Rhein-Neckar/London, 14. Juni 2017. (red/usf) “In office but not in power”, könnte man die aktuelle Situation von Teresa May beschreiben. Der Blick über den Kanal zeigt bedenkliche Entwicklungen wie UK-Experte Udo Seiwert-Fauti beobachtet. Denn viele Medien berichten überhaupt nicht mehr neutral. Was das mit uns zu tun hat? Nun, die USA und UK sind in medialen Entwicklungen immer etwas früher dran als das Festland in Europa. Viele Medienleute schauen auf diese Länder und ahmen dortige Entwicklungen nach. Bedenklich ist auch die zunehmende Fremdenfeindlichkeit – selbst gegenüber EU-Ausländern.
Von Udo Seiwert-Fauti
Für viele Londoner Zeitungen war das Ergebnis der britischen Parlamentswahl am 8. Juni 2017 ein Desaster. Vor allem die Zeitungen Daily Mail, Daily Express, The Sun und der Daily Telegraph – alle London – hatten seit Ausrufung der Wahl 50 Tage lang nichts unversucht gelassen, den linken Labour Parteiführer Jeremy Corbyn als Gefahr fürs Land anzuprangern und ihn als denjenigen bezeichnet, der das Land ins Chaos führen würde.
Am Tag der Wahl veröffentlichte die Daily Mail 13 Seiten Negativismus gegen Corbyn. Er musste einfach verhindert werden. Klar war für die „rechten Vier“: nur die konservative Parteiführerin und Premierministerin Teresa May könne und musste gewinnen. Sie war für die vier die Lichtgestalt, um das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nord-Irland in eine tolle Zukunft und da vor allem ohne die EU zu führen.
Zufällig sind diese vier Zeitungen auch die diejenigen Blätter, die beim EU Referendum 2016 klar Stellung bezogen, dass das UK nur außerhalb der EU richtig und voll aufblühend überleben könnte.
Journalismus? Doch eher PR
Aus rein unbritischer, also deutscher Sicht, könnte man durchaus Zweifel haben, ob es sich bei diesen Vier überhaupt noch um Zeitungen handelt. Vor allem die Daily Mail und ihr Chefredakteur Paul Dacre scheinen jegliche journalistische Standards vergessen haben. Monatelang verbreiteten sie während des EU-Referendums, Stichwort Brexit, angebliche Tatsachen über die EU, die sich nachher als Lügen herausstellten.
Während der Unterhauswahl war das nicht anders. Alles was Teresa May sagte, war irgendwie toll, alles was Gegenkandidat Corbyn sagte, irgendwie komplett „idiotisch“ und „höchstgefährlich“. Das dem so war und wahrscheinlich auch weiterhin sein wird, belegt eine aktuell veröffentlichte Studie des Centre of Research in Communication and Culture der englischen Universität Loughborough. Ihre neue Studie stellt unmissverständlich fest:
The press were biased against Jeremy Corbyn in the election.
Man könnt es aber auch so ausdrücken: Die Zeitungsleser haben den britischen Medien deutlich gezeigt, dass zwischen der angeblich journalistischen Wirklichkeit und der realen Wirklichkeit der Leser, Seher und Hörer, eine deutliche Lücke klaffte und klafft. Genau genommen müsste man wohl die vier aus London zukünftig genauer als PR-Agenturen bezeichnen, die ohne Rücksicht auf Wahrheit und Wirklichkeit ihre Wirklichkeit der Klientel vermitteln wollten und wollen.
Fremdenfeindliche Stimmung nimmt zu
Dass Jeremy Corbyn nahe daran war, neuer Premierminister Britanniens zu werden, dürfte in den Mail, Express, Telegraph und Sun Redaktionen wie eine Bombe eingeschlagen haben. Das hatte man dort sicher nicht auf der Rechnung, auch wenn viele Umfragen Tage vor der Wahl auf einem knappen Ausgang hindeuteten.
Unbestritten ist auch, dass die oft sehr aggressive Berichterstattung der vier rechten Zeitungen in Bezug auf alles Europäische auch dazu beigetragen hat, dass sich das britische Lebensgefühl vieler EU–Angehöriger im UK stark verändert hat. Polen, Bulgaren und Rumänen sind nach Meinung der Londoner Zeitungen mehr oder weniger dafür verantwortlich, dass Engländer keine Jobs mehr bekommen, sie also den Brits die Jobs wegnehmen.
Zudem stehen sie für die angeblich hohe Immigration und kommen nur ins UK, um auch den National Health Service kostenlos in Anspruch zu nehmen. Es mag für Deutsche abwegig erscheinen, doch genau diese Argumentation haben viele britische Zeitungen während des EU-Referendums ungeprüft übernommen und transportiert. Die Folge: der Brexit aus der EU und eine deutlich feindlichere Stimmungslage gegenüber EU-Ausländern und Ausländern überhaupt.
In England (sic!) sind bereits viele Polen angegriffen worden, einige wurden sogar getötet, aggressive Beschimpfungen gegenüber angeblich Ausländern mitten auf den Straßen Englands haben deutlich zugenommen. Egal ob man nun 30, 20 oder nur 10 Jahre schon im UK lebt, plötzlich wird man als unerwünschte Person angesehen. So deutlich muss man das tatsächlich sagen.
Die Ausnahme scheint Schottland zu sein. Dort teilte die schottische Ministerpräsidentin in einem persönlichen Brief allen EU-Nationals mit, dass sie auch weiterhin gerne in Schottland gesehen wären, bitte doch bleiben sollten, da sie viel zur schottischen Kultur beitragen würden und eines wäre doch klar:„ You are one of us“.
Die irgend ganz besondere Situation: während Teresa May möglichst alle EU-Ausländer nach Hause schicken möchte, das britische Innenministerium viele Anträge auf Verbleib im UK bereits abgelehnt hat, möchte das immer noch zum UK gehörende Schottland, dass genau diese Gruppe der Bevölkerung bleibt.
Chaostage im UK
Der Ausgang der Wahl am 8. Juni 2017 hat das UK ins Chaos gestürzt. „In office but not in power“ titeln viele britische Medien über Britanniens Premierministerin May, die ja eigentlich mit einem Riesen-Wahlsieg gestärkt in die Brexitverhandlungen mit der EU gehen wollte.
Mit verlorener absoluter Mehrheit und deutlichen 13 Sitzen Verlust, während der ungeliebte Corbyn gleich 30 hinzugewann, steht Teresa May jetzt stark geschwächt da. Niemand weiß im Moment genau wie es weitergehen soll im gelobten Großbritannien.
Mays neue Idee, mit der strikt protestantischen nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) eine irgendwie geartete Koalition hinzubekommen zeigt mehr als deutlich ihre Verzweiflung. Vorher kümmerte gerade englische Konservative Nord-Irland kaum, jetzt also dieser deal, der auch noch das politische Gleichgewicht in Nord-Irland ins Wanken bringt.
Nach dem immer noch gültigen Karfreitagsabkommen zur Beruhigung der politischen Lage in Nord-Irland muss sich die britische Regierung „ rigorously impartial“ , also strikt neutral, verhalten. Sie darf in die nord-irische Regionalpolitik nicht eingreifen. Premierministerin May aber bevorzugt mit dem DUP-Deal die protestantische Seite und lässt die katholische Seite Nord-Irlands in Form der Sinn Fein Partei außen vor. Sinn Fein ist die politische Version der ehemaligen Kampfeinheit IRA.
Zudem muss man wissen, dass es aktuell in Nord-Irland weder ein Regionalparlament noch einen Ministerpräsidenten gibt. Die jetzt mit May anbandelnde DUP ist dafür verantwortlich, dass die letzte DUP-Sinn Fein Regierung zurücktreten und das Parlament in Belfast neu gewählt werden musste. Die DUP stolperte über den dubiosen Umgang mit Erneuerbaren Energie-Fördergeldern. In der Wahl zum Belfaster Regionalparlament gewann die DUP nur einen Sitz mehr als Sinn Fein. Beide großen Parteien aber müssen laut Good Friday Agreemernt eine Regierung bilden. Bislang weigert sich Sinn Fein mit der DUP eine Grundlage auszuhandeln. Wie es in Nord–Irland weitergehen wird ist vollkommen offen und unsicher.
Vor diesem Hintergrund will nun Teresa aus London mit Arlene aus Belfast (DUP Vorsitzende ist Arlene Fraser) den britannienweiten Koalitionsdeal einfädeln. Wie nicht anders zu erwarten war, hat das umgehend den republikanisch-irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny auf den Plan gerufen. Der Chef des EU-Mitgliedlandes Irland hat Frau May unmissverständlich vor den Konsequenzen eines solchen Deals für die innere Sicherheit in Nord-Irland gewarnt. Kurz darauf trat dann auch noch Sinn Fein Chef Gerry Adams , gälisch: Gearóid Mac Ádhaimh, vor die nord-irischen Medien und forderte die Republik Irland auf, nun umgehend ein Einigungsreferendum Irland-Nord-Irland einzuberufen.
Wer verhandelt, ob und wie hart oder weich?
Was beutetet das alles für die eigentlich am 19. Juni beginnenden Brexitverhandlungen mit der EU?
Um einen Louis Armstrong Hitsong zu zitieren: „nobody knows the trouble I have seen“. Viele Briten fragen sich zunehmend laut und deutlich, wer denn bitte mit welcher Power diese Verhandlungen für das UK führen solle? Die geschwächte Miss May, der gestärkte Mister Corbyn, alle beide ohne Mehrheit im Parlament? Und sollte es tatsächlich einen so genannten Hard Brexit, den Komplettausstieg aus allem EU-europäischen geben?
Selbst Parteifreunde von Frau May, die so gerne wie Baroness Maggie Thatcher geworden wäre, fordern plötzlich, den von ihr geplanten Hard Brexit doch mehr zu einem Soft Brexit werden zu lassen. Soll heißen: wir bleiben im europäischen Wirtschaftsraum und in der europäischen Zollunion.
Offenbar hat auch in der konservativen Partei nach dem Wahldebakel ganz offiziell das Verstehen begonnen, was es eigentlich real für das UK bedeutet aus der EU komplett auszutreten. Die Auswirkungen werden täglich deutlicher. Nur eines ist derzeit sicher: Niemand weiß wie es weitergehen soll und wer das Ganze schaukeln will und soll.
So ist wohl kein Wunder, dass es bereits eine neue Idee gibt: Neuwahlen im Herbst. Das wären dann die 3. UK-Wahlen in diesem Jahr.
Zur Person:
Udo Seiwert-Fauti arbeitet für mehrere deutsch- und englischsprachige Medien (ARD, BBC) sowie in Deutschland und international als Fachdozent in der Journalistenausbildung. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören das EU-Parlement und der Europarat; außerdem ist er bei der Bundespressekonferenz und dem Scottish Parliament in Edinburgh akkreditiert. Er berichtet für uns in unregelmäßigen Abständen zu UK- und Europathemen, die wir spannend für unsere Leserschaft finden.