Ludwigshafen/Frankenthal/Rhein-Neckar, 14. Februar 2013. (red/ld) Der Prozess um schweren sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Eis- und Rollsportclubs Ludwigshafen ging heute Vormittag in eine neue Runde. Am Landgericht Frankenthal wurden das psychologische Gutachten sowie Briefe eines der Opfer an den Angeklagten verlesen. Bei der Vernehmung zweier Polizeibeamter zu den Vernehmungen des Beschuldigten und der Opfer wurden die Strukturen deutlich, in die die 12-14 Jahre alten Jungen hinein geraten waren: Danach trat der Beschuldigte als Kumpel der Jungen auf und behauptet weiterhin, seine Opfer hätten freiwillig bei den sexuellen Handlungen mitgemacht.
Von Lydia Dartsch
Eine psychische Krankheit oder eine krankhafte Pädophilie liege bei dem Beschuldigten nicht vor, sagte Dr. Iris Schick in der Verhandlung. Mit Spannung wurde heute ihr psychologisches Gutachten vom Angeklagten erwartet. Stattdessen habe sie eine pädophile Nebenströmung bei ihm festgestellt, da sein sexuelles Interesse nicht ausschließlich auf Kinder begrenzt sei. Die Befragung habe ergeben, dass er auch Beziehungen zu erwachsenen Männern und Frauen eingehen könne, sagte die Fachärztin für Forensische Psychiatrie. Diese Nebenströmung sei korrigierbar, sagte sie und empfahl eine Sozialtherapie, in der der Angeklagte den Umgang mit dieser „Nebenströmung“ erlernen könne.
„Es hätte ihm bewusst sein müssen“
Er wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte. So habe er einen Tag vor seiner Wohnungsdurchsuchung bei der Polizei per SMS um ärztliche Unterstützung und psychologische Betreuung gebeten, gab Kriminalhauptkommissar Gerhard Minikus aus Ludwigshafen zu Protokoll. Ein Unrechtsbewusstsein habe der Täter bei der Vernehmung aber nicht gezeigt, sagte er. Er habe seine Taten verharmlosen wollen:
Er sagte, die Jungs hätten getan, was Jungs in dem Alter tun. Sie hätten unter der Dusche onaniert.
Sie hätten den Angeklagten aufgefordert, mitzumachen, sagte der Polizist weiter aus. Während der Vernehmung habe er kein Unrechtsbewusstsein gezeigt.
Er hat sich als Opfer dargestellt, weil die Kinder das freiwillig getan hätten. Es hätte ihm bewusst sein müssen, dass er sich strafbar macht,
sagte Minikus. In der Vernehmung habe er auch von anderen Vorfällen gesprochen. Namen habe er zwar keine nennen wollen, um seine Freunde und Kumpels zu schützen, wie er die Jungs nannte. Iris Schick bestätigte die Selbstwahrnehmung des Angeklagten:
Er sagte, er habe sich als Jugendlicher gefühlt. Wie bei vielen pädophilen Männern scheint er die Welt der Jugendlichen als seine eigene zu erleben.
Er war Kumpel und Vertrauensperson
Der Missbrauch begann im Jahr 2008. Der Angeklagte habe sich in seiner Tätigkeit beim Eis- und Rollsportclub sozial isoliert geführt. Dazu habe auch beigetragen, dass er auf dem Vereinsgelände wohnte. Durch ähnliche Interessen im Bereich Autos und Tuning habe er Kontakt zu Jungen zwischen 11 und 15 Jahren gesucht, ließ sie auch bei sich übernachten. Er habe mit den Jungen eine familiäre Struktur aufgebaut, sagte Schick.
Sie waren seine Familie, seine Kumpels. Darin waren die sexuellen Handlungen eingebettet.
Kriminalhauptkommissar Minikus sprach von einer hierarchischen Ordnung, die sich in dem Gefüge ausgebildet habe. Ranghöhere durften dabei rangniederen Befehle erteilen. Insgesamt hätten sie ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu dem Angeklagten gehabt. In dieses Bild könnte auch die Vorbildfunktion passen, die der Angeklagte laut psychologischem Gutachten einnehmen wollte:
Er ist sehr werteorientiert. Seine Kumpels sollten anständig bleiben und keine Drogen nehmen,
sagte Dr. Iris Schick. Das vertrauensvolle Verhältnis zwischen dem Täter und seinen Opfern habe auch im Nachhinein noch Bestand gehabt. Das geht aus einem Brief hervor, den das erste Opfer im Mai 2012 dem Angeklagten schrieb: Er würde den Angeklagten vermissen und wolle mit ihm telefonieren. Er erzählt von Autos, die er repariert und getunt hat. Als ein zweiter Brief verlesen wird, schließt Richter Wolpert die Öffentlichkeit aus, auf Antrag einer Nebenklägerin. Der Inhalt des Briefs gebe Hinweise auf die damaligen Lebensumstände des inzwischen 18-jährigen Zeugen.
Wieso überhaupt die Kinder und Jugendlichen zwischen 2008 bis 2012 bei dem Mann übernachten durften, wieso die Eltern das erlaubt haben – diese Fragen bleiben offen. Immerhin waren vier der Opfer beim Beginn des Missbrauchs unter 14 Jahre alt. Auch die Rolle des Vereins bleibt unklar – erst soll der Verein verharmlost und den früheren Angestellten geschützt haben. Erst später änderte sich die Haltung.
Sexuelle Übergriffe in familiären Strukturen
Die „familiäre“ Struktur wird durch die polizeiliche Vernehmung bestätigt. Kriminalhauptkommissar Minikus berichtet von der Vernehmung des Opfers, das Anzeige erstattet hatte. Im Beisein seines Vaters und eines Erziehungsbeigeordneten vom Stadtjugendring habe der damals Dreizehnjährige nichts erzählen wollen. Nachdem er erlaubt hatte, alleine befragt zu werden, gab er zunächst an, er habe von anderen gehört, sie seien Opfer des Angeklagten gewesen:
Später rief der Vater des Jungen an: Sein Sohn habe berichtet, dass doch mehr gewesen sei.
Es sei passiert, als er bei dem Beschuldigten übernachtet habe, sagte der Jugendliche bei der polizeilichen Vernehmung. Er sei von ihm mit rotem Wodka „abgefüllt worden“.
Als es darum ging, sich schlafen zu legen, habe sich der Angeklagte zu dem Jungen gelegt und unten Hand angelegt. Es sei zum Handverkehr gekommen.
Der Junge habe Namen genannt und auch gesagt, dass keiner von ihnen etwas aussagen würde, um ihren Kumpel – den Angeklagten – zu schützen. Dazu berichtete der Polizist von Aussagen über verbale Anspielungen, ob der Zeuge „es auch von hinten machen wolle“. In mehreren Fällen habe es bei den Vernehmungen der Opfer auch Berichte darüber gegeben, dass es auch zum Analverkehr mit den Opfern gekommen sei. Davon berichtet auch Karl Stauch von der Kriminalinspektion Ludwigshafen, der weitere Opfer vernommen hatte: Viele von ihnen hätten gemauert und herumgedruckst. Einer von ihnen habe sofort berichtet, dass es zum Analverkehr gekommen sei.
Gab es weitere Täter?
Es sei eine sehr zähe Vernehmung gewesen, gab Stauch zu Protokoll. Erst als er sie mit der Aussage „Du hast nicht alles gesagt“ unter Druck gesetzt habe, hätten sie von den Handlungen berichtet und dabei immer wieder beteuert, es sei alles freiwillig geschehen.
Verteidiger Gert Heuer fragt genau nach, ob es Mittäter gab: Ein Zeuge habe in der Vernehmung von mehreren Beteiligten bei den sexuellen Handlungen gesprochen. Er habe nicht nachgefragt, wer oder wie viele das gewesen seien, sagte Karl Stauch. Auch habe er bei der Vernehmung nicht nach dem Alter der Jungen gefragt. Das könnte aber wichtig sein, da sich daran bemisst, ob sie rechtlich als Kinder oder als Jugendliche gewertet werden, was wiederum das Strafmaß beeinflusst. Dass er nicht nachgefragt habe, sei dem Umstand geschuldet, dass die Vernehmung „so holprig“ verlaufen sei. Er habe seinen Zeugen im Redefluss behalten wollen und deshalb nicht nachgefragt.
Verfahren eingestellt, um die Opfer zu schützen
Der Angeklagte verfolgt die Verhandlung in Abwehrhaltung: Sein Gesicht verbirgt der 32 Jahre alte Angeklagte vor Beginn hinter einem Briefblock. Die Kameras der anwesenden Medien halten drauf, minutenlang. Erst als die Kameras aus dem Gerichtssaal 1 des Landgerichts verwiesen werden, legt er seinen Schutz ab: Er gibt sich im Gespräch mit seinem Verteidiger betont lässig. Rote Flecken in seinem Gesicht verraten seine Anspannung. Er verschränkt die Arme vor der Brust, überkreuzt die Beine. Er ist ein wenig pickelig und trägt einen schmalen Kindbart. Er wirkt aufmerksam und jugendlich. Er hat keine Vorstrafen.
Nachdem beim ersten Verhandlungstag bereits zwei Zeugen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen mussten, verzichtete Richter Michael Wolpert nach Antrag der Staatsanwältin auf die Vernehmung weiterer Geschädigter und stellt die Verfahren in einigen der 154 Anklagepunkten ein:
Im Vergleich zu der erwartbaren Strafe fällt die Aussage nicht ins Gewicht.
Das Gericht will mit diesem Verzicht den Opfern ersparen, erneut aussagen und das Erlebte noch einmal erleben zu müssen. Unter den rund 20 Zuschauern waren einige, die die Verhandlung mit Tränen in den Augen verfolgten. Der nächste Prozesstermin ist am kommenden Dienstag, 19. Februar. Dann wird neben den Plädoyers auch das Urteil gegen den 32-jährigen Gerätewarts erwartet.
Laut Gesetz ist für schweren sexuellen Missbrauch an Kindern eine Höchststrafe von 15 Jahren vorgesehen. Wie hoch die Strafe in diesem Fall ausfallen könnte, wollten weder die Staatsanwaltschaft noch die Verteidigung angeben.