Rhein-Neckar, 14. September 2015. (red/gb) André Schulz, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), kritisiert die deutsche und die europäische Asylpolitik: Die Politik brauche einen Masterplan – den gebe es aber nicht. Der Kriminalbeamte stellt fest, dass man sehr wohl wissen konnte, welche Flüchtlingsmassen nach Europa kommen werden – gehandelt wurde nicht. Besorgniserregend ist die Schätzung des BDK: Zehn Prozent der Flüchtlinge werden Straftaten begehen.
Von André Schulz
Allein in München sind in den letzten 14 Tagen knapp 60.000 Flüchtlingen angekommen, nur am vergangenen Samstag über 12.000.
Seit Sonntagabend wird nun an deutschen Grenzen wieder kontrolliert, das „Schengener Abkommen“ wurde vorrübergehend ausgesetzt. Deutschland zieht die Notbremse.
Die Kanzlerin lädt nach Deutschland ein, der Bundesinnenminister muss wenige Tage später erklären, dass das wohl doch nicht so gemeint war.
Dieses hin und her macht die ganze Planlosigkeit der Bundesregierung deutlich. Dabei steht viel mehr auf dem Spiel, denn Europa als Gesamtgebilde steht auf dem Prüfstand.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte im August seine Prognose der Asylbewerberzahlen für Deutschland deutlich nach oben korrigiert. Erst im Mai hatte man die Zahl von ursprünglich 300.000 auf 400.000 angehoben, nun rechnet das Bundesamt in diesem Jahr mit bis zu 800.000 neuankommenden Asylbewerbern. Und wer weiß, ob nicht auch diese Zahl bis zum Jahresende nochmals erhöht werden muss.
Unvorhersehbar?
Aber nicht nur das BAMF riskiert mit seiner anscheinenden Ahnungslosigkeit, das Vertrauen der Bevölkerung zu verlieren. Unisono verkündeten Politiker quer durch die Parteienlandschaft, dass niemand mit dieser starken Zuwanderungswelle habe rechnen können.
Konnte man nicht?
Dieser hilflose und klägliche Versuch, Verantwortung von sich zu weisen, kann sehr schnell als das entlarvt werden, was er ist: schlichte Lüge oder das Fehlen jeglicher Kompetenz. Aus Kreisen des Auswärtigen Amtes und der deutschen Sicherheitsbehörden wurde sehr früh auf eine drohende Flüchtlingswelle hingewiesen.
„Der Flüchtlingsandrang war absehbar“
Der „Arabische Frühling“ begann im Dezember 2010. Bereits 2011 wurden z.B. im Bundeslagebild des BKA mit Blick auf die zunehmende Schleuserkriminalität steigende Flüchtlingszahlen aus den betroffenen Ländern prognostiziert. Ebenso 2012, 2013 und 2014.
Hätten sich unsere verantwortlichen Politiker auf EU- und Bundesebene nicht diesen Erkenntnissen nach dem Prinzip der drei Affen (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen) verschlossen, hätten wir uns auf die Situation ganz anders einstellen können.
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Lesetipp: Hilfsbereitschaft ist gut – aber muss man auch Dealer willkommen heißen?
Nice to meet you?
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Wir hätten heute keine überquellenden Züge und Bahnhöfe und überforderte Länder, Städte und Kommunen gehabt, die nicht wissen, wie sie der Lage noch Herr bleiben können. Wir hätten fast 5 Jahre Zeit gehabt, uns auf die kommenden Herausforderungen einzustellen.
Wir hätten Aufnahmeeinrichtungen in ausreichender Anzahl aufbauen und die notwendige Logistik bereitstellen können. Wir hätten die Flüchtlinge menschenwürdig in ihre Unterkünfte transportieren und unterbringen können.
Haben wir aber nicht.
Anstatt sich handlungsfähig und verantwortungsvoll zu zeigen, nach innen und nach außen, hat sich erwiesen, dass die europäischen Abkommen das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. Es hat sich gezeigt, dass Europa (bisher) eben nicht der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, den er vorgibt zu sein.
