Frankenthal/Rhein-Neckar, 14. Mai 2016. (red/pro) Als erstes Medium veröffentliche die Bild-Zeitung Namen vom Täter und den Opfern. Als nächstes hängen sich Lokalzeitungen und andere Medien dran und machen doch tatsächlich „Umfragen“ in der Frankenthaler Fußgängerzone bei Passanten. Im Internet gehen die ersten Fotos herum – natürlich mit vermeintlich mitleidigen Kommentaren versehen. Auch der Ruf nach der Todesstrafe ist schon im Umlauf. Als wäre das Geschehene nicht schon schrecklich genug, wird der Schrecken noch vervielfältigt.
Kommentar: Hardy Prothmann
In der Nacht von Freitag auf Samstag ist ein kleines Kind zu Tode gekommen. Das ist furchtbar. Das ist entsetzlich. Kein Journalist der Welt muss dazu eine „Umfrage“ machen: „Entschuldigung, haben Sie davon gehört? Was denken Sie dazu?“ Was, bitte schön, erwartet man für ein „Meinungsbild“, etwa, dass jemand sich mit vollem Namen zitieren lässt und sagt: „Ist mir doch egal“?
Was bitte taugt die Information der Namensveröffentlichung? Welchen Wert hat das für die Meinungsbildung? Reicht es nicht aus, den Wohnort, das Alter der Beteiligten zu übermitteln? Muss man die Straße und Hausnummer nennen? Muss man irgendwelche Passanten oder Anwohner zitieren? Welches Recht hat die Öffentlichkeit, ins Privatleben dieser jungen Familie einzudringen, deren Kind jetzt tot ist? Welches Recht haben Reporter, ein privates Detail nach dem anderen öffentlich zu machen – wer denkt an den Schmerz der Mutter und der Geschwisterkinder?
Was sollen Berichte, in denen dort Vöglein friedlich zwitschern und der Wind durch Bäume streicht, wo kurz zuvor ein Kleinkind zu Tode kam? Die Vögel zwitschern und der Wind weht – ganz egal, was vorher passiert ist. Genauso wie die Sonne auf- und untergeht.
Es gibt kein Recht auf Verletzung der Privatsphäre
Welches Recht haben Bekannte oder „Freunde“, Fotos der betroffenen Personen in Umlauf zu bringen? Genau keins.
Wenn man Kontakt zu den Personen und deren Familien hat und das Bedürfnis, sein Mitgefühl zu äußern, kann man dies persönlich tun, anrufen, eine email oder SMS oder sogar einen Brief schreiben. Postings auf sozialen Netzwerken hingegen sind keine privaten Meinungsäußerungen, sondern mindestens teilöffentlich und verbreiten sich weiter.
Auch uns erreichen Hinweise auf Fotos und persönliche Informationen zum Tatverdächtigen, der verletzten Mutter und des getöteten Kindes. Grundsätzlich wollen wir Hinweise und die Hinweisgeber kritisieren wir auch nicht, denn wir gehen professionell damit um.
Das heißt, wir veröffentlichen nichts davon, sondern verwenden das Material als Teil unserer Recherche und zur Einschätzung der Lage. Ja, wir haben uns diese Hinweise angeschaut, das ist der Job. Und ist macht bei solchen Fällen weder aufregend, noch haben wir irgendeinen „Spaß“. Wir denken intensiv darüber nach, was die Öffentlichkeit wissen sollte und was genau nicht. Namen, Fotos und private Details werden wir aktuell nicht veröffentlichen.
Wir könnten eine ergreifende Story schreiben, die bestimmt „durch die Decke“ gehen würde – aber ganz im Ernst: Wir gucken selbstbewusst in den Spiegel und wollen dort einen Menschen sehen und kein gewissenloses Ungeheuer.
Journalisten stellen professionell Öffentlichkeit her – manche besser, andere schlechter. Journalisten erhalten viele Informationen, die nie veröffentlicht werden (sollten), weil gewisse Informationen die Öffentlichkeit nichts angehen. Öffentliche Personen müssen sich mehr Öffentlichkeit gefallen lassen, als Privatpersonen. Die hier involvierten Personen aber sind Privatpersonen und darunter sind Kinder, die besonderen Schutz genießen.
Dass eine Familientragödie sich ereignet hat, ist zu berichten, denn schließlich hat die Öffentlichkeit mitbekommen, dass es einen Einsatz der Polizei und Rettungsdienste gab. Es wird eine Beerdigung geben und vermutlich eine Gerichtsverhandlung. Dazu ist es notwendig, gewisse Informationen zu übermitteln, damit die Öffentlichkeit dies einordnen kann. Mehr aber auch nicht.
Achten Sie die Menschenwürde, lassen Sie den Opfern ihren Frieden!
Soziale Netzwerke sind eine gute Möglichkeit, sich zu vernetzen, aber sie sind der absolute Horror für Personen in Notlagen. Über soziale Netzwerke werden häufig nur noch mehr Schmerzen zugefügt, als die Betroffenen eh schon haben.
Deshalb unser dringender Appell:
- Teilen Sie diesen Artikel und reden Sie mit anderen darüber, wie man sich richtig und verantwortlich verhält.
- Das kleine Baby ist tot. Es wurde nur zwei Monate alt. Es war schutzlos und ist es tot umso mehr. Achten Sie die Würde des Kindes. Die Mutter ist körperlich verletzt und wird im Krankenhaus behandelt. Viel schlimmer ist: Sie hat ihr Kind verloren. Schützen Sie die Mutter. Seien Sie mit Ihrer Anteilnahme bei Ihr, aber verbreiten Sie weder Fotos noch andere Informationen. Die Trauer der Mutter geht niemanden außer ihr selbst, ihre Familie, Freunde etwas an – und Menschen, die die Mutter selbst bestimmt, also Ärzte, Psychologen, Seelsorger.
- Es gibt noch zwei weitere kleine Kinder aus einer anderen Beziehung des Mannes, die den Streit und den Angriff auf die junge Frau vermutlich miterlebt haben. Möglicherweise auch den tödlichen Wurf des Babys aus dem Fenster. Eins der Kinder ist ebenfalls verletzt. Auch diese Kinder brauchen keine Öffentlichkeit, sondern Schutz vor weiteren Verletzungen.
- Der tatverdächtige Vater ist zunächst einmal tatverdächtig. Schuldig ist er dann, wenn die Behörden ihre Untersuchungen abgeschlossen haben, Anklage erhoben worden ist und ein Gericht ihn verurteilt hat. Im Anschluss muss er seine Strafe verbüßen. Sollte dem so sein, wachsen seine anderen Kinder ohne ihn auf. In Deutschland gibt es keine Todesstrafe und wir alle können froh sein, dass dem so ist.
- Denken Sie immer daran, wie es wäre, wenn in ihrer Familie, in ihrem Freundeskreis sich ein solch schreckliches Drama ereignet – was würden Sie sich wünschen? Ruhe? Die Möglichkeit zur Trauer? Schutz? Wäre es Ihnen egal, wenn Hinzu und Kunz spekuliert, Ihren Namen mit irgendwelchen Kommentaren versieht und auch noch Bilder von Ihnen und anderen postet? Oder irgendwelche Spekulationen über Sie in Umlauf bringt? Sicher nicht. Dann verhalten Sie sich dementsprechend.
- Achten Sie die Würde der Opfer und ihrer Familien. Wenn Sie Zugang zu den Familien haben, helfen Sie diesen, um Fotos und andere Informationen im Internet nicht mehr zugänglich zu machen. Und sollten Sie Kenntnis von Postings erhalten, die die Privatsphäre und den Schutz der Familie verletzen, ermahnen Sie die Leute, ihr Tun zu überdenken.