Rhein-Neckar, 13. Juni 2016. (red/cr) Im vergangenen Jahr wurden 130 Kinder getötet. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zu kindlichen Gewaltopfern sind bedrückend. Gerade deswegen sollte man über die Fakten sprechen – und nicht aus „interessierten Gründen“ Panik verbreiten.
Von Christin Rudolph
Sie sind “schockierend“ und “schrecklich” (Die Welt), diese “Horrorzahlen” (Bild) – gemeint sind die Zahlen der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik zu kindlichen Gewaltopfern.
Am 01. Juni war internationaler Kindertag. Aus diesem Anlass stellten Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e.V. und Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik 2015 zu kindlichen Gewaltopfern zusammen mit Expertinnen vor.
Aber sind die wirklich so „schockierend“ und scheinbar „überraschend“? Selbstverständlich ist Gewalt an unschuldigen, wehrlosen und schutzbefohlenen Kindern schrecklich – jeder Einzelfall. Aber muss man diese Gewalttaten überdramatisieren? Was sagen die harten Fakten?
Der Statistik zufolge wurden 2015 insgesamt 130 Kinder getötet. 81 Prozent von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. Mehr als zwei Drittel, 85 der 130 Kinder, waren jünger als drei Jahre alt. In 52 weiteren Fällen blieb es bei versuchter Tötung.
Dramatik am falschen Platz
Bundesweit stieg die Fallzahl vollendeter fahrlässiger Kindstötungen gegenüber dem Vorjahr um 51 Prozent an. Die Deutsche Kinderhilfe verkündet in ihrer Pressemitteilung:
Die Landeskriminalämter der Länder Rheinland-Pfalz und Sachsen meldeten in diesem Bereich einen Anstieg von 300 Prozent, Hessen musste einen Anstieg von 500 Prozent bekannt geben.
Das klingt noch dramatischer, sogar höchst dramatisch.
Was die Deutsche Kinderhilfe nicht mitteilt: Woher dieser rasante Anstieg kommt. Auf Anfrage sagte ein Sprecher des Landeskriminalamts Hessen, im vergangenen Jahr seien 10 Kinder Opfer einer fahrlässigen Kindstötung geworden. Darunter fallen zum Beispiel auch fahrlässige Behandlungsfehler in einem Krankenhaus – also nicht das, was man unter „Gewalt“ versteht.
Acht Kinder bedeuten 500 Prozent
Die Steigerung von 500 Prozent ist sehr hoch, die absoluten Zahlen, also die Zahl der Fälle und Opfer, bleibt aber auf niedrigem Niveau. Außerdem gibt es Fälle mit mehreren Opfern, so seien etwa bei 2 verschiedenen Wohnungsbränden jeweils 2 Kinder zu Tode gekommen. Diese 2 Fälle machen also bereits 40 Prozent von insgesamt 10 Opfern aus.
In Rheinland-Pfalz lässt sich der hohe Anstieg ähnlich erklären. Auf Anfrage teilte das Landeskriminalamt mit, 2015 habe es vier Fälle der fahrlässigen Tötung von Kindern gegeben, 2014 nur einen. Bei so geringen Fallzahlen könne man keine Aussage über mögliche „Entwicklungen“ machen.
Ein weiteres Beispiel: Die Deutsche Kinderhilfe behauptet etwa in derselben Mitteilung:
Im Bereich sexueller Gewalt weist die Statistik einen geringen Rückgang von 3,24 Prozent auf, doch wurden noch immer 13.928 Fälle registriert. Das sind fast 270 Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder pro Woche – 38 betroffene Kinder jeden Tag.
Das Thema ist sensibel und sowohl die Schwere des Schicksals der Betroffenen als auch das Phänomen in seiner Häufigkeit sollen nicht heruntergespielt oder klein geredet werden – aber auch nicht aufgebauscht und falsch dargestellt.
Irreführende „Rechnungen“
Denn das „Umrechnen“ von der Zahl der in einem Jahr registrierten Fälle auf Opfer pro Tag ist nicht nur rechnerisch falsch, sondern auch irreführend. Ausgangsgröße hätte die Opferzahl und nicht die Fallzahl sein müssen. Die Behauptung „38 betroffene Kinder jeden Tag“ suggeriert, jeden Tag wären 38 Kinder neu als Opfer betroffen und jedes Kind nur einmal im Jahr. Und man könnte meinen, die Zahl der Täter sei fast gleich groß der Zahl der Opfer.
Das ist aber gerade im Bereich des sexuellen Missbrauchs nicht der Fall. Viele Kinder werden über Jahre hinweg vom gleichen Täter immer wieder missbraucht. Auf ein Kind kommen also mehrere „Fälle“ (Fallzahlen), auf einen Täter möglicherweise mehrere Opfer.
Die Darstellung ist also teilweise falsch und irreführend. Es gibt keinen akuten Grund zur Panik. In der Darstellung der Deutschen Kinderhilfe und einiger Medien kommt das allerdings anders und vermutlich gezielt so „rüber“.
Nicht nur schlechte Nachrichten
Außerdem gibt es auch Straftatbestände, bei denen die Fallzahlen gesunken sind. Die Zahl der Fälle körperlicher Misshandlungen an Kindern etwa. Sechs Prozent weniger als 2014. Trotzdem sind das immer noch 3.929 betroffene Kinder.
Im Bereich sexueller Gewalt wurde ebenfalls ein leichter Rückgang verzeichnet. 2015 wurde der sexuelle Missbrauch von 12.984 Kindern erfasst, das sind drei Prozentpunkte und 390 Kinder weniger als im Vorjahr.
Etwa drei Viertel der Opfer sind Mädchen. Die überwiegende Mehrheit, fast 87 Prozent, war zum Zeitpunkt der Tat zwischen sechs und 14 Jahren alt. Der sexuelle Missbrauch an Kindern mit Todesfolge wurde kein einziges Mal registriert.
Nur was bekannt ist, kommt in die Statistik
Was man ebenso immer beachten sollte: Die Statistik bildet nur das sogenannte Hellfeld ab. Das Dunkelfeld, die nicht erfassten Fälle, dürften vor allem im Bereich des Missbrauchs höher liegen. Darüber lässt sich jedoch nur spekulieren.