Mannheim/Rhein-Neckar, 14. Juli 2015. (red/pro) Die Griechenland-Krise dominiert die Medienlandschaft – doch viele Meldungen könnten kaum unterschiedlicher sein: Mal werden “die faulen Griechen” dämonisiert, mal sind die Troika und die europäischen Staats- und Regierungschefs die “wahren Übertäter und Strippenzieher”. Wer hat sich wirklich schuldig gemacht? “Beide Seiten – also Gläubiger und Schuldner – haben schwerwiegende Fehler gemacht, die sie eingestehen müssen, um wieder konstruktiv an Lösungen arbeiten zu können,” sagt MdB Dr. Gerhard Schick, der finanzpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Im Interview erläutert der studierte Volkswirt, welche Konsequenzen ein Grexit aus seiner Sicht verursachen würde – und wie eine Lösung aussehen könnte, die den Interessen aller Beteiligten gerecht wird.
Interview: Hardy Prothmann; Mitarbeit: Minh Schredle
Die Griechenland-Krise ist eines der bedeutendsten und zugleich komplexesten Themen der europäischen Politik und dominiert seit Wochen die öffentliche Debatte. Trotzdem steigen viele Menschen aus, weil sie dem Geschehen nicht mehr folgen können. Worum geht es denn im Wesentlichen?
Dr. Gerhard Schick: Eine einfache Erklärung gibt es nicht. Wenn man einem einzelnen der vielen verschiedenen Akteure die Schuld zuweisen will, wird das diesem komplexen Sachverhalt nicht gerecht. Auf beiden Seiten – also sowohl Schuldner, als auch Geldgeber – wurden seit Krisenbeginn 2009 viele Fehler gemacht. Jetzt muss man sich bemühen, eine Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist und die zügig realisiert werden kann. Bis jetzt haben aber beide Seiten versäumt, ihre Fehler einzugestehen und arbeiten weiter in ihren festgefahrenen Denkweisen. Das führt zu einem Verhandlungspoker, der die griechische Bevölkerung an den Rand des Abgrunds gedrängt hat. Ich sehe das mit zunehmendem Entsetzen. Denn an einem Grexit kann niemand Interesse haben.
Ein Grexit wäre für Deutschland also nicht rentabel?
Schick: Ganz im Gegenteil: Für Deutschland stehen 90 Milliarden Euro auf dem Spiel. Wenn es zum Grexit kommt, können wir uns sicher sein, dieses Geld nie wieder zu sehen. Wenn also gewisse Kollegen auf vermeintliche Vorzüge verweisen, kann ich denen nur empfehlen: Einfach mal nachrechnen. Von Vorteilen kann keine Rede sein.
“Eine billige Lösung gibt es nicht”
90 Milliarden sind natürlich eine gewaltige Summe. Aber macht es nicht vielleicht trotzdem Sinn, einen Schnitt zu machen, bevor uns diese Angelegenheit noch mehr Geld kostet?
Schick: Erstens glaube ich, dass wir einen großen Teil dieses Geld mit den richtigen Reformen noch zurückbekommen können. Zweitens würde der Grexit weitere dramatische Konsequenzen verursachen: Griechenland würde im Chaos versinken. Und die gesamte Euro-Zone würde ihre Verlässlichkeit als Währungsunion verlieren und potenzielle Investoren abschrecken. Wie viel das kosten würde, lässt sich nicht beziffern.
Welche Szenarien sind denkbar, wenn Griechenland aus dem Euro ausgeschlossen wird?
Schick: Eigentlich kann ein Land gar nicht aus dem Euro austreten oder rausgeworfen werden. Dieser Fall ist nicht vorgesehen, es gibt keine vertragliche Grundlage. Sicher ist nur, dass ein Ausschluss Chaos verursachen würde. Es ist sogar denkbar, dass man in Teilen Griechenlands zum Tauschhandel zurückkehren würde.
Welche Konsequenzen hätte ein Grexit für die griechische Bevölkerung?
Schick: Am stärksten würden die Menschen darunter leiden, die schon jetzt nichts mehr haben und kein Vermögen ansparen konnten, sowie kranke Menschen, die auf ein funktionsfähiges Gesundheitssystem angewiesen sind oder Familien mit kleinen Kindern. Einige werden in Bedrängnis geraten, die soziale Lage wird sich weiterhin massiv verschärfen – und die ist schon jetzt nicht gerade rosig.
“Ein unberechenbares Chaos droht”
Kann es zum Bürgerkrieg kommen?
Schick: Ich will kein Horrorszenario heraufbeschören. Aber was würde beispielsweise passieren, wenn der Staat seine Polizei nicht mehr bezahlen kann? Es sind hier viele Szenarien denkbar. Vermutlich würde zerbrechen, was die Europäische Union über die vergangenen Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat. Aber im Endeffekt kann niemand sagen, was geschehen wird. Dass ein unberechenbares Chaos bevorsteht, sollte aber eigentlich Warnung genug sein.
Abgesehen von verlorenen Finanzspritzen – welche Konsequenzen hätten Deutschland und die Euro-Zone zu erwarten, wenn der Grexit eintritt?
Schick: Viele Griechen würden sicherlich ihr Land verlassen und ins Umland auswandern – in der EU genießen sie ja Freizügigkeit. Neben sozialen Konsequenzen würde natürlich auch die europäische Wirtschaft große Schäden davontragen. Es müsste zu deutlichen Steuererhöhungen in Deutschland kommen, um die Verluste im Bundeshaushalt aufzufangen. Nicht sofort und nicht in offensichtlichem Zusammenhang mit Griechenland – aber irgendwie müsste dieses Geld ja kompensiert werden. Außerdem wäre es ein riesiges Problem für die Währungsunion, wenn Griechenland austritt. Dann wäre das Vertrauen der Investoren in die Euro-Zone erheblich beschädigt. Und die Frage würde aufkommen: Wann folgen die nächsten Staaten und scheiden aus dem Euro aus?
Der Grexit muss also vermieden werden?
Schick: Was die Befürworter des Grexits in den Debatten oft unterschlagen, ist, dass die Probleme auch mit einem Ausstieg Griechenlands aus dem Euro noch lange nicht vom Tisch sind. So oder so: Diese Probleme werden uns noch einige Jahrzehnte verfolgen. Eine billige Lösung gibt es nicht.
“Provokationen und Starrsinnigkeit helfen niemandem”
Bisher haben die Europäische Union, der Internationale Währungsfond und die Europäische Zentralbank über 200 Milliarden Euro Hilfsgelder nach Griechenland fließen lassen. Wie kann es denn sein, dass mit all diesem Geld nichts bewerkstelligt worden ist?
Schick: Es stimmt nicht, dass sich in Griechenland nichts getan hat. In den vergangenen Jahren ist hat sich schon viel verändert und die griechische Regierung hat ihren Haushalt radikal zusammengestrichen. Das große Problem ist: Die neuen Schulden werden hauptsächlich dafür verwendet, alte Schulden bezahlen zu können. Das ist das eigentliche, viel benannte „Fass ohne Boden“. Es versteht sich von selbst, dass so keine Lösung möglich ist.
Auch wenn viel eingespart wird: Griechenland braucht mehr und mehr Geld und ist aus eigener Kraft finanziell nicht handlungsfähig. Woran liegt das?
Schick: Die alten griechischen Regierungen haben viele Fehler gemacht und klar ist, dass der griechische Staat massive strukturelle Defizite aufweist. Die neue Regierung unter Tsipras konnte natürlich in den wenigen Monaten ihrer Amtszeit keine Wunder bewirken – hier kann man ihr also wenig vorwerfen. Allerdings hat die griechische Regierung ihre Verhandlungspartner in einem unverantwortlichen Ausmaß provoziert und im Wahlkampf Versprechungen gemacht, die niemand einhalten kann.
Und wie jetzt weiter?
Schick: Es ist komplett unangebracht, in einer Situation, in der so viel auf dem Spiel steht, trotzig zu sein – aber genau das ist bei vielen Staats- und Regierungschefs und Politikern in Spitzenpositionen der Fall. Was gerade passiert, sind ideologische Verhandlungen zum Schaden aller europäischer Bürgerinnen und Bürger. Was klar sein muss: Je schlechter es der griechischen Wirtschaft geht, desto weniger bekommen wir von unseren Krediten zurück. Die Richtung in die Schäuble gerade spielt – also den Grexit erzwingen – würde zum Schaden der deutschen Steuerzahler führen.
“Merkel sollte Mut beweisen und ihre Fehler eingestehen”
Welche Motivation vermuten Sie bei Herrn Schäuble?
Schick: Ich glaube, Herrn Schäubles Ideal von Europa ist, dass alle Menschen sich immer an alle Regeln halten – und wenn sie das nicht tun, müssen sie dafür bezahlen. Aber in dieser Situation geht das nicht – außer auf Kosten aller. Und im Zweifelsfall wird gar nichts mehr zurückgezahlt.
Herr Schäuble sollte als Finanzminister und Wirtschaftsprofessor eigentlich wissen, was er tut. Wie kommt es, dass Ihre Einschätzungen so weit von einander abweichen? Will Herr Schäuble einfach nur Macht demonstrieren? Warum sollte er den Grexit fordern, wenn dieser so viele Nachteile mit sich bringt?
Schick: Herr Schäuble – und auch Frau Merkel – achten immer stark darauf, was bei der Bevölkerung gerade in Mode ist und richten dann ihre Politik darauf aus. Und große Teile der Bevölkerung fänden es – aus welchen Gründen auch immer – gerade gut, wenn wir „die Griechen rausschmeißen“. Aber man kann keine kurzfristige Stimmungslage der Bevölkerung als einzigen Maßstab für dermaßen langfristige Handlungsentscheidungen heranziehen.
Würden Sie es Frau Merkel und ihrer Regierung wirklich zutrauen, dass sie aus Parteikalkül und Wahlkampfkalkulationen einen anderen Staat an die Wand fährt?
Schick: Ich sehe im Umgang mit der Krise definitiv Verfehlungen auf Seiten der Kanzlerin. Ich glaube, sie hat die Debatte zulange passiv verfolgt, bis inzwischen auch in ihrer Fraktion Stammtischparolen Verbreitung gefunden haben, die aber mit den tatsächlich Sachlagen nur wenig zu tun haben. Ich habe den Eindruck, dass Frau Merkel schon lange erkannt hat, dass der aktuelle Kurs ins Nichts führt. Aber noch versteckt sie sich hinter der Troika. Ich hoffe, dass Frau Merkel den politischen Mut aufbringt, diese Fehler zu korrigieren.
“Noch gibt es Hoffnung”
Welche Fehler sind denn konkret begangen worden?
Schick: Die Geldgeberseite – und darunter federführend unsere Bundesregierung – will Griechenlands Schulden reduzieren, indem der Staat die Steuern weiter erhöht und seine Ausgaben senkt. Das hat bislang aber überhaupt nicht funktioniert – und an dieser Stelle hat die griechische Regierung recht: Die „Kaputtspar-Politik“ der vergangenen fünf Jahre hat keinerlei Erfolge erzielen können. Die Schulden sind noch weiter gestiegen und auch die Arbeitslosigkeit ist massiv angewachsen. Die Gläubigerseite müsste sich jetzt eigentlich eingestehen: Unser Konzept ist nicht aufgegangen, es muss ein neues her. Das ist bislang aber nicht geschehen.
Sie glauben, dass Griechenland und die Euro-Zone durch die richtigen Reformen noch gerettet werden können. Wie müssen diese Reformen aussehen?
Schick: Die entscheidende Frage ist jetzt: Wie erreicht man eine Schuldentragfähigkeit Griechenlands? Wie erreichen wir, dass Griechenland finanziell handlungsfähig genug bleibt, den Staat am Laufen zu halten und gleichzeitig die Schulden abzubauen? Das ist keine Aufgabe, die sich kurzfristig lösen lässt – selbst eine Zeitspanne von 30 Jahren ist noch optimistisch.
Wie könnte ein Anfang aussehen?
Schick: Die Schuldenlast hängt immer stark von der Höhe der Zinsen ab. Eine Umschuldung zu niedrigeren Zinsen wäre denkbar, um die Griechen zumindest die Zinslast zu erleichtern. Zur Zeit zahlt Griechenland beim Internationalen Währungsfond (IWF) 3,6 Prozent Zinsen. Würde man die viel niedrigeren Zinsen, die der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM an den Märkten derzeit bekommt, langfristig an Griechenland weiterreichen, dann wären die Schulden tragfähig. Denkbar wäre dann auch, dass die Zinslast ansteigt, sobald die Wirtschaft wieder richtig ins Rollen gekommen ist. Ich kann verstehen, dass Leute argumentieren, man solle niemanden durch vergünstigte Konditionen bevorzugen – aber auf den aktuellen Zinssätzen zu beharren, hilft niemandem weiter. Wir brauchen grundlegend neue Konzepte.
Ist eine Wende denkbar?
Übers Wochenende haben sich die Meldungen wieder überschlagen – können Sie Menschen verstehen, die „aussteigen“, weil die teils widersprüchlichen Meldungen nicht mehr einzuordnen sind?
Schick: Ja, natürlich kann ich das nachvollziehen. Es ist auch für uns Parlamentarier nicht immer einfach zu wissen, was da genau in Brüssel verhandelt wird. Denn manchmal stimmt das, was für das heimische Publikum in die Mikrophone gesagt wird, nicht mit dem überein, was hinter den Türen besprochen wird.
Gibt es aktuell eine mögliche Wende, nachdem Frankreich, Luxemburg, Österreich und Italien sich deutlich gegen ein Grexit positioniert haben?
Schick: Zum Glück haben einige Länder unseren Finanzminister gebremst bei seinem Versuch, Griechenland aus der Eurozone zu treiben. Doch allein schon, wie Schäuble die Debatte geführt hat, hat massiven Schaden herbeigeführt, den Deutschland noch über Jahre spüren wird. Denn so kann man mit Partnern in der Eurozone nicht umgehen. Die Ängste vor einer deutschen Dominanz in Europa sind jetzt wieder da. Früher galt Schäuble mal als großer Europäer. Das gilt heute leider nicht mehr.
Zur Person
Dr. Gerhard Schick ist seit 2005 Bundestagsabgeordneter und seit 2007 der finanzpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion. Seit 2008 ist Dr. Schick außerdem Mitglied im Parteirat der Grünen. Dr. Schick hat Volkswirtschaftslehre studiert und promovierte im Jahr 2003. Das Interview haben wir vergangenen Donnerstagnachmittag geführt – die aktuellen Entwicklungen ergeben fast täglich neue Informationslagen. Wir bitten, dies zu berücksichtigen.