Keine einheitliche Stimme
Dazu kommt erschwerend, dass Europa nicht mit einer Stimme spricht, keine einheitliche Asyl- und Außenpolitik und auch keine echte gemeinsame Verteidigungspolitik betreibt. So ein System ist anfällig. Die gute europäische Vision wird von Politikern konterkariert, die Maßnahmen nicht in aller Konsequenz zu Ende denken.
So wurden bis heute nicht wirklich die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, damit die Sicherheitsbehörden nach Schaffung des „Schengener-Raum“ angemessen auf die weggefallenen Ländergrenzen reagieren konnten. Die Verordnungen „Dublin I, II und III“, die den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerber europaweit verbindlich regeln sollten und auch der Prümer Vertrag, der die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration festlegt, haben sich in der Praxis in Teilen bisher als zahnlose Tiger erwiesen. Aber wer rechnet eigentlich ernsthaft mit einer barrierefreien Ermittlungsmöglichkeit auf Polizei- und Justizebene in Europa, wenn selbst die Polizei innerhalb Deutschlands bis heute keinen einheitlichen Informationsaustausch oder gar ein deutschlandweites Fallbearbeitungsprogramm hinbekommen hat.
Die Polizei ist es dann auch, die (mal wieder) mit den Konsequenzen einer fehlgeleiteten Politik an vorderster Linie zu kämpfen hat. Die Polizei im Bund und in den Ländern arbeitet am Limit und das nicht erst seit Kurzem.
Jahrelange Warnrufe der Gewerkschaften, dass der ungebremste Stellenabbau und das Kaputtsparen der Polizei verantwortungslos sind und nicht mehr lange gut gehen werden, verhallten größtenteils ungehört.
„Bedrohungslage lässt sich nicht mehr einschätzen“
Durch die nicht mehr vorhandenen Binnengrenzen sind mehrere Zehntausend Flüchtlinge unkontrolliert und ohne Erfassung nach Deutschland eingereist. Zahlreiche Asylbewerber sind mittlerweile aus Aufnahmeeinrichtungen verschwunden und unbekannten Aufenthaltsortes. Einige sind weiter nach Skandinavien gereist, aber viele wohnen derzeit auch unangemeldet bei Freunden und Verwandten in Deutschland.
Die Sicherheitsbehörden haben darüber Erkenntnisse, dass unter den Flüchtlingen mehrere Dschihad-Rückkehrer sind. Nur kennen wir längst nicht alle. Damit sind die tatsächliche Gefährdungslage und das Risiko für terroristische Anschläge in Deutschland derzeit nicht mehr seriös zu beantworten.
Die bisherigen Erkenntnisse aus dem Polizeialltag zeigen des Weiteren, dass rund 10% der Asylbewerber strafrechtlich auffällig werden und Taten aus dem Bereich der Eigentums-, Gewalt- und Drogendelikte begehen. Ca. 15% der Täter fallen dabei mehrfach auf. Im Ergebnis werden diese Taten die Kriminalstatistik aller Voraussicht nach schon in diesem Jahr im sechsstelligen Bereich anwachsen lassen.
„Täter in der Regel alleinreisende junge Männer“
Sehr bemerkenswert dabei ist, dass so gut wie nie syrische Kriegsflüchtlinge unter den Tatverdächtigen sind. Die Täter sind in der Regel alleinreisende junge Männer aus dem Balkan, überdurchschnittlich häufig aus dem Kosovo, aus Georgien und Nord- und Zentralafrika.
Einige Täter geben sich perfiderweise als Syrer aus, werden aber bei der Vernehmung aufgrund ihres Akzentes von den Dolmetschern schnell als aus Tunesien, Algerien oder Marokko stammend entlarvt.
Hier bedarf es des konsequenten Handelns von Polizei und Justiz, damit Täter aus den Reihen der Asylbewerber schnell identifiziert und zur Verantwortung gezogen werden können, damit nicht die breite Mehrheit der Zugewanderten in Misskredit gebracht werden kann, was wieder Wasser auf die Mühlen verblendeter rechter Zeitgenossen wäre. Politiker ohne erkennbaren Plan und ohne Antworten auf die offenen Fragen sind der Nährboden für Erscheinungen wie Pegida und Co.
„Der Politik fehlt ein Masterplan“
Nur durch die aufopfernd arbeitenden zahllosen Helfer aus den Reihen der Bevölkerung, der NGO’s und auch von den Mitarbeitern der Kommunen und Ländern ist es bisher gelungen, dass die zum Glück noch vorherrschende positive Stimmung bisher nicht gekippt ist. Niemand weiß aber, wie lange das noch der Fall sein wird, denn der Zustrom nach Deutschland ist weiterhin ungebrochen und der Politik fehlt immer noch der Masterplan.
Deutschland hat jetzt erst begriffen, dass es seit Jahrzehnten de facto ein Einwanderungsland ist und diese Uhr auch nicht mehr zurückzudrehen ist. Wir gewähren ein grundgesetzlich verankertes Asylrecht, haben aber so gut wie keine Möglichkeit geschaffen, damit Betroffene dieses Recht auch wirklich und auf legalem Wege in Anspruch nehmen können. Stattdessen kriminalisieren wir Asylbewerber systembedingt.
Wir haben uns jahrzehntelang wenig Mühe um echte Integration gemacht und uns vor einer geordneten Zuwanderung in Form eines längst überfälligen Einwanderungsgesetzes verschlossen, die auch sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen unter bestimmten Voraussetzungen eine Zuwanderung ermöglichen würde. Wir müssen akzeptieren, dass ein Großteil der Flüchtlinge bei uns bleiben wird und das diese eine Chance für unser Land sind und keine Bedrohung. Dazu gehört aber auch ein schnelles Asylverfahren und ein zügiger Zugang zu unserem Arbeitsmarkt.
„Menschenverachtende Kolonialpolitik auf Kosten anderer Länder“
Alle bisherigen Reaktionen seitens der Politik waren kurzfristige Notmaßnahmen. Die wirklichen Probleme werden damit aber nicht gelöst. Man muss die Ursachen für die Probleme beseitigen, nicht nur versuchen, die Symptome bekämpfen zu wollen. Dazu gehört unbedingt auch Ehrlichkeit! Die Ehrlichkeit, zuzugeben, dass wir – die westliche Welt – zu einem erheblichen Teil die Verantwortung für die derzeitige Situation tragen.
Durch eine arrogante und menschenverachtende Kolonialpolitik haben wir andere Völker über Jahrhunderte ausgebeutet und auf deren Kosten gelebt. Wir haben in vielen Regionen die Grundlage für den Hass auf die westliche Welt und die heute damit einhergehende terroristische Bedrohung selbst geschaffen. Wir haben Seite an Seite mit den USA und anderen Verbündeten unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus bestehende Strukturen in den Ländern zerstört, aus denen heute die Flüchtlinge stammen. Wir haben es ermöglicht, dass der IS überhaupt entstehen konnte.
„Europa guckt zu“
Derzeit sieht Europa staunend, hilf- und tatenlos zu, wie die USA, syrische, irakische und türkische Regierungstruppen sowie Kurdenorganisationen, die bei uns als Terroristen eingestuft sind, gegen den IS kämpfen, geben gute Ratschläge und jammern über die hohe Zahl der Kriegsflüchtlinge. Ein Plan sieht anders aus.
Wir bezahlen heute lediglich den Preis für eine uralte Rechnung. Dies macht aber auch deutlich, dass Deutschland die bestehenden Herausforderungen nicht allein meistern kann. Europas Politiker müssen jetzt sehr schnell Verantwortung übernehmen und beweisen, dass Europa mehr ist als nur eine schöne Vision, wenn es eine Zukunft haben soll.
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Der Bund Deutscher Kriminalbeamter vertritt als Gewerkschaft rund 15.000 Kriminalbeamter. Wir danken für die Genehmigung zur Textübernahme. Das Original finden Sie hier.
Anm. d. Red.: Unsere Kolumne Montagsgedanken greift außerhalb des Terminkalenders Themen auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Gesellschaft oder Regionales oder Verkehr. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden…