Südwesten, 13. September 2016. (red/ms) Angeblich strebt die seit 2011 grün geführte Landesregierung Baden-Württembergs eine “Politik des Gehörtwerdens” an. Doch in kritischen Punkten bleibt die Transparenz oftmals auf der Strecke. Besonders deutlich wird das an den Nebensprachen zum Koalitionsvertrag: Die heimlichen Absprachen werden als legitim und unproblematisch verteidigt. Aktuell stellt sie der stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl (CDU) gar wie offizielle Teile des Koalitionsvertrags dar.
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Kommentar: Minh Schredle
Wir werden unser Regierungshandeln daran orientieren, die zugrunde liegenden Daten und Dokumente weitestmöglich öffentlich zugänglich zu machen.
Diese Erklärung edler Absichten, hin zu mehr Transparenz und besserer Bürgerbeteiligung, stammt aus dem Mai 2011 und ist im Koalitionsvertrag zwischen Grünen und SPD für das Land Baden-Württemberg festgehalten. An gleicher Stelle wird dort Informationsfreiheit nach dem Grundsatz “Open Data” versprochen – Informationen öffentlicher Behörden und Instanzen sollen jedermann frei zugänglich gemacht werden:
Nur gut informierte Bürgerinnen und Bürger sind auch in der Lage, engagiert und kompetent mitzugestalten,
erklärten Ministerpräsident Kretschmann und der damalige Innenminister Reinhold Gall (SPD). Am Ende der grün-roten Legislaturperiode stand schließlich ein Gesetz, das von Fachleuten als Provokation empfunden wird und nach der Einschätzung von Experten an Realsatire grenzt – weil es so viele Ausnahmeregeln enthält, dass im Zweifelsfall die Herausgabe sämtlicher kritischer Informationen verweigert werden kann. Von Open Data keine Spur.
Abschied von mehr Transparenz?
Die Grünen schoben die Schuld dem damaligen Koalitionspartner zu. Nun regieren sie mit der CDU – und im neuen Koalitionsvertrag findet die “Orientierung am Grundsatz Open Data” gar keine Erwähnung mehr.
Die angeblich angestrebte “Politik des Gehörtwerdens” wird indessen von Geheimabsprachen in Milliardenhöhe unterwandert – und der Ministerpräsident und sein neuer Stellvertreter Thomas Strobl (CDU) besitzen die Chuzpe, die Mauschelei zur Tugend umzudeuten:
Nebenabreden sind grundsätzlich auch nichts Verwerfliches,
heißt es Ende August in einem gemeinsamen Schreiben der beiden höchsten Politiker Baden-Württembergs an die Landtagsabgeordneten. Und weiter:
Vom Sparen kann man nicht nur reden, man muss sich auch Gedanken machen, wie man die Einsparziele erreichen kann. (…) Die Nebenabreden beweisen, dass wir es sehr ernst meinen mit dem Sparen.
An und für sich klingt das durchaus vernünftig, ja regelrecht vorbildlich und verantwortungsvoll – es lässt allerdings die Frage offen, weswegen genau die Sparmaßnahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vereinbart mussten. Ist der Unmut etwa weniger groß, wenn man die betroffene Bevölkerung vor vollendete Tatsachen stellt? Was ist aus dem grünen Ideal des konstruktiven Bürgerdialogs geworden?
“Letztlich nicht zu irgendetwas verpflichtet”
Statt die Bevölkerung in die Beratungen mit einzubeziehen, treffen sich nun also neun Politiker, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit die mitunter zentralsten Punkte der nächsten fünf Jahre Landespolitik festzulegen. Besonders brisant ist das auch deswegen, weil es im offiziellen grün-schwarzen Koalitionsvertrag heißt:
Für alle finanzwirksamen Maßnahmen gilt ein Haushaltsvorbehalt.
Demnach werden die dort aufgeführten Vorhaben und Versprechen nur verwirklicht, wenn die Finanzierung es zulässt. In den Nebenabsprachen sind hingegen 43 Maßnahmen aufgeführt, die „vom Haushaltsvorbehalt ausgenommen“ sind, also buchstäblich um jeden Preis verwirklicht werden sollen.
Im direkten Widerspruch dazu erklären die Herren Kretschmann und Strobl in ihrem Schreiben an die Landtagsabgeordneten:
Nebenabreden sind letztlich lediglich Willensbekundungen. Sie können weder eine Regierung noch ein Parlament zu irgendetwas verpflichten. Und sie können schon gar nicht das Königsrecht des Parlaments, über den Haushalt zu entscheiden, außer Kraft setzen.
Formal mag das sicher zutreffend sein – nach der selben Argumentation hätte aber auch ein Koalitionsvertrag im Grunde keinerlei Verbindlichkeit. Da Parlamentarier bei der Abstimmung offiziell “nur ihrem Gewissen” unterworfen sind, würde bis auf das beschlossene Gesetz genau genommen gar nichts “zu irgendetwas verpflichten”. Wie aber ganz unverbindlich eine verlässliche Politik gestaltet werden soll, mit der Kommunen und Bürger/innen planen können, bleibt unter diesen Gesichtspunkten unbeantwortet.
Repräsentative Demokratie: Fünf für 13 Millionen
Aus Sicht des Autoren ist die Existenz Geheimabsprachen zwar nicht sonderlich überraschend – aber deshalb nicht weniger skandalös: Neun Politiker, von denen vier gar kein Landtagsmandat haben und somit nie von der Bevölkerung Baden-Württembergs gewählt worden sind, treffen Absprachen mit entscheidender Relevanz für die Zukunft und Lebensrealität von etwa 13 Millionen Bürgern. Wie demokratisch ist das noch?
Die beiden höchsten Politiker Baden-Württembergs verteidigen die Nebenabsprachen unter anderem folgendermaßen:
Die Spitzen der grün-schwarzen Koalition haben die Existenz der von der Südwest Presse thematisierten Nebenabsprachen transparent und offen bestätigt (Anm. d. Red.: Allerdings erst, nachdem die Existenz der Nebenabsprachen durch die Thematisierung der Südwest Presse Stück für Stück öffentlich bekannt geworden ist). Darüber hinaus wurde schon im Kontext der Koalitionsverhandlungen öffentlich über mögliche Einsparinstrumente diskutiert. Insofern ist es falsch, wenn die Nebenabreden jetzt teilweise als Geheimpapier bezeichnet werden.
Wie interessant: Weil im Vorfeld ohne Festlegungen und Verbindlichkeit allgemein über “Einsparinstrumente” diskutiert worden ist, sind die konkreten Maßnahmen, auf die sich neun Politiker unter Ausschluss der Öffentlichkeit einigen, kein Geheimpapier? Genauso gut ließe sich argumentieren: Die geheimen Absprachen, die geheim getroffen und in einem geheimen Papier festgehalten worden sind, sind eigentlich nie geheim gewesen – denn inzwischen sind sie ja öffentlich bekannt…
Wen wundert da Verdruss?
Gäbe es einen Ratgeber, wie man Wähler vergrault und Politikverachtung befördert, wäre dort wohl an erster Stelle angeführt, Bürgerinnen und Bürger wieder und wieder für dumm zu verkaufen und darauf zu setzen, dass es niemand merkt.
Auch parteiintern sorgt das Handeln der “Spitzen der grün-schwarzen Koalition” für ordentlich Ärger – nicht nur an der Basis. Christian Bäumler, Landeschef der CDU Sozialausschüsse (CDA), fordert:
Es muss klargestellt werden, dass der grün-schwarze Koalitionsvertrag gilt und sonst nichts.
Doch verschiedene Medien berichten unter Verweis auf die dpa, Herr Strobl habe am Montag in einer Sitzung des CDU-Landesvorstands deutlich gemacht, dem nicht folgen zu wollen. Es gelte in der grün-schwarzen Koalition, was vereinbart worden sei – selbstverständlich einschließlich der Nebenabreden. Dazu äußert sich der FDP-Fraktionsvorsitzende Dr. Hans-Ulrich Rülke:
Es ist skandalös, mit welcher Unverfrorenheit Thomas Strobl aus einer heimlichen Nebenabsprache eine offizielle Vereinbarung macht. Ein Koalitionsvertrag ist kein unmaßgebliches Stück Papier, das sich nach Belieben erweitern lässt. Damit werden die Bürgerinnen und Bürger zum Narren gehalten.
Seitens der Landesverbände und Fraktionen von SPD und AfD gab es jüngst keine Stellungnahmen zu den aktuellen Äußerungen Strobls. Nach Bekanntwerden der Nebenabreden zeigte sich die gesamte Opposition empört – insgesamt war das Ausmaß der konkreten Kritik bis jetzt jedoch erstaunlich überschaubar.
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