Heidelberg, 15. April 2016. (red/nh) „Wohin geht ein Mensch, der nicht weiss, wo er hin gehen soll“? Wie findet man eine Antwort auf diese Frage? Was passiert, wenn die alte Existenz verloren ist und keine neue in Sicht? In der Lesereihe „Allerorts: Literatur“ am vergangen Abend im Zwinger3 in Heidelberg, gingen drei junge Schriftsteller/innen diesen Fragen nach – und zeigten verschiedene Perspektiven auf.
Von Naemi Hencke
Die gewohnte Existenz ist verloren. Eine andere, neue, nicht in Sicht. Ungewollt Zeit-Haben: Nichts zu tun. Besonders zu sein – doch das nicht im positiven Sinne. Was bedeutet dieser Zustand für einen Menschen? Wie fühlt es sich an, fremd zu sein? Was für Perspektiven gibt es?
Gehen. Ging. Gegangen.
Richard ist Professor und wohnt ganz in der Nähe von Berlin. Er spaziert oft durch die Stadt – die Flüchtlinge an den öffentlichen Plätzen nimmt er gar nicht wahr. Auch nicht, als sie auf dem Oranienplatz demonstrieren: „We become visible“ – ohne ihre Identität preis zu geben. Erst Abends im Fernsehen sieht er sie und wundert sich, dass er sie nicht gesehen hat.
Im späteren Verlauf des Romans „Gehen Ging Gegangen“ von Jenny Erpenbeck, wird Richard die Flüchtlinge in ihren Notunterkünften besuchen und die pure Langeweile am eigenen Leib erfahren.
Richard ergreift der Forschergeist, er möchte wissen: Was denken die Flüchtlinge? Was haben sie erfahren? Und was bedeutet Zeit – die er als nun pensionierter Professor im Überfluss hat. Ihm gefällt die Idee, mit denen zu sprechen, „die aus ihr herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will.“ Die Flüchtlinge erzählen ihm ihre Geschichten. Mit diesen Erfahrungen erkennt Richard das Problem der Zeit. Und die Probleme der Flüchtlinge: Die alte Existenz ist vorbei. Und eine neue nicht in Sicht.
Die Zeit ist nicht leer,
sagt Jenny Erpenbeck.
Im Moment aber, arbeitet die Zeit in eine Richtung, die schwierig sein wird. Die einzig mögliche Integration, ist, den Menschen eine Aufgabe zu geben, damit sie die Zeit füllen können. Arbeit zu haben gehört in Europa zu den Menschenrechten. Aber was passiert, wenn es keine Erlaubnis gibt, Arbeit zu suchen?
Der 36-jährige Autor Matthias Nawrat ist als Kind mit seinen Eltern von Polen nach Deutschland geflüchtet. Nicht aus lebensbedrohlichen Gründen, so sagt Herr Nawrat, sondern – heute würde man sagen, als Wirtschaftsflüchtling. Deswegen sei seine Fluchtgeschichte eine andere, als die vieler anderer, die aktuell vor Krieg und Tod flüchten würden. Damals habe es die sogenannte Spätaussiedlerregelung gegeben, die es seinen Eltern ermöglichte, sofort zu arbeiten. Sein Vater arbeitete sich von „unten“ wieder nach „oben“.
Die Sprache war das größte Problem, wir konnten kein Wort Deutsch. Ich habe die Sprache gehört, mir die Melodien und den Rhythmus eingeprägt. So habe ich Deutsch gelernt. Die Sprache eröffnet einem alles,
so Nawrat, der unter anderem für sein Erstlingswerk 2012 bereits mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet wurde. In seinem Fall könnte von einer sehr guten Integration sprechen.
Gibt es eine Art deutschlandtypische „Überintegration“? fragt sich Nawrat. Auf jeden Fall gebe es einen gewissen Druck, sich sofort anpassen zu müssen. Beispielsweise der Status und das Gefühl, fortwährend besonders zu sein – aber nicht im positiven Sinne – seien weitaus subtilere Probleme, die mit dem Integrationsanstrengungen einher gehen würden.
Ich wurde in Bayern immer wegen meines Dialekts gefragt, ob ich aus Franken kommen würde.
Sprache könne zudem Tatsachen verschleiern. Wenn jemand als „Asylkritiker“ bezeichnet werde, der eine Asylbewerberunterkunft anzündet – der bagatellisiere und übe sogar mit Sprache Gewalt aus, meint Nawrat. Dennoch sei Literatur grundsätzlich etwas Gutes.
Hilfe ist nicht gleich Hilfe
Gut ist auch, wenn es Menschen gibt, die sich nicht immer vordrängeln müssen. Vor allem, wenn es um das Thema „Flüchtlinge“ geht. Die nicht aufgeregt hier rufen und wie toll, wie engagiert und wie erfolgreich sie doch ehrenamtlich sind. Keine Frage, jeder Mensch ist toll, der sich engagiert. Doch Hilfe ist nicht gleich Hilfe.
Annika Reich, eine Schriftstellerin, die schon als Kind immer ein Buch schreiben wollte, ist so ein Mensch. Sie schreibt für Zeit Online und die Frankfurter Allgemeine Zeitung – und gibt in ihrem Blog „Ich. Heute. 10 vor 8.“ zahlreichen Gastautorinnen einen Raum, zu Wort kommen zu können.
In diesem Moment fällt auf, dass eigentlich kein Flüchtling, oder Newcomer – wie es Annika Reich lieber formuliert – bei dieser Lesung anwesend ist. Ist das hier letztendlich doch wieder nur eine kulturelle Debattierrunde für das gut situierte Bildungsbürgertum? Nach dem Motto: Wie großartig sind wir, dass wir darüber reden.
Annika Reich sagte gleich vorab: Sie werde nicht aus ihren neusten Roman vorlesen. Nein, sie habe zwei Texte mitgebracht. Eine eigene Geschichte. Und eine einer Journalistin aus Damaskus, die schon länger in Berlin lebt.
Ein Kind in diese Welt setzen?
Sie erzählt von einer Frau, die in Berlin auf einer Toilette das Ergebnis des Schwangerschaftstest nicht fassen kann. Sie denkt nach. Darüber, dass sich Syrerinnen sehr gut überlegen, überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. In Damaskus würden Demonstrant/innen mit irgendwelchen Gasen beschossen – keiner wisse, was das in Wirklichkeit sei, was man da einatmen würde. Könnte all dies nun meinem ungeborenen Kind schaden zu fügen, fragt sich die syrische Journalistin. In Berlin auf der Toilette holen einen die schrecklichen Erfahrungen aus Syrien ein. Dennoch müsse man eine Entscheidung treffen. Setzt man ein Kind in diese Welt?
Die Geschichte berührt. Sehr sogar. Es wäre schön gewesen, wenn die Autorin dieses Textes ihre Geschichte selbst vorgetragen hätte. Und dennoch: Es ist gut, diese Geschichte überhaupt gehört zu haben. Dank Annika Reich.
Über das Gummistiefelgeben müssen wir hinaus kommen,
meint sie. Weg vom Helfen. Ist es nicht nervig, wenn einem immer jemand helfen will? Oder Mitleid hat? Und man ständig für etwas dankbar sein muss? Eher sollten wir zusammen gestalten, Begegnungen initiieren und Gespräche führen. Nicht übereinander, sondern miteinander. Das schärft den Blick für das Individuelle.
Schließlich geht es auch um die Würde eines jeden Menschen,
fügt Annika Reich hinzu.
„Wohin geht ein Mensch, der nicht weiss, wo er hin gehen soll?“ fragt sich Jenny Erpenbeck in ihrem Roman. Diese Frage sollten wir uns alle wenigstens einmal stellen. Besser öfter, denn wahrscheinlich findet man bei dem ersten Versuch, diese Frage zu beantworten, eben keine beruhigende Antwort. Und um Ruhe und Gewissheit geht es doch.