Mannheim, 15. Oktober 2015. (red/ms) Im Sicherheitsausschuss stellte Polizeipräsident Thomas Köber die Entwicklungstendenzen der Kriminalität in Mannheim vor. Die Lage in der Neckarstadt-West war dabei eigentlich kaum ein Thema – CDU-Stadtrat Stefan Ratzel machte sie zu einem. Erst warf er Herrn Köber vor, die Statistik der Mannheimer Polizei würde nicht stimmen. Dann forderte er, der Staat müsse in der Neckarstadt-West seine Handlungsfähigkeit demonstrieren. Auf lange Sicht werde man nicht darum herumkommen, dort eine „Null-Toleranz-Zone“ einzuführen. Diese Forderung ist entweder populistisch oder fachfremd. Ein Kommentar.
Kommentar: Minh Schredle
Nach den jüngsten Zahlen der Polizei ist die Anzahl der Straftaten in Mannheim in den vergangenen neun Monaten geringfügig angestiegen. Insbesondere im Bereich der Eigentumsdelikte gibt es dabei teils sehr bedenkliche Entwicklungen.
Statistisch betrachtet, ist Mannheim die Großstadt mit der zweithöchsten Kriminalitätsrate in Baden-Württemberg. Lediglich in Freiburg werden noch mehr Straftaten erfasst.
Doch die schiere Anzahl an registrierten Verstößen ist nur wenig aussagekräftig – denn aus der bloßen Menge lässt sich nichts über die Schwere der Vergehen herauslesen. Wenn jemand beim Schwarzfahren erwischt wird, ist das eine erfasste Straftat in der Statistik. Und wenn jemand ermordet wird, zählt auch das nur als eine erfasste Straftat.
Schwere der Verbrechen ist entscheidend
Um die Sicherheitslage in einer Stadt beurteilen zu können, ist es also wichtiger, sich anzusehen, wie sich verschiedene Teilbereiche der Kriminalität entwicklen – und die Zahl der Gewaltverbrechen und Straftaten gegen Leib und Leben ist in Mannheim seit Jahren rückläufig.
Diese Entwicklung ist fast im gesamten Stadtgebiet zu beobachten. Auffällige Zunahmen hat es nur in der Innenstadt gegeben. In der Neckarstadt-West haben Gewalt- und Straßenkriminalität laut Statistik im Vergleich zum Vorjahreszeitraum allerdings abgenommen.
Lügt die Polizei?
Dieser Umstand „verwunderte“ den sicherheitspolitischen Sprecher und stellvertretenden Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Mannheimer Gemeinderat, Steffen Ratzel. Er sagte gegenüber dem Polizeipräsidenten Thomas Köber:
Ich habe die Zahlen noch nie geglaubt.
Andere Städte – wie etwa Freiburg – würden ihre Zahlen „bestimmt zutreffender“ erfassen. Dort würden auch „weniger schöne Vorfälle erfasst“.
Herr Köber schüttelt nur verdrießlich den Kopf.
Währenddessen fährt Herr Ratzel fort: In der Neckarstadt-West seien offenbar rechtsfreie Räume Realität geworden. Die ausufernde Kriminalität bereite ganz Mannheim Sorgen.
Über die Wohnsituation sagte er:
Alle, die es sich leisten können, ziehen weg. Und alle, die es sich nicht leisten können, tun mir leid. Wir müssen jetzt als Staat unsere Handlungsfähigkeit demonstrieren. Langfristig werden wir nicht darum herumkommen, in dem Stadtteil eine Null-Toleranz-Zone einzurichten.
Jetzt schüttelt Herr Köber noch eindringlicher mit dem Kopf.
Keine Statistik kann eine Realität erfassen
Selbstverständlich spiegeln die Zahlen einer Kriminalitätsstatistik nicht die tatsächliche Kriminalität zu 100 Prozent wieder – wie sollten sie das auch?
Selbstverständlich können die Zahlen nur das Hell-Feld beleuchten – also alle Delikte, die bei der Polizei angezeigt werden, oder die die Polizei aus eigenständigen Ermittlungen aufdeckt.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn eine Straftat nicht angezeigt wird und die Polizei davon keine Kenntnis erlangt, findet sich die Straftat auch nicht in der Statistik wieder. Übrigens nicht nur in Mannheim, sondern auch in Freiburg und überall sonst natürlich auch.
Nach Aussage von Herrn Köber habe man die Zahlen in diesem Jahr genauso erfasst, wie auch in den Vorjahren. Die Statistik sei daher genauso tauglich wie immer, um Entwicklungstendenzen zu zeigen.
Warum mit negativen Entwicklungen täuschen?
Mal angenommen, das Polizeipräsidium Mannheim schöne die Statistik bewusst? Was soll der Grund sein?
Glaubt man gewissen Facebook-Kommentaren solle die Bevölkerung ruhig gehalten werden und es handle sich um „eine Ansage von Oben“.
Das macht genau betrachtet keinen Sinn. Dann hätte man eine geschönte Statistik, aber weiter die tatsächlichen Verhältnisse. Was hätte man erreicht? Nichts.
Wenn die Polizei es schon darauf anlegen sollte, verzerrte Zahlen wiederzugeben, um die Bevölkerung zu manipulieren – warum geht sie dann ausführlich auf negative Entwicklungen ein? Auch das ein Widerspruch, den die Zweifler nicht auflösen können.
Beispiel: Die Zahl der Taschendiebstähle hat sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt. Das ist eine sehr „unschöne“ Information, weil hinter jedem Taschendiebstahl ein direktes Opfer steht – die Polizei geht damit offensiv um, benennt das Problem und arbeitet an Lösungen.
Welche Motive verfolgt Herr Ratzel?
Die ungeschönten Zahlen geben genug Anlass zur Sorge. Mannheim ist sicher keine Brutstätte der Kriminalität – aber eben auch nicht die sicherste Stadt auf Erden.
Vor diesem Hintergrund ist etwas fraglich, was denn genau Steffen Ratzel erreichen will, wenn er der Polizei falsche Zahlen vorwirft – normalerweise kennt man solche Anschuldigungen eher aus den Reihen von „besorgten Bürgern“, Pegida-Anhängern und/oder seltsamen Verschwörungstheoretikern.
Vorwürfe wie diese helfen vielleicht, aus genannten Kreisen ein paar Wählerstimmen abzugreifen – aber zu welchem Preis, wenn man gleichzeitig die Polizei unglaubwürdig zu machen versucht.
Probleme sind existent
Unabhängig davon, ist die Situation in der Neckarstadt-West tatsächlich bedenklich. Polizeipräsident Köber versucht aber auch gar nicht, dass in irgendeiner Form zu verschleiern:
Viele Bewohner aus Südost-Europa bringen ihre eigenen Regeln mit. Das ist eine nüchterne Feststellung, die uns vor reale Probleme stellt.
Natürlich würden sich im Dunkelfeld Vorfälle abspielen, von denen die Polizei nie etwas mitbekommen würde. Aber sich vorzustellen, alle Straftaten, die ausgeübt werden, könnten auch erfasst werden, war und ist utopisch.
Welche Strategie ist angebracht?
Dass die Politik in der Neckarstadt-West tätig werden muss, ist für alle Beteiligten offensichtlich und auch völlig unstrittig. Die entscheidenden Fragen sind, was man dort tun kann und was man dort tun sollte.
Eine „Null-Toleranz-Zone“ ist vollständig abwegig. Sie würde die Situation höchstwahrscheinlich nicht verbessern, sondern womöglich noch dramatisch verschärfen.
Die Null-Toleranz-Strategie basiert auf der Broken-Windows-Theorie, der zufolge kleinere Misstände – wie etwa eine zerbrochene Fensterscheibe – „vorbildhaft“ zur Verwahrlosung eines ganzen Stadtteils führen könne.
Bettler einfach wegsperren – Probleme gelöst… ?
Nach dem historischen Vorbild aus New York müsste dann jede noch so kleine Ordnungswidrigkeit rigoros verfolgt werden. Kein Verfahren könnte wegen Nichtigkeit eingestellt werden. In New York wurden beispielsweise Bettler vollkommen unverhältnismäßig und ohne Lösungspotenzial teils mehrere Tage eingesperrt – will Herr Ratzel das hier auch?
In Deutschland sind Null-Toleranz-Zonen so gut wie nicht existent. Eine Ausnahme davon ist der Görlitzer Park in Berlin: Der Rauschgifthandel, insbesondere mit Cannabis, hatte dort so dramatische Ausmaße angenommen, dass dort seit dem 31. März jedes noch so kleine Delikt verfolgt wird.
Staatliche Behörden werden dadurch vor eine immense Belastung gestellt. Nicht nur die Polizei, sondern auch Staatsanwaltschaften und Gerichte. Verschiedene Medien berichten übereinstimmend, dass dadurch unverhältnismäßig hohe Kapazitäten gebunden werden.
Zum Vergleich: Der Görlitzer Park ist 0,14 Quadratkilometer groß. Die Neckarstadt-West ist 9,94 Quadratkilometer groß.
Theorien noch tragbar?
Wie die Mannheimer Polizei bekannt gibt, sei man schon mit der bereits vorhandenen Aufgabenlast an der Grenze der Belastbarkeit und bräuchte eigentlich zusätzliches Personal.
Ist es vor diesem Hintergrund wirklich sinnvoll, ihr weitere Aufgaben aufdrücken zu wollen? Soll in der Neckarstadt-West dann jeder Fußgänger, der bei rot eine Ampel überquert, vor Gericht landen? Und glaubt jemand ernsthaft, durch rigorose Repressionen könne andauernder sozialer Frieden hergestellt werden?
Amerikanische Ghettos demonstrieren das exakte Gegenteil: Miserabelste Lebensumstände machen Jugendliche anfällig für Kriminalität, nach Straftaten landen sie im Gefängnis, geraten oft erst dort in den Kontakt mit „richtigen Schwerverbrechern“ und wenn sie ihre Haftstrafe abgesessen haben, sind sie vorbestraft und haben keine Perspektive mehr auf dem Arbeitsmarkt, was sie zu Sozialhilfeempfänger-Empfängern oder noch Kriminelleren macht. Ist es das, was sich Herr Ratzel für die Neckarstadt wünscht?
Potenziell verfassungswidrig
Unabhängig davon, wäre eine Null-Toleranz-Zone nach amerikanischem Vorbild, die sich auf einen ganzen Stadtteil ausweitet vermutlich verfassungswidrig – ähnlich wie die „Gefahrengebiete“ in Hamburg.
Es läge übrigens auch gar nicht in der Macht der Stadt Mannheim etwas wie eine Null-Toleranz-Zone einzurichten – Polizei, Staatsanwaltschaft und die Gerichte sind Behörden des Landes Baden-Württembergs.
Die Aussage, man werde, „langfristig nicht darum herum kommen, eine Null-Toleranz-Zone“ in der Neckarstadt-West einzurichten, ist also entweder rechter Populismus oder erfolgt aus fachlicher Unkenntnis.
Repression beseitigt keine Ursachen
Die Probleme in der Neckarstadt-West sind nicht allein mit Repressionen zu beseitigen. Dafür werden jahrzehntelange Bemühungen der Politik nötig sein: Mehr sozialer Wohnungsbau, Sanierungsprogramme Integrationshilfe und Förderung einer schon jetzt beachtlichen kulturellen Szene.