Mannheim/Heidelberg/Schwetzingen/Rhein-Neckar, 12. November 2015. (red/ms) Überall geht es drunter und drüber: Die Behörden in Baden-Württemberg haben offenbar jeglichen Überblick verloren, wie viele Flüchtlinge sich aktuell im Land aufhalten. Wahrscheinlich sind es bereits mehr als 100.000 Menschen, die 2015 angekommen sind – wenn nicht, wird diese Grenze innerhalb der nächsten Tage überschritten. In beiden Fällen kann aktuell niemand genaue Zahlen mehr liefern, sondern nur noch „ungefähre Größenordnungen“.

Keine Stadt in Baden-Württemberg nimmt aktuell so viele Flüchtlinge auf wie Mannheim. Das Benjamin Franklin Village ist aktuell die größte Erstaufnahmestelle des Landes. Archivbild.
Von Minh Schredle
Nordbaden nimmt überproportional viele Flüchtlinge auf – allein auf den ehemaligen Militärgeländen in der Rhein-Neckar-Region sind aktuell mehr als 20.000 Menschen untergebracht.
Das entspricht fast der Hälfte aller Landeserstaufnahmen. Wie die „Lenkungsgruppe Flüchtlingsunterbringung“ des Landes Baden-Württemberg gegenüber dem Rheinneckarblog bestätigt, sind auf dem Tompkins-Gelände in Schwetzingen rund 1.000 Menschen untergebracht, im Heidelberger Patrick Henry Village etwa 5.300 und auf den ehemaligen Kasernen in Mannheim insgesamt etwa 14.000 Personen.
Nach aktuellem Stand befinden sich knapp 46.000 Menschen in Baden-Württemberg in Landeserstaufnahme-Einrichtungen. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen – denn tatsächlich handelt es sich dabei nur um die Personen, die gezählt worden sind.
Daneben gibt es ein nicht bezifferbares Dunkelfeld von Menschen, die sich außerhalb einer staatlichen Registrierung illegal in Baden-Württemberg aufhalten. Eine genaue Größenordnung kann nicht seriös beziffert werden – von niemandem.
Jeder fünfte Flüchtling geht „verloren“?
Nach unseren Informationen bleibt ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge nicht in Landeserstaufnahmestellen, sondern zieht eigenständig weiter. Vertrauliche Quellen berichten uns von bis zu 20 Prozent, die je nach Lebensumständen ihr Lager verlassen und oft andere Aufnahmestellen aufsuchen, wo sie dann womöglich ein zweites Mal registriert werden. Andere Flüchtlinge würden „einfach verloren gehen“. Diese Informationen wirken glaubwürdig – offizielle Behörden wollten sich dazu aber bislang noch nicht äußern.

Asylsuchende bei der Essensausgabe auf Patrick Henry Village.
Wie viele Flüchtlinge sich also insgesamt in Baden-Württemberg aufhalten, ist völlig offen. Wahrscheinlich sind hier allein 2015 schon mehr als 100.000 Menschen angekommen. Doch die Aussagen der Behörden sind in dieser Hinsicht mehr als chaotisch – es gibt keine zentrale Koordinierungsstelle und offenbar ist die Kommunikation unter den einzelnen Behörden katastrophal bis nicht existent.
Behördenpingpong
Gemeindetag und Städtetag verfügen über keine Informationen, wie viele Flüchtlinge sich in den Gemeinden und Städten aufhalten. Die Lenkungsgruppe der Landesregierung teilt mit, dass sich knapp 46.000 Menschen in der Landeserstaufnahme befinden. Darüber hinaus habe man keine Kenntnis, wie viele Menschen bereits auf Kreise und Kommunen verteilt wurden.
Auch beim Landkreistag, der übergeordnet für die Anschlussunterbrinung zuständig ist, zeigt man sich ratlos:
Wir wissen auch nicht, wie viele Menschen schon untergebracht worden sind. Das Integrationsministerium könnte aber Zahlen haben.
Doch nicht einmal das Integrationsministerium kann unsere Anfragen zufriedenstellend beantworten. Eine Gesamtzahl ist auch hier unbekannt.

Integrationsministerin Bilkay Öney leitet das kleinste Ministerium des Landes – viele Aufgaben wurden an die „Lenkungsgruppe“ übertragen.
Allerdings erklärt ein Sprecher, dass im Jahr 2015 bis Ende Oktober 70.000 Erstanträge gestellt worden seien – das geschah in der Regel zeitgleich damit, dass die Flüchtlinge auf die Kommunen für die Erstunterbringung verteilt worden sind. Wann die Flüchtlinge verteilt wurden, könne man aber nicht mit Sicherheit feststellen, viele Personen wären sicherlich auch schon 2014 hier angekommen, hätten aber erst 2015 ihren Antrag gestellt.
Jede Aussage über eine Gesamtzahl verkommt damit zur Milchmädchenrechnung. Bei etwa 70.000 Erstanträgen und 46.000 Menschen in Landeserstaufnahme wirkt es aber sehr wahrscheinlich, dass die Grenze von 100.000 Menschen im Jahr 2015 bereits überschritten wurde. Wenn nicht, wird das vermutlich in den kommenden Tagen der Fall sein: Denn aktuell kommen jeden Tag zwischen 900 und 1.700 Flüchtlinge in Baden-Württemberg an.
Der Mittelwert der vergangenen Wochen lag bei knapp 1.500 Menschen, wie ein Sprecher der Lenkungsgruppe mitteilt. Bis Jahresende können also nochmals über 70.000 Menschen hinzukommen. Wir hatten vor Monaten, als die offizielle Prognose 80.000 Menschen lautete, bereits von bis zu 130.000 berichtet. Auch unsere Prognose ist unter Umständen zu niedrig angesetzt. Soviel steht fest: In diesem Jahr wächst die Bevölkerung im Südwesten durch die Flüchtlinge mindestens um ein knappes Prozent.