Rhein-Neckar, 14. Dezember 2015. (red/cr) Jahr für Jahr werden tausende Mädchen und Frauen gegen ihren Willen verheiratet – mitten in Deutschland. Wie viele genau, kann niemand sagen. Nur wenige trauen sich, Widerstand zu leisten. Und diejenigen, die es tun, zahlen einen hohen Preis für ihre “Freiheit”.
Von Christin Rudolph
Filiz ist eigentlich ein ganz normales Mädchen. Aber – vier Monate nach ihrem Realschulabschluss sollte sie verheiratet werden. Sie war einfach einem Mann versprochen worden. Ohne ihre Zustimmung.
Handy weg, Haare ab – Du Schlampe
Filiz wollte sich wehren – ihre älteren Geschwister schlagen sie und beschimpfen sie als Schlampe. Sie nehmen ihr Handy weg und schneiden ihr die Haare ab – weil sie sich angeblich für zu hübsch halte. Als sie sich danach trotzdem weigert, den fremden Mann zu heiraten, droht ihre Mutter, sich umzubringen.
Die Geschichte von Filiz ist kein Einzelfall. Tausende erleiden das gleiche Schicksal. Nicht weit entfernt. In fremden Kulturkreisen. Mitten in Deutschland.
Filiz konnte bei einem Hilfsverein für Frauen Unterstützung finden und unter einer neuen Identität so etwas wie ein neues Leben aufbauen. Nicht jede Geschichte geht so gut aus.
Realität für tausende Frauen
Jedes Jahr werden tausende Frauen gegen ihren Willen zwangsverheiratet. Sie werden eingeschüchtert und bedroht. Oft glauben die Opfer, dass es keinen Ausweg aus ihrer Lage gebe. Vor allem sind Frauen zwischen 18 und 21 Jahren betroffen. Erstaunlich – es trifft nicht nur Frauen. Rund sieben Prozent der Betroffenen sind männlich.
Wie viele Betroffene oder Bedrohte es in Deutschland genau gibt, ist unklar. Generell ist die Dunkelziffer bei Zwangsverheiratungen sehr hoch. Viele Opfer glauben nicht, dass Polizei und Behörden ihnen helfen können. Oder sie wissen gar nicht erst, dass Hilfsangebote existieren.
Mindestens 3.500 Fälle im Jahr – hohe Dunkelziffer
Bundesweit wurden im Jahr 2008 knapp 3.500 Beratungsfälle gezählt, darunter sieben Prozent Männer. Schon diese Zahl ist entsetzlich. Das sind aber nur die bekannten Fällen – es ist von einem viel größeren Dunkelfeld auszugehen.
Warum zwingt man seine Tochter, seine Schwester, seine Cousine zur Heirat?
Meist ist das Motiv die vermeintliche Wahrung einer angeblichen Familien-“Ehre”, teilen Beratungsstellen mit. Zum Beispiel werden Mädchen möglichst früh verheiratet und teils im Kindesalter einem Fremden versprochen, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu gewährleisten.
Heirat als Menschenhandel
Manchmal gibt es auch einen wirtschaftlichen Hintergrund. In diesen Fällen verkaufen die Familien ihre Töchter für Brautgelder in großer Höhe. In diesem Fall ist “Zwangsheirat” eher ein Euphemismus für Menschenhandel.
Die erzwungene Eheschließung kann aber auch ein Einreiseticket sein. Reist beispielsweise eine Migrantin aus Deutschland in ihr Herkunftsland und heiratet dort, so kann der Mann per Ehegattennachzug nach Deutschland einreisen.
Geheiratet wird überwiegend im Ausland. In einigen Fällen verhindert die Familie sogar eine Wiedereinreise nach Deutschland, zum Beispiel durch den Entzug des Passes. Dadurch sind die Betroffenen dazu gezwungen, beim neuen Ehepartner im Ausland zu bleiben.
Dort sind sie meist auf sich allein gestellt und haben kaum soziale Kontakte außerhalb der Familie. Oftmals sprechen sie nicht einmal die Sprache des Landes.
Ehe als Gefängnis
Betroffen sind Menschen aller sozialen Schichten. Eine Gemeinsamkeit haben aber fast alle: Einen Migrationshintergrund, der mit patriarchalischen Strukturen verbunden ist. Sie kommen aus sogenannten “Ehrkulturen”. Für die Familie bedeutet ein “rebellisches” unverheiratetes Kind einen “Ehrverlust”.
Insbesondere in abgeschotteten, erzkonservativen Familien überträgt sich dieses Denken von den Eltern auf die Kinder. Daher gibt es auch unter Migranten, die schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, Betroffene, teilen Beratungsstellen mit.
In einer Broschüre des Familienministeriums mit dem Titel “Zwangsverheiratung bekämpfen, sagt eine Frau über ihre Familie:
Ich habe ihre ganze Ehre und Ruf zerstört. Sie haben Angst, sich nicht mehr raustrauen zu können. Sie können den Fragenden nicht die Wahrheit meiner Flucht sagen, weil sie sich für mich schämen und weil die Angst zu groß ist, dass sie total blamiert sind.
Von 2009 bis 2010 gab das Familienministerium eine Studie in Auftrag, um die Fallzahlen und Hintergründe zu untersuchen. Ihren Ergebnissen sind die meisten Opfer in Deutschland geboren (32 Prozent), gefolgt von der Türkei (23 Prozent), Serbien/Kosovo/Montenegro (8 Prozent) und dem Irak (6 Prozent). Viele, die im Ausland geboren wurden, leben allerdings schon seit vielen Jahren in Deutschland. Etwa die Hälfte besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft – fast alle Opfer haben einen Migrationshintergrund.
Deutlich geringere Bildung
Außerdem lässt sich aus den in der Studie genannten Zahlen ablesen, dass die betroffenen Personen unabhängig von ihrem Alter über eine deutlich geringere schulische und berufliche Bildung verfügten und seltener in den Arbeitsmarkt integriert waren. So haben 44 Prozent der bereits Verheirateten die Schule ohne Schulabschluss verlassen.
Zum Vergleich – das war “nur” bei 19 Prozent der noch nicht Verheirateten der Fall. Ähnlich ist das im Bezug auf die Berufsausbildung. 80 Prozent der bereits Verheirateten waren ohne Berufsausbildung, während das “nur” auf 57 Prozent der noch nicht Zwangsverheirateten zutraf.
Da diese Verhältnisse unabhängig vom Alter der Personen gelten, liegt der Schluss nahe, dass Bildung im Fall einer Zwangsheirat nicht weiterverfolgt oder verhindert wird. Die Rolle der Frau scheint sich hauptsächlich auf Haushalt und Kindererziehung zu beziehen. Bildung und Berufstätigkeit haben einen geringen Stellenwert.
Gewalt schon in der Erziehung
Zwei Drittel der Opfer von Zwangsverheiratung geben an, schon in ihrer Erziehung elterlicher Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Auch auf die Psyche ist der Druck enorm: Mehr als 70 Prozent wurden beschimpft, erniedrigt, erpresst oder bedroht. Die Betroffenen werden von ihrer Familie stark kontrolliert:
Warum kommst du so spät nach Hause? Hast du dich etwa mit einem Jungen rumgetrieben? Du bringst Schande über die ganze Familie!
Das sind typische Muster, von denen Beratungsstellen berichten. Durch solche Anschuldigungen entwickeln die Betroffenen Schuldgefühle – viele sehen sich nicht als Opfer, sondern als Täter.
An wen sollen Opfer sich wenden?
Die Zwangsverheiratung widerspricht sämtlichen freiheitlichen und fortschrittlichen Werten einer Demokratie und es könnten jedes Jahr zehntausende betroffen sein. Trotzdem finden kaum eine öffentliche Debatte statt und die wenigsten wissen, wie groß die Missstände sind.
In Mannheim beispielsweise stellt die Stadt gar keine Schätzung an, wie viele Menschen zu Opfern werden. Das Dunkelfeld sei so hoch, dass man dies nicht seriös tun könne.
Eine eigene Beratungsstelle gibt es nicht in Mannheim. Man befasse sich beim Amt der Gleichstellungbeauftragten unter anderem auch mit diesem Thema, heißt es von Seiten der Stadt. Wie viele Betroffene davon wohl wissen?
Jedes Jahr könnten in der Region dutzende, vielleicht sogar hunderte Frauen Schicksale wie Filiz erleiden. Aber wer wird ihnen helfen? Oder bleiben sie auf sich allein gestellt, weil sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen?