war, als Puppen von uns Bürgermeistern in den Bäumen hingen und dann noch Sprüche zu lesen waren, wie „hier wird alles KURZ und klein gemacht!“ oder „dieser Baum wird umgeSPECHTet“. Unter solchen Bedingungen ist natürlich keine zielführende Zusammenarbeit möglich.
Grundvoraussetzungen: Anstand und Respekt
Im Fall der Stadtbahn ist es trotz einer schwierigen und verfahrenen Ausgangslage gelungen, eine Lösung zu finden, mit der die allermeisten zufrieden sein können. Aber Bürgerbeteiligung bedeutet nicht automatisch Erfolge – oft gelingt es nicht, die Lager, die sich gegenüber stehen, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Etwa bei der Entwicklung der Offizierssiedlung im Benjamin Franklin Village. Unter welchen Umständen kann Bürgerbeteiligung gut gelingen?
Specht: Bürgerbeteiligung braucht klare Spielregeln. Dafür muss von Anfang an klar benannt werden, was möglich ist – und was nicht.
Wenn es Vorschläge für Verbesserungen gibt, wollen wir diese ehrlich würdigen. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Anregungen, die zwar eigentlich gute Ideen sind – sich aber praktisch nicht umsetzen lassen, sei es aus finanziellen oder juristischen Gründen. Auch das müssen wir klar kommunizieren.
Die Meinungen und Vorschläge der Bürger sowie die Stellungnahmen der Stadtverwaltung sollten dokumentiert werden, um eine hohe Transparenz herzustellen und den Prozess nachvollziehbar zu machen. Außerdem muss auf beiden Seiten, also sowohl bei der Stadtverwaltung, als auch bei der Bevölkerung die Bereitschaft vorhanden sein, gemeinsam nach Kompromissen zu suchen. Eine ganz wichtige Grundvoraussetzung für jede gelungene Zusammenarbeit ist, dass man respektvoll und anständig miteinander umgeht.
Stadtentwicklung ist ein hochkomplexes Thema, bei dem es jede Menge zu berücksichtigen gibt. Die Stadtverwaltung hat ihre Fachleute für bestimmte Bereiche. Bei großen Entscheidungen müssen etliche Zusammenhänge bedacht werden – immer vor dem Hintergrund der Haushaltslage und der finanziellen Möglichkeiten. Wie schafft man es, einer breiten Bevölkerung klar zu machen, wo die zentralen Probleme liegen und welche Gestaltungsräume es gibt?
Specht: Wir sagen uns im Rathaus immer wieder: Wir müssen raus aus dem Verwaltungsdeutsch. Verständlich sprechen. Und klar machen: Worum genau geht es eigentlich? Was ist das Wesentliche? Wo liegen die zentralen Herausforderungen? Das muss so simpel wie möglich verdeutlicht werden und ohne Fachjargon, den nur wenige Experten verstehen. Im Bürgerdialog beim Thema Bahnlärm darf die Frage nicht lauten: „Wie reduzieren wir mit Schienenstegdämpfern und Verbundstoffbremssohlen die Schallemissionen?“ Sondern: „Was tun wir dagegen, wenn es quietscht?“
Stimmungen einholen, konzentriert diskutieren
Diskussionen werden meistens chaotisch, wenn eine bestimmte Gruppengröße überschritten wird. Doch die städtischen Großprojekte betreffen tausende von Menschen. Wie soll denn sichergestellt werden, dass die Interessen der betroffenen Bevölkerung gehört werden?
Specht: Bei unserem Forum zur Stadtbahn haben wir darauf geachtet, dass möglichst viele „Multiplikatoren“ vertreten sind. Also Menschen, die besonders repräsentativ für bestimmte Interessengruppen sind.
Für konzentrierte Diskussionen auf hohem fachlichen Niveau ist es tatsächlich vorteilhaft, wenn die Gruppengröße überschaubar bleibt. Gerade bei emotionalen Themen kann sonst viel durcheinander gehen.
Aber es sind ja nicht nur die Details wichtig: Auch Informationsabende, mit möglicherweise mehreren hundert Gästen, können im Rahmen einer ausgewogenen Bürgerbeteiligung sehr wichtig sein, um ein grundsätzliches Stimmungsbild einzuholen.
Welche Bürger werden denn durch Angebote zur Beteiligung erreicht? Wer bringt sich ein? Wird die Stadtbevölkerung repräsentativ widergespiegelt?
Specht: Nach unseren Erfahrungen sind vor allem diejenigen anwesend, die von einem Vorhaben „betroffen“ sind. Also wenn ein Bauprojekt vor ihrer Haustür stattfinden soll oder ein Gebäude geplant ist, das die Nachbarschaft verändern wird. Oft sind auch überwiegend Menschen anwesend, die etwas verhindern wollen. Das kann eine Herausforderung sein. Die schweigende Mehrheit, die ein Vorhaben gutheißt, ist häufig schwieriger abzuholen. Wenn es aber gelingt, sogar die Kritiker zu überzeugen, dann steigert das die Akzeptanz für ein Projekt erheblich.
Die Bürger müssen sagen können: „Das ist unsere Bahn.“
Im Fall der Stadtbahn ist es offenbar gelungen. Dafür war aber ein immenser zeitlicher und finanzieller Aufwand nötig. Lohnt sich das überhaupt? Käme man ohne Einbeziehung der Bürger nicht kostengünstiger davon?
Specht: Es stimmt, der Aufwand war sehr groß. Gelohnt hat es sich trotzdem. Die Kosten sind am Anfang zwar höher. Aber am Ende sparen wir. Das ist ungefähr so, als würde ich ein Haus planen:
Wenn ich mir hier am Anfang zu wenig Zeit nehme und zu wenig Mühe mache, übersehe ich vielleicht die bessere Lösung. Dann habe ich vielleicht erst einmal etwas gespart. Später zahle ich aber drauf, etwa weil die Betriebskosten jetzt höher ausfallen. Langfristig lohnt sich also die Sorgfalt, auch wenn sie erst einmal mehr Aufwand bedeutet.
Bei der Stadtbahn haben wir 7.000 Arbeitsstunden für die Planung aufgewendet und uns viel Zeit genommen. Dann ging es aber außergewöhnlich schnell.
Soll heißen?
Specht: Wie gesagt, es gab keine Klage gegen das Projekt und somit keine Verzögerung. Wir sind im Zeitplan geblieben. Die Bauzeit ist mit dreieinhalb Jahren enorm kurz für ein Projekt dieser Größenordnung. Hier hat sich die Sorgfalt bezahlt gemacht, weil viele potenzielle Probleme im Vorfeld erkannt wurden. Auch die Behörden, mit denen wir in Kontakt stehen, haben sich beeindruckt gezeigt und sprechen von einem Vorzeigeprojekt. Wichtig ist aber vor allem: Die Stadtbahn ist ein Projekt für unsere Bürger. Sie müssen sagen können: „Das ist unsere Bahn.“
Und das können sie?
Specht: Bei solchen Projekten muss die Politik der Bevölkerung bewusst machen: Wir machen das für euch. Baumaßnahmen von dieser Größenordnung prägen immer auch die Identität eines Stadtteils. Also müssen sie zu den Interessen der Bevölkerung passen. Und die findet man am besten im Dialog heraus. Bei der Stadtbahn haben wir zum Beispiel intensiv über die Lärmschutzwände beraten. Nicht nur, wo sie hinkommen, sondern auch, wie sie gestaltet werden sollen. Als es jetzt im Zusammenhang mit der Stadtbahn zu den ersten Sachbeschädigungen kam, gingen hier bei der Stadtverwaltung sofort empörte Meldungen ein. Teils hieß es sogar: „Das ist ein Angriff auf uns!“. Also kann man, denke ich, von einer sehr großen Akzeptanz reden.
Bei Gelingen: Erhöhte Akzeptanz
Bei anderen Projekten hat es mit der Akzeptanz noch nicht ganz so gut geklappt. Die Stadt Mannheim hat einen Ausbau der Bürgerbeteiligung 2007 als strategisches Ziel verankert und sammelt jetzt seit knapp zehn Jahren Erfahrungen damit. Kann eine Stadt Bürgerbeteiligung lernen?
Specht: Ja, ich glaube schon. Für uns als Verwaltung ist das Thema Bürgerbeteiligung auf jeden Fall mit einem Lernprozess verbunden und der ist noch lange nicht abgeschlossen. Wir haben mit unterschiedlichen Modellen und Konzepten sehr verschiedene Erfahrungen gemacht. Viele Bürger kamen als Gegner eines Projektes auf die ersten Veranstaltungen. Jetzt sind wir in einem Dialog mit ihnen. Ich habe außerdem den Eindruck, die Beteiligung an der Planung für eine einzelne Maßnahme hat bei manchen das Interesse für Politik generell geweckt.
Mannheim wird also weiterhin stark auf Beteiligung setzen?
Specht: Das ist ein dauerhafter, demokratischer Prozess und inzwischen wird Bürgerbeteiligung auch in breiten Schichten der Bevölkerung erwartet und gefordert. Für uns als Stadtverwaltung muss also klar sein: Hinter dieses Niveau kommen wir nicht mehr zurück. Da kommen wir nicht mehr weg – das wollen wir aber auch gar nicht. Auch wenn die Auseinandersetzung für beide Seiten nicht immer einfach ist, lohnt sie sich. Denn wenn man sich gemeinsam auf etwas einigt, hilft das allen, die Akzeptanz für ein Vorhaben deutlich zu steigern.