Rhein-Neckar, 14. April 2016. (red/ms) Bundesweit nimmt die Gewalt gegen Polizeibeamte zu – etwa jeder vierte Beamte wird zum Opfer von Übergriffen. „Das Ausmaß des Problems wurde lange unterschätzt,“ sagt Heiko Arnd, Revierleiter in Frankenthal. Als Projektleiter der „Arbeitsgruppe Bodycam“ testet er die Körperkameras im Modellversuch für Rheinland-Pfalz noch bis Juli. Im Exklusiv-Interview mit dem Rheinneckarblog zieht er überwiegend ein sehr positives Zwischenfazit.
Interview: Minh Schredle
In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nimmt die Gewalt gegen Polizeibeamte seit Jahren kontinuierlich zu. Teilweise liegen dramatische Steigerungen der Fallzahlen vor. Woher kommt das? Und wie groß ist das Problem?
Heiko Arnd: Das Problem beschränkt sich nicht nur auf Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Diese Entwicklung ist leider bundesweit zu beobachten. Ich habe die erste große Studie von Christian Pfeiffer mitbegleitet und war auch damals in Hannover beim KFN (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen), wo ich die Wissenschaftler bei der Interpretation von Daten unterstützt habe, die aus zehn Bundesländern angeliefert worden sind. Die Ergebnisse sind erschreckend.
Das heißt konkret?
Arnd: Bundesweit berichten Kolleginnen und Kollegen davon, dass sie in einem hohen Maß angegangen werden. In den meisten Fällen handelt es sich um verbale Gewalt, etwa Beleidigungen oder Drohungen. Aber 25 Prozent der Befragten gaben ebenfalls an, dass sie im Zeitraum der letzten 12 Monate dahingehend Gewalterfahrungen gemacht haben, dass sie geschlagen, gestoßen oder getreten wurden. Jeder vierte Polizist! Zählen sie mal auf dem Revier durch: 1, 2, 3 – und der Vierte wurde angegriffen, weil er seine Arbeit macht.
Verdopplung der Fallzahlen – in nur fünf Jahren
Das klingt wirklich bedenklich. Wie hat sich das seit 2010 entwickelt?
Arnd: Die erfassten Delikte gegen Polizisten haben seitdem noch deutlich zugenommen. In Rheinland-Pfalz hat sich der Wert von 2010 bis 2015 etwa verdoppelt und lag im vergangenen Jahr bei ungefähr 2.000 registrierten Staftaten. Jetzt muss man aber sagen:
Seit dem Bekanntwerden dieser Ergebnisse schauen wir hier auch viel genauer hin.
Außerdem halten wir die Kolleginnen und Kollegen stärker dazu an, jede Straftat gegen sie zur Anzeige zu bringen.
„Das Ausmaß des Problems wurde lange nicht erkannt“
Das tun sie nicht von alleine?
Arnd: Es gibt hier ganz verschiedene Mentalitäten. Manche Kollegen denken sich insbesondere bei Beleidigungen: „Als Polizist braucht man ein dickes Fell, das muss ich aushalten“. Die sagen, das auf sich zu nehmen, ist Teil des Gehalts. Meine Philosophie ist das nicht. Man muss sich das nicht gefallen lassen. Und das Ausmaß des Problems wurde lange nicht erkannt. Deswegen bitten wir Kolleginnen und Kollegen darum, konsequent jede Beleidigung und Bedrohung zur Anzeige zu bringen.
Aus Sicht der Redaktion macht es einen Unterschied, ob jemand spontane Aggressionen entwickelt, etwa weil er betrunken in eine Verkehrskontrolle gerät und jetzt mit massiven Problemen zu rechnen hat. Oder ob ein dauerhafter Hass vorliegt. Wir beobachten zunehmend, dass „die Polizei“ in gewissen Kreisen, insbesondere unter rechten und linken Extremisten, regelrecht als Feindbild gilt. War das schon immer so?
Arnd: Wir können beobachten, dass Autoritäten zunehmend in Frage gestellt werden. In der Studie von Pfeiffer wurden Kollegen auch befragt, was sie denn glauben, woher diese Aggressivität gegen die Polizei kommen. Und wenn sie jemanden festnehmen wollen und er wehrt sich, dann ist das noch erklärbar. Ich sage ausdrücklich nicht: Dann kann man das verstehen. Aber es ist zumindest erklärbar, dass jemand aggressiv wird, wenn er unter gewaltsamen Zwang festgenommen wird. Aber sehr viele Kollegen haben auch das Gefühl, die Ursache der Aggressionen liegt in einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Staat an sich. Und das ist für mich schon wirklich sehr bedenklich. Das ist nämlich leider nicht nur bei Autonomen und Extremisten so. Es kommt auch vor, dass ganz unauffällige und eigentlich unpolitische Personengruppen Autorität generell grundlegend ablehnen. Das ist eine, wie ich finde, erschreckende Entwicklung.
„Viele Kollegen belastet das sehr“
Wie sieht das denn auf den Wachen aus? Wie groß ist die Belastung für die Kollegen? Ist die Gewalt gegen die Beamten ein regelmäßiges Gesprächsthema?
Arnd: Gesprächsthema ist es allein schon deshalb, weil wir jedes Delikt gegen die Polizei auch nachbereiten. Nach den Einsätzen setzen wir uns zusammen und besprechen, was gut gelaufen ist und was wir beim nächsten Mal besser machen können. Manchmal ziehen wir dabei auch externe Kräfte hinzu. Je nachdem wie schwerwiegend ein Fall war, kommt auch mal jemand von der Sozialbetreuung dazu. Für Kollegen können die Übergriffe auf sie eine schwere psychische Belastung darstellen.
Sind Polizisten da nicht abgehärtet?
Arnd: Nur weil jemand eine Uniform anzieht, legt er ja nicht sein Menschsein ab. Die meisten sind von Kindesbeinen an sozialisiert worden, ihre Konflikte verbal und gewaltfrei auszutragen. Da kommt es durchaus zu schockierenden Szenen. Ein kleines Beispiel: Stellen Sie sich vor, nach einer Beschwerde kommen sie in eine Gaststätte, in der jemand ordentlich über den Durst getrunken hat. Sie bitten ihn, zu gehen. Darauf reagiert er aber nicht. Sie bitten ihn noch einmal. Aber er geht immer noch nicht. Dann kündigen Sie an, dass sie zur Not Zwang anwenden werden müssen – und er spuckt ihnen ins Gesicht. Das ist Gott sei Dank auch für einen Polizisten keine alltägliche Erfahrung. Aber es kommt immer wieder zu solchen Vorfällen – vielleicht können sie sich vorstellen, was so etwas bei den Kollegen auslösen kann, wenn man ja eigentlich nur helfen will.
Noch bis zum Juni wird in Rheinland-Pfalz die Bodycam im Modellversuch getestet, sie sind der Projektleiter der landesweiten Arbeitsgruppe. In Hessen hat die Polizei bislang ja offenbar sehr gute Erfahrungen mit den Kameras gemacht. Können die Bodycams helfen, Gewalt gegen Polizisten einzudämmen?
Arnd: Ja, das ist aus meiner Sicht ein Baustein von vielen. Das Innenministerium prüft beständig, wie die Polizei besser geschützt werden kann. Und in den vergangenen Jahren wurde bereits eine ganze Menge in die Wege geleitet, beispielsweise neue Schieß- und Einsatzzentren, in denen sehr intensiv Maßnahmen zur Eigensicherung und Selbstverteidigung geschult werden. Außerdem haben wir die Nachbereitung von Einsätzen intensiviert, aber betrachten auch genauer, wie ein Dienstleiter mit seinen verletzten Kollegen umgeht. Natürlich prüfen wir auch, ob unsere Technik und Ausstattung noch zeitgemäß sind oder ob wir uns hier weiterentwickeln müssen. Brauchen wir neue Schutzwesten, gibt es ein besseres Reizstoffsprühgerät? Dabei haben wir uns auch mit den positiven Ersterfahrungen aus Hessen befasst und das Ministerium hat beschlossen, dass wir auch in Rheinland-Pfalz versuchen wollen, welche Erfolge mit dieser Technologie möglich sind.
Positive Ersterfahrungen
Zunächst war der Modellversuch ja auch die Präsidien Mainz und Koblenz beschränkt – wie kommt es da, dass sie als Revierleiter von Frankenthal zum Projektleiter geworden sind?
Arnd: Bevor irgendwelche Details festgelegt worden sind, haben wir beschlossen, dass wir für so ein Projekt unbedingt eine landesweite Arbeitsgruppe brauchen. Da kamen dann Kollegen aus allen Teilen des Bundeslands zusammen und wir haben zuerst Grundsatzfragen besprochen, bevor wir uns für die Versuchsstandorte entschieden haben.
Inzwischen wurde der Versuch unter anderem auch auf Ludwigshafen und Frankenthal ausgeweitet. Wie kam es dazu?
Arnd: Ausgangspunkt waren die Silvesternacht und die Ereignisse von Köln. In wenigen Monaten stand die Fastnacht bevor. In diesem Zusammenhang hat sich das Innenministerium bei mir nach den zwischenzeitlichen Erfahrungen erkundigt. Ich habe dann eine Anwenderbefragung durchgeführt. Damals waren es „nur“ 50 Kameraträgerinnen und -träger, heute sind es 200. Die Ergebnisse waren ganz überwiegend positiv. Seriös kann man aber noch nicht beurteilen, wie hoch der Wert der Kameras ist.
„Wir brauchen mehr Zeit“
Warum nicht?
Arnd: In Deutschland selbst gibt es bislang kaum Erfahrungen mit den Bodycams und die Erhebungszeiträume waren bis jetzt noch zu kurz für einen Feldversuch von solchen Ausmaßen. Da können sehr viele Faktoren die Ergebnisse verzerren, daher bin ich kein Freund davon, so schnell nur anhand von Zahlen zu einem Urteil zu kommen. Wenn die Fallzahlen um zehn Delikte zurückgehen, kann man nicht unbedingt 100 Prozent des Erfolgs auf die Kamera schieben – es könnte ja noch andere Ursachen geben. Wenn man nur ein Jahr erfasst und die Straftaten gegen Polizisten würden steigen, könnte man interpretieren, das sei durch die Kameras verschuldet. Womöglich gab es aber einfach einen Ausreißer, bei dem besonders viele Kollegen zu Schaden kamen – etwa eine Demonstration, die eskaliert. Um den Wert der Kameras wirklich sicher beurteilen zu können, brauchen wir mehr Zeit. So gibt es bislang nur ein vorläufiges Zwischenfazit.
Und in welche Richtung tendiert das?
Arnd: Es gibt viele Indizien, die große Erfolge versprechen. In Mainz sind die Zahlen im Erhebungszeitraum deutlich zurückgegangen. In Koblenz zwar nicht – dafür ist aber die Zahl der verletzten Kollegen im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Nach den Ergebnissen der ersten Befragung wurde außerdem noch kein Kameraträger körperlich angegriffen. Bis Ende Juli wird eine zweite Befragung durchgeführt, die Ergebnisse sind aber noch nicht erfasst.
Was erzählen denn die Kameraträger selbst von ihren Erfahrungen?
Arnd: Als Faustregel lässt sich feststellen: Je häufiger sie die Kamera tragen, desto sicherer fühlen sie sich damit. Die Kamera habe eine große deeskalierende Wirkung, so der Konsens. Das ist auch ihr Hauptzweck: Die Kameras sollen verhindern, dass es überhaupt zu Übergriffen kommt. Allein die Ankündigung, dass gefilmt wird, kann beruhigend auf eine Situation wirken. Wenn mal ein Übergriff auf einen Beamten festgehalten wird und das vor Gericht im Rahmen einer freien Beweisführung zur Verurteilung des Täters führt, ist das natürlich auch gut. Besser ist es aber, wenn es gar nicht erst zum Übergriff kommt. Wenn die Kamera anfängt zu filmen, sehen sich potenzielle Täter selbst auf dem Bildschirm – viele werden da zögerlicher und beruhigen sich wieder.
„Nicht immer hat die Kamera die erhoffte Wirkung“
Und das funktioniert?
Arnd: Den ersten Erfahrungsberichten zufolge: Ja. Allerdings mit einer Einschränkung: Bei Menschen unter Alkoholeinfluss oder psychisch Kranken hat die Kamera nicht die erhoffte Wirkung erzielt. Das muss man leider so deutlich sagen. Wenn die Hemmschwelle sehr niedrig liegt, hilft die Maßnahme tendenziell weniger.
Gab es auch Fälle, in denen das Filmen das Aggressionspotenzial noch gefördert hat?
Arnd: Auch dazu kann es kommen, allerdings in einer absoluten Minderheit der Fälle. Ich meine der Wert lag laut Befragung bei etwa sieben Prozent. Aber das ist völlig normal. Ich habe mich in diesem Kontext auch schon mit Psychologen unterhalten. Es gibt viele Belege, dass wir unser Verhalten ändern, wenn wir wissen, dass wir gefilmt werden. Aber nicht immer ist unser Verhalten deswegen sozial adäquat. Flapsig formuliert: Sobald eine Kamera läuft, meint jemand, den Clown spielen zu müssen. Es gibt Leute, die sich in einer Gruppe exponieren und unbedingt demonstrieren wollen, wie „stark“ sie gegenüber der Polizei auftreten können. In solchen Fällen könnten die Kameras Aggressionen noch fördern – aber nach den Berichten der Anwender wirkten die Bodycams in der ganz überwältigenden Mehrheit der bisherigen Fälle deeskalierend und die Träger fühlen sich damit teils deutlich sicherer.
Der Modellversuch läuft noch bis Juli. Wie wird es danach weitergehen?
Arnd: Als Arbeitsgruppe bewerten wir die Resultate und geben dann eine Empfehlung an das Ministerium ab, das schließlich die endgültige Entscheidung treffen wird, ob und in welchem Rahmen der Modellversuch zur Regel wird. Eine Entscheidung im Landtag ist nicht mehr nötig. Bild- und Tonaufnahme sind der Polizei bereits gestattet, damit stünde die Bodycam mit beiden Beinen auf dem Boden des Rechts.
In Baden-Württemberg sieht das anders aus, hier wäre eine Gesetzesänderung notwendig und die Einführung der Kameras ist hochumstritten. Wie hoffen sie, dass es mit den Körperkameras auf beiden Seiten des Rheins weitergeht?
Arnd: Richtig, in Baden-Württemberg ist zunächst der Gesetzgeber gefragt. Ideal wäre es, wenn kein Kollege gegen seinen Willen gezwungen wird, eine Kamera zu tragen – es aber allen, die es sich wünschen und sich damit sicherer fühlen, offensteht.