Weinheim/Rhein-Neckar, 13. November 2014. (red/cb) Paul Niedermann ist 87 Jahre alt, Jude und einer der letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus. Als er 13 Jahre alt war, wurde er mit seiner gesamten Familie in ein Internierungslager nach Gurs in Südfrankreich gebracht. Außer ihm und seinem Bruder hat keiner seiner Angehörigen diese Zeit überlebt. Am 12. November war er nun zu Gast der Johann-Philipp-Reis-Schule (JPRS) und hat über die grausamen Erlebnisse berichtet.
Von Carolin Beez
Es ist Nacht und der eiskalte Wind weht vom Gebirge her zu den schäbigen Holzbaracken hinunter. Paul und sein kleiner Bruder (10) gehen in einer Traube von anderen Kindern hinter der jungen Frau her. Sie laufen direkt auf den hohen Stacheldrahtzaun zu, der das gesamte Gelände umgibt.
Hinter dem Zaun entdeckt der 14-jährige einen kleinen LKW. Als sie am Zaun ankommen, steigt eine Frau aus. Sie trägt eine französische Uniform. Auf der anderen Seite kommt der Fahrer aus dem Wagen. In der Hand hält er eine große rote Zange. Er rennt zum Zaun, an dem die Kinder warten. Zertrennt die untersten beiden Drähte, so dass ein kleines Loch entsteht.
Ohne einen Laut von sich zu geben, beginnen die Kinder hindurch zu kriechen. Als es Paul endlich durch den Zaun geschafft hat und zu dem Laster rennt, möchte er vor Schreck am liebsten losschreien. Nur zweihundert Meter weiter sieht er den Wachposten mit seinem Gewehr über der Schulter. Der Mann dreht den Flüchtenden den Rücken zu.
So muss die Flucht der Kinder aus dem Arbeitslager Rivesaltes nach den Erzählungen Paul Niedermanns ausgesehen haben.
Bis heute geht mir dieses Bild nicht aus dem Kopf. Der Wachmann musste uns gehört haben, das Auto hat beim Wegfahren so geknattert, das konnte man nicht überhören.
beschreibt Paul Niedermann seine Flucht aus dem Arbeitslager der Nationalsozialisten im Jahr 1942.
Neugierige Schüler, Lehrer und Bürgermeister
Es ist eine unglaubliche Geschichte für die rund 300 Schüler und Leherer, die am 12. November in der Aula des Berufschulzentrums sitzen. Auch Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner und noch einige Mitglieder des Weinheimer Gemeinderats sind gekommen, um Geschichte durch einen Zeitzeugen zu erleben.
Es ist wichtig, über seine eigene Vergangenheit Bescheid zu wissen, um nicht dieselben Fehler erneut zu begehen.
sagt der mittlerweile 87-jährige Mann. Er erzählt mit großer Genauigkeit und kann sich an zahlreiche Details genau erinnern. Er kommt mittlerweile an viele Schulen und reist durch ganz Frankreich, Deutschland und früher auch Amerika um Menschen von der damaligen Zeit zu berichten.
Paul Niedermann wurde am 01. November 1927 in Karlsruhe geboren. Hier hat er den Aufstieg der Nationalsozialisten 1933 miterlebt – als sechsjähriger Junge, der gerade eingeschult wurde. Doch lange habe er die Schule nicht besuchen können.
Juden wurden von der Gesellschaft isoliert
Nachdem 1935 die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet wurden, mussten alle jüdischen Lehrer und restliche Beamte ihre Arbeit niederlegen. Jüdische Freischaffende, zum Beispiel Ärzte oder Architekten, durften nur noch für Juden tätig werden. Und jüdische Schüler wurden der Schule verwiesen.
Später hätten die Kinder Unterricht in einer jüdischen Schule erhalten. „Wir hatten die besten Lehrer damals. Denn alle jüdischen Professoren, von großen Universitäten, durften ja sonst nirgends mehr arbeiten.“
Mit der Zeit seien die Regelungen immer drastischer geworden, er hätte nicht mehr mit der Straßenbahn fahren dürfen, nicht mehr ins Schwimmbad, ins Theater oder ins Kino gehen dürfen. Der jüdische Teil der Bevölkerung wurde so in der nationalsozialistischen Gesellschaft vollständig isoliert.
Es war unvorstellbar, dass ein Jude in der gleichen Sitzreihe wie ein Arier saß. Aber Kinder, ich kann euch bis heute nicht sagen, was genau ein Arier ist. Ich hab auch blaue Augen, aber das hat niemanden interessiert.
Morgens trommelt es auf einmal an der Tür. Leute von der SS, SA, und Gestapo stehen davor. „Wir hatten 20 Minuten Zeit, unsere Sachen einzupacken“, ezählt er.
Und dann kommt die lange Fahrt. Drei Tage und vier Nächte – so lange habe es gedauert von Karlsruhe bis nach Gurs, in einem der 4. Klasse Wagons. Die Holzwagen sind bereits 1928 aus dem öffentlichen Verkehr genommen worden, weil sie keinerlei Komfort boten – für die Deportation sind sie „ausreichend“.
Familien wurden getrennt
Letztlich wären die Deportierten nach Frauen und Männern unterteilt in Holzbaracken gesperrt worden. Familien wären so auseinander gerissen worden. Die erste Zeit durfte Paul bei seiner Mutter wohnen, danach – mit 13 Jahren – galt er als erwachsen und wurde in eine der Männerbarracken verlegt.
Die Zustände, so erzählt er, gehen ihm bis heute noch nicht aus dem Kopf. Er sei zu dieser Zeit ein großer abgemagerter Junge gewesen. Bei einer Körpergröße von einem Meter sechzig habe er nur 32 Kilo gewogen. In den Blocks hätten außerdem furchtbare hygienische Bedingungen geherrscht.
Ratten, Krankheiten, Ungeziefer
Paul Niedermann berichtet außerdem von Ratten, die Füße anknabberten und Krankheiten übertrugen oder andere Ungeziefer, die sich in den Klamotten und Haaren der Gefangenen einnisteten und Seuchen verbreiteten. Teils starben Lagerinsassen ganzer Blocks an Thyphus oder anderen Krankheiten.
1942 wurde die Familie Niedermann dann von Gurs nach Rivesaltes verlegt. Von hier aus gelang Paul und seinem jüngeren Bruder dann die Flucht.
Damals kam eine Frau zu meinen Eltern und bot an meinen Bruder und mich aus dem lager zu befreien, es war keine leichte Entscheidung für meine Eltern, aber es war die einzige Möglichkeit.
Die Brüder wurden von Privatpersonen aus dem Lager befreit und kamen später in ihrem haus unter. Hier bekamen sie nach fast zwei Jahren zum ersten Mal saubere Kleidung, Essen und ein Bett. Ihre Eltern wurden im selben Jahr von den Nationalsozialisten in Vernichtungslagern getötet.
Flucht in die Schweiz
Durch die Hilfsorganisation OSE gelang es, den kleinen Bruder Arnold nach Amerika zu einer Tante zu bringen. Danach folgte eine Zeit in der Paul Niedermann mit anderen Kindern durch das besetzte Frankreich reiste und sich an verschiedenen Orten verstecken musste. 1943 sei ihnen die Flucht über die Schweizer Grenze gelungen.
Paul Niedermann wurde später zu einem Journalist und Fotografen, der in Frankreich oft seine Fähigkeit nutzte, deutsch zu sprechen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohnt er mit seiner Familie in Frankreich.
Paul Niedermann als Zeuge in den „Barbie-Prozessen“
Nach mehr als 40 Jahren sprach Herr Niedermann das erste Mal über seine Erlebnisse. Als Zeuge in den Prozessen gegen den SS-Offizier und Kriegsverbrecher Klaus Barbie. Dieser hatte, 1944 veranlasst 41 Kinder des jüdischen Kinderheims in Izieu, zu verhaften und nach Auschwitz zu bringen. Hier hatte Paul Niedermann zuvor für einige Zeit im Garten gearbeitet. Dort wurden sie wenig später in den Gaskammern umgebracht.
Ich konnte nie begreifen, wie Gott es zulassen konnte, dass so viele Menschen getötet wurden. Ich habe immer versucht, das zu verstehen, aber meine Eltern wurden getötet, nur weil sie Juden waren, wie soll man das verstehen?