Stuttgart/Rhein-Neckar, 14. Dezember 2015. (red/cr) Eigentlich sind sie ganz normale junge Frauen. Aber ihre Familien kontrollieren sie auf Schritt und Tritt. Bedroht sie, weil sie sich mit „den falschen“ Freunden treffen. Verheiratet sie gegen ihren Willen. „Sie“ leben überall auf der Welt – auch mitten in Deutschland. Nur wenige trauen sich, sich zu widersetzen. Schaffen sie es, sich Hilfe zu suchen, bietet die Beratungsstelle Yasemin Unterstützung.
Von Christin Rudolph
Pro Jahr wenden sich mehr als 3.500 Menschen an Beratungsstellen, weil sie zwangsverheiratet werden sollen oder sind. Mitten in Deutschland. Zwangsheirat ist aber nur die Spitze des Eisberges. Voran geht meist eine gewaltvolle Erziehung. Widerspruch bedeutet meist den Bruch mit der Familie.
Die jungen Frauen sind also auf sich allein gestellt. Es sei denn, sie erfahren von der Unterstützung durch Beratungsstellen wie Yasemin.
Fachberatungsstelle Yasemin
Seit dem 01. Juli 2007 gibt es in Stuttgart die Beratungsstelle Yasemin der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V.. Hier beraten zwei Fachkräfte mit einem Stellenumfang von knapp 1,6 Stellen landesweit zum Thema „Gewalt im Namen der Ehre“, worunter auch Zwangsverheiratung fällt.
Mit dieser fachspezifischen Ausrichtung und dem mobilen Angebot ist Yasemin nicht nur Ansprechpartnerin für Hilfesuchende. Die Beraterinnen können zur Prävention in Schulen, in Einrichtungen der Jugendhilfe, zur Jugendarbeit oder zu anderen Beratungsstellen eingeladen werden.
In Fällen, in denen die Hilfesuchenden nicht selbst zur Beratungsstelle kommen können, reisen die Fachkräfte dahin, wo sie gebraucht werden.
Zwangsverheiratung ist ja nur die Spitze des Eisberges.
Eine Beraterin von Yasemin schildert, dass eine gewaltvolle Erziehung erfahrungsgemäß die Grundlage für Zwangsheirat ist. Die Eltern kontrollieren ihre Kinder sehr stark, lassen ihnen keine Privatsphäre. Diese psychische Gewalt gehe in einigen Fällen mit physischer einher.
Gesetzesänderung sinnvoll?
2011 wurde ein eigener Straftatbestand für Zwangsverheiratung eingeführt. Seitdem können Personen, die andere zur Heirat zwingen, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Das war ein Signal, dass Zwangsheirat eindeutig ein Verbrechen und von keiner Religion legitimiert ist. Allerdings kommt es kaum zu Strafverfahren.
„Die Frauen werden in einem kollektivistischen System erzogen, in dem jeder dafür zu sorgen hat, dass es allen gut geht“, so eine Beraterin von Yasemin. Die Betroffenen haben das Gefühl, sich gegen ihre Familie zu stellen,und somit auch Schuldgefühle. Kaum jemand möchte seine Eltern im Gefängnis sehen. „Ich habe noch nie erlebt, dass jemand wirklich geklagt hat,“ bestätigt eine Beraterin.
Weitere Finanzierung unklar
Prävention und Information finden aber nicht nur für Jugendliche statt. In Informationsveranstaltungen für Lehrpersonal, Behörden und Menschen in bestimmten sozialen Berufen wird für das Thema Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat thematisiert und dafür sensibilisiert.
In den ersten fünf Jahren wurde Yasemin über Aktion Mensch und den Spendenfond der Diakonie finanziert. Die Evangelischen Gesellschaft beteiligte sich auch aktuell anteilig. Seit dem 01. Juli 2012 übernimmt das Integrationsministerium den Hauptanteil.
Regelfinanziert ist die Arbeit der Beraterinnen bei Yasemin aber nicht. Angesichts der Landtagswahlen im März suchen sie daher aktuell überparteilich Fürsprecher.
Circa 200 Fälle pro Jahr
2014 wurden bei Yasemin 197 Fallakten angelegt. Am 03. Dezember 2015 waren 159 Fälle dokumentiert.
Die Zahl der beratenen Menschen ist aber viel höher,
so eine der Beraterinnen. Oft seien Vertrauenspersonen beteiligt, die die von Zwangsheirat Betroffenen oder Bedrohten informieren und unterstützen. In vielen Fällen wendet sich die Person auch nur einmal an die Beratungsstelle und die Mitarbeiterinnen können den weiteren Verlauf des Konflikts nicht nachvollziehen.
Für mich ist der Sinn meiner Arbeit, die Mädchen und jungen Frauen ernst zu nehmen.
Sie wolle die Frauen in ihren Rechten stärken und ihre Entscheidungen akzeptieren, sagt eine Beraterin bei Yasemin.
Diese Frauen haben überhaupt keine Lobby.
Bruch mit Familie hat ernste Folgen
Konnte eine Zwangsverheiratung verhindert oder die Trennung von Ehemann und Familie bewirkt werden, treten meist neue Probleme auf. Viele Frauen werden von ihrer Familie verfolgt und bedroht.
In solchen Fällen müssen zum Beispiel bei Banken, Krankenkassen oder dem Einwohnermeldeamt Auskunftssperren eingerichtet werden. Bei Minderjährigen ist die Unterschrift der Eltern notwendig, um Leistungen wie Berufsausbildungshilfe oder Kindergeld direkt beziehen zu können.
Hier bräuchte man elternunabhängige Leistungen,
klagt eine Fachkraft von Yasemin.
Bürokratie in Notfallsituationen
Bei jungen Volljährigen hingegen ist die Unterbringung schwierig. Beim Jugendamt kann zwar ein Antrag auf Hilfe für junge Volljährige gestellt werden, doch der wird oft abgelehnt oder der bürokratische Prozess dauert zu lange, um in einer Notsituation Hilfe erwarten zu können, so eine Beraterin von Yasemin.
Frauenhäuser, sagt sie, seien auf Frauen aus ganz anderen Lebenssituationen ausgerichtet. Die jungen Frauen, die vor Zwangsheirat fliehen, würden in ihren Familien selten auf ein selbstständiges Leben vorbereitet. Das Erwachsenwerden würde durch die Unterdrückung verzögert. In einem Frauenhaus wären sie daher überfordert.
Aufklärungsarbeit bleibt wichtig
Wie präsent das Thema Zwangsverheiratung in der Bevölkerung ist? In den vergangenen fünfzehn Jahren habe sich einiges in der Wahrnehmung und Sensibilisierung getan. Trotzdem gebe es immer wieder Leute, die ganz überrascht auf das Thema reagieren und noch nie davon gehört haben. Oder Fälle, in denen die Opfer nicht ernst genommen werden.
Man muss immer wieder neu kämpfen.
Wichtig sei es aber vor allem, so die Beraterin, dass die Menschen von den Beratungsangeboten erfahren. In den Herkunftsländern der Migranten gibt es solche Stellen nämlich in der Regel nicht